Morgenausgabe
Nr. 381
A 192
46.Jahrgang
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Vorwärts
Beeliner Boltsblatt
Freitag
16. August 1929
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Verschärfung im Haag. Niedergang einer Partei.
Snowden unnachgiebig.
V. Sch. Haag, 15. August. ( Eigenbericht.) Die Situation hat sich heute abend entschieden verschlechtert, da Snowden den kompromis vor. schlag der übrigen Gläubigermächte, den ihm Francqui mittags überbracht hatte, als für England undis. tutabel abgelehnt hat. 2oucheur, der am Abend die französische Presse empfing, behauptet dagegen, daß dieser Rorschlag die englischen Forderungen zu 40 Proz. befriedigt haben würde( das wären etwa nicht ganz 20 Mil lionen Mark jährlich. Die Red.), so daß England bei einigem guten Willen darauf hätte eingehen können. Snowden müßte doch wissen, daß einstweilen die Gläubiger nichts enderes tun könnten, so lange Amerika seine Forderun gen an die Alliierten nicht ermäßige.
Snowden, dem diese Aeußerung Loucheurs überbracht wurde, soll vor englischen Pressevertretern geantwortet haben: England erwarte von den anderen nicht gute Ratschläge, sondern gute Vorschläge.
Die Vertreter Frankreichs , Belgiens , Italiens und Japans , die am Abend bei Briand über die durch die neue englische Ablehnung geschaffene Lage berieten, werden am Freitagvormittag abermals zusammentreten. Es wird ferner berichtet, daß Italiens Vertreter Grandi unter Be rufung auf eine unbedingte Ablehnung Mussolinis, Zeil zugeständnisse auf Kosten Italiens zuzulassen, mit Abreise der italienischen Delegation am Sonnabend droht.
Nirgends Einigung.
V. Sch. Haag, 15. August. ( Eigenbericht.) Der Donnerstag galt hauptsächlich den Versuchen, ein Kompromiß in dem Streit der Gläubiger zu finden. Frankreich , Bel gien und Italien hatten einen gemeinsamen Vorschlag ausgearbeitet, den sie durch das belgische Delegationsmitglied Francqui dem briti schen Schazkanzler Snowden unterbreiten ließen. Es scheint aber, daß das Ergebnis dieser Bemühungen ziemlich negativ gewesen ist, sonst hätte Snowden nicht am Abend erklären lassen, daß sein Standpunkt unverändert sei. Wohl auch deshalb traten am Abend die Hauptdelegierten Frankreichs , Belgiens , Italiens und Japans am Sitz der französischen Delegation zu einer mehrstündigen Konferenz zusammen. Bisher haben sie die Befriedigung der englischen Ansprüche hauptsächlich mit Hilfe der sogenannten„ Fonds de Tiroirs" gefucht, wie fich Loucheur vor einigen Tagen aus drückte. Mit diesem
„ Ausframen der Schubfächer"
läßt sich aber das Problem faum lösen, denn einmal handelt es sich bestenfalls um geringe Beträge, deren Berteilung im Young Plan noch nicht festgelegt wurde, und außerdem waren dieje Be träge als Anteil der kleinen Gläubiger in Aussicht ge: nommen. Die Hauptgläubiger werden also schon selbst etwas von ihren Anteilen opfern müssen, wenn sie England befriedigen wollen. Bon den zwei Tagen, die sizungsfrei gelassen wurden, um die Einigung auf dem Bege privater Besprechungen zu finden, scheint demnach der erste ziemlich ergebnislos verstrichen zu sein. Was die politischen Fragen betrifft, fo läßt sich leider auch kein positiver Fortschritt melden. Denn die neue Beratung
des Juristentomitees hat eine
Annäherung der Auffassungen über die zu schaffende Vergleichstommiffion für das Rheinland nicht gebracht.
Es dürften über diesen Bunft noch sehr schwere Aus.
einandersetzungen zu erwarten sein, denn es stehen sich drei Auffassungen gegenüber; die deutsche, die Ministerialdirektor Gaus vertritt, hält noch immer an der Ansicht fest, daß eine Kommission überhaupt überflüssig fet, weil die bestehenden Berträge eine durchaus genügende Handhabe für die Beilegung etwaiger Stonflifte im Rheinland bieten; der Franzose Fromageot fämpft meiter für eine zeitlich möglichst unbeschränkte besondere Rheinlandfommission; die englische These, die Cecil Hurst vertritt, möchte an Stelle dieser Rheinlandkommission eine besondere Unterfom. mission des Bölterbundrates für etwaige Rheinlandkonflikte ins Leben rufen. Aber gerade dieser Vorschlag wird von deutscher Seite mit besonderer Energie befämpft. Was die Rheinlandräumung selbst betrifft, so wird erst die Aussprache der vier Außenminister am Sonnabend einige Klarheit bringen, weil bei dieser Gelegenheit Briand die Termine nennen will, die die Franzosen für die Räumung ins Auge gefaßt haben. Gerüchtweise perlautet, daß sich Frankreich erst am 1. Dezember zur Räumung bequemen will, also um volle zwei Monate später als die Engländer und die Belgier. Es bleibt bis Sonnabend ab. zuwarten, ob fich diefes Gerücht bestätigt. Der britische Außen
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Grandi will abreisen.
minister Henderson soll, wie man von sicherer Seite erfährt, darüber erstaunt und verärgert sein, daß die öffentliche Meinung Deutschlands die Geschloffenheit nicht genügend würdige, mit der die englische Arbeiterregierung, unabhängig vom Ausgang der Haager Konferenz, bereits Anfang September zu räumen entschlossen
ist. Henderson soll sich besonders darüber wundern, daß die Nach richt, wonach die Befagungsmächte von Deutschland den Berzicht auf die 3urüderstattung der Besagungsschäden fordern oder zumindest erwarten, eine so allgemeine Zurückweisung in der deutschen Presse erfahren hat. Wir können nur wiederholen: so sehr wir die Haltung der Arbeiterregierung in der Räumungs frage an fid) begrüßen, so wenig halten wir es politisch für flug, die moralische Tragmeite dieser Haltung mit finan. 3iellen Momenten zu belasten. Es scheint allerdings, daß der Widerhall, den diese Frage in der deutschen Bresse von rechis bis links erweckt hat, nicht ohne Eindruck auf die englische Delega tion geblieben ist. Auf deutscher Seite wird diese Angelegenheit tion geblieben ist. Auf deutscher Seite wird diese Angelegenheit nicht übermäßig tragisch genommen, immerhin jedoch als sehr peinlich empfunden. Das Verfahren über die Anmeldung, Nachprüfung und Anrechnung der Schäden ist bisher eine besondere Wissenschaft und Anrechnung der Schäden ist bisher eine besondere Wissenschaft der beteiligten Stellen geblieben, so daß die deutsche Delegation sich tatsächlich ein Bild machen fann über die Summe, die auf dem Spiele steht. Das etwaige Rompromiß, zu dem man offen bar auf allen Seiten bereit ist und das übrigens durch einen recht unflaren Baffus des Young- Blanes angeregt wurde, tft Räumung vollzogen wird, d. h. also von den reſtlichen Besatzungsnatürlich wesentlich von den Terminen abhängig, innerhalb deren die toften nach dem 1. September bis zur vollendeten Räumung.
Paris , 15. Auguft.( Eigenbericht.) Angesichts der für Sonnabend angekündigten Entscheidung im Haag hat sich der Pariser Presse eine derartige Nervosi tät bemächtigt, daß sie fast stündlich ein anderes Bild der Lage gibt. Während die Morgenblätter vom Donnerstag noch voller Siegeszuversicht waren, von einer ,,, endgültigen Beilegung des Kon= flifts" bzw. der ,, Berständigungsbereitschaft in allen Lagern" sprachen und das Deuvre" sogar versicherte, daß die Konferenz erst jetzt eigentlich begonnen habe, verkünden die Abendblätter vom Donners: tag fast einstimmig mit absoluter Gewißheit, daß der Abbruch im Haag unvermeidlich sei.
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Dieser Stimmungsumschwung stützt sich auf keinerlei neue Informationen aus dem Haag, da man hinsichtlich des Inhalts der Unterhaltungen zwischen den einzelnen Interessenten nach wie vor Unterhaltungen zwischen den einzelnen Interessenten nach wie vor auf ziemlich summarische Andeutungen angewiesen ist, aus denen mit Sicherheit höchstens das eine zu entnehmen ist, daß zwischen dem Angebot der Bier" Belgien , Frankreich , Italien und Japan - und den Forderungen des englischen Schaßtanzlers immer noch eine ausmacht.„ Bon der Erhöhung des englischen Gesamtanteils um Lüde klafft, die zumindest 50 Broz. der englischen Mehrforderungen 48 Millionen Goldmart, die Snowden reflamiert, find etwa 25 Millionen, ohne den Young- Plan anzutasten, disponierbar," Schreibt der" Temps" im Zusammenhang mit den Besprechungen der vier Mächte am Mittwoch. Wie dieses Defizit jedoch zu überbrüden wäre und wie vor allem Englands Wünsche auf den un geschüßten Teil der deutschen Annuitäten zu befriedigen wären, darüber weiß man hier auch nicht die geringste Andeutung zu machen, zumal Snowden inzwischen wiederholt hat, daß er seine auf eine Besamtrevision des Young- Planes abzielende Resolution aufrechterhält und die vier Mächte nicht weniger deutlich betont haben, daß sie außer der Lüftung der famosen Schubladen" zu feinerlei meiteren Opfern bereit sind.
Troß dieser bedrohlichen Bersteifung der Situation glaubt man in politischen Kreisen doch, daß von einem krassen Ab bruch nicht die Rede sein könne. Sollte sich am Sonnabend feine Einigung erzielen lassen, so werde die Konferenz wahrscheinlich vertagt werden, um nach der Genfer Seffion des Bölferbundes in geflärter Atmosphäre fortgesetzt zu werden.
Ein Militärflugzeug stürzte ab.
Und wieder starben drei Menschen. Paris , 15. August. Ein mit fünf Personen besettes Militärflug zeug ist in der Nähe von Marseille in den Bere see gestürzt. Von den Insassen konnten noch atvei schwerverlett geborgen werden. Die anderen drei sind mit dem Apparat untergegangen. Bis zum späten Abend konnte ihre Zeichen noch nicht geborgen werden.
nut
festgestellt worden ist.
Die tommunistische Imprefor" berichtet jetzt ausführlich über die Berhandlungen des 10. Plenums des Ekki( Exekutivtomitee der fommunistischen Internationale). Die Berhandlungen waren Anfang Juli, die Berichterstattung folgte Mitte August! Nach einigen langen Referaten von Kuusinen und Manuilski , die in der üblichen Weise die Weltlage ,, analysiert" haben, besprach Varga, der kommunistische Wirtschaftstheoretiker, die Vorgänge in der Weltwirtschaft. Nach dem offiziellen Bericht führte er folgendes aus:
Nach der deutschen amtlichen Statistit ist der tarifmäßige Wochenlohn der Arbeiter gestiegen um 5 Proz., 7 Proz., 8 Proz. im Durchschnitt der verschiedenen Gruppen. Demgegenüber ist der Lebenshaltungsinder gestiegen vom Mai 1928 bis Mai 1929 um 2,9 Punkte bzw. um 2 Proz. Das bedeutet eine Steigerung des Nominallohnes von 5 bis 8 Pro 3. gegenüber einer Steigerung des Lebenshaltungsinder um 2 Broz.( 3uruf: Unver= ständlich!) Sind diese Zahlen gefälscht? Es sind bürgerliche Zahlen. Sie sind gefälscht! Aber wie sind sie gefälscht? Sie sind gefälscht angelegt und sie geben im Verhältnis zur Borfriegszeit einen zu hohen Lohn. Auch der Lebenshaltungsinder ist gefälscht, ist gefälscht in dem Sinne, daß zuviel billige Warenforten zugrunde gelegt sind. Diese Fälschung kann man aber nur machen, wenn man den Inder anlegt, aber man fann nicht jedesmal bei jeder Be= rechnung der jeweiligen Inderzahl auf Grund einer feststehenden Basis immer wieder Fälschungen begehen, die Elemente find bekannt und fönnen fontrolliert werden. Für eine Periode, in welcher die Elemente des Inder nicht geändert werden, fönnen wir daher die 3nderzahlen als richtig annehmen."
Diese Darstellung deckt sich mit den Ermittlungen der Gezugegeben werden muß, daß die Lebenshaltung der deutschen werkschaften Wenn von einer solchen Autorität mie Barga Arbeiter in den vergangenen Jahren sich gebessert hat, daß die Löhne schneller gestiegen find als die Lebenshaltungsfoften, so liegt darin eine Anerkennung der Arbeit der Sozialdemokratischen Partei, und der eine vernichtende Kritik der kommunistischen VerblendungsGewerfichaften. Wegen dieser Offenheit, die zugleich theorie darstellt, ist Varga allerdings von einigen nichtswissenden Diskussionsrednern abgefanzelt worden.
Besonders bemerkenswert war eine Rede von Pjat= nigti, Bertreter des Effi. Er beschäftigte sich mit dem Stand der kommunistischen Organisationen in den einzelnen Ländern. Sehr schlecht tam dabei die Deutsche Kommunistische Partei meg. Seit 1924 ist man hier am Werf, um sich von der Wohnorganisation, die als sozialdemokratisch bezeichnet wird, auf die Betriebszellenorganisation umzustellen. Was ist daraus geworden? Nach den offiziellen Angaben der KPD . gab es 1925 1384 Betriebszellen und 110 Straßenzellen. 1926 foll es 2243 Betriebszellen und 1928 Straßenzellen gegeben haben. Bis zum Jahre 1928 mar die Zahl der Betriebszellen auf 1556 zurückgegangen, die der Straßenzellen dagegen auf 2461 gestiegen. Zum Entfehen des Efti geht also die Entwicklung von Deutschland von der ,, revolutionärn" Betriebszelle zur sozialdemokratischen" Straßenzelle. Das äußert sich auch darin, daß die Zahl der Ortsparteiorganisationen, die bereits die Betriebszelle zur Basis hatten, von 549 auf 480 zurückgegangen ist. Es kommt aber noch weit schlimmer:
-
die
In den Parteiorganisationen der KPD. in solch großen Industriezentren wie im Ruhrgebiet . Halle- Merseburg und Niederrhein ist anstatt einer Verankerung in den Betrieben und einer Organisierung von Parteizellen in neuen Betrieben 3ahl der Betriebszellen im Jahre 1928 im Ruhrgebiet um 123, in Halle- Merseburg um 63 und im Gebiet Niederrhein um 60 zurückgegangen. In 22 von den 27 Parteibezirken der KPD. ist die Zahl der Parteibetriebszellen zurückgegangen."
Im Durchschnitt, so stellt Piatniki fest, gehören nur 18 Proz. der Parteimitglieder in Deutschland den Betriebszellen an. Im Berlin Brandenburger Bezirk ist feit zwei Jahren ein Rückgang von 60 auf 25 Pro3. einge
treten.
=
Sehen wir schon hierbei, daß der Versuch der Kommuniftischen Partei, ihre Organisation auf die Betriebe umzu= stellen, mit einem völligen Fehlschlag geendet hat, so erfahren mir noch weiter, daß die Behauptung der KPD., sie sei die Bertretung vor allem der Arbeiter in den Großbetrieben, auf Schwindel beruht. Der Ekki- Vertreter berichtet darüber:
„ Es arbeiteten Parteimitglieder( die Zahl der in den Fabriten und Betrieben beschäftigten Parteimitglieder zu 100 genommen) in
den Betrieben
Bis 50 Bis 100 Bis 500 Bis 1000 Bis 3000 Bis 5000 Ueber 5000 Arbeiter Arbeiter Arbeiter Arbeiter Arbeiter Arbeiter Arbeiter
1927.. 36,13 11,39 21,56 8,79 14,27 5,09 2,76 1928.39,00 11,43 18,76 9,59 12,81 3,10 3,21
Die angeführte Statistif zeigt erstens, daß die Sauptmit. gliedermasse der KPD.( 69 Proz.) im Jahre 1928 in