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Sonntag 18. August 1929

Unterhaltung und Wissen

Tier: Deckmatrose Barbarossa

Ber fennt eine Pujolle, auch Bootsmannsgig geheißen? Sie unterscheidet sich von der schlanken, achtriemigen Kommandanten­gig dadurch, daß sie weder schlank noch, achtrtemig ist, sondern plump und zweiriemig. Sie hat vorn und achter je einen Luftkasten, der sie am Untersinken hindert, selbst wenn sie mit Wasser gefüllt ist. Sie hat im Boden einen Pfropfen, der herausgezogen werden kann. Wenn man sie reinigen will, so läßt man sie vollaufen, spundet dann wieder zu und schöpft das Wasser aus.

Ber fannte Barbarossa? Ich meine nicht den Kaiser Friedrich Tobejam, sondern jenen Seemann  , der den Spiznamen zwar fiebenhundertfünfzig Jahre später, aber auch aus dem Munde des Kriegervolkes bezog.

Als ich Barbaroffa tennen lernte, stand er im besten Mannes­after, war aber seit seinem einundzwanzigsten Lebensjahre noch immer f. f. Deckmatrose vierter Klasse. Es gab eine vierjährige Dienstpflicht und außerdem die Einrichtung, daß einer die Zeit, die er im Gefängnis zubrachte, nachdienen mußte. Barbarossa diente lo lange, wie Erzvater Jakob um Rahel   plus Lea. Dabei war er feine Berbrechernatur. Er zog sich die Strafen entweder in der Trunkenheit zu oder durch seinen Humor. Letzteres etwa fo: An einem schönen Sommersonntag hatten wir in Pola morgens um zehn Uhr bereits 30 Grab im Schatten. Das Meer war blau wie ein Matrosenfragen und stant nach Hafen und faulem Seetang. Wir standen vorne auf Freideck zur Quartiervisite angetreten. Der Quar­fierführer kommandierte: Kappen ab! Hosen auf! Messer heraus!", damit der herannahende Offizier sich davon überzeugen tonnte, ob auch jeder sein Klappmesser, das an einer weißen Schnur um den Hais zu tragen war, befäße, ob die Haare vorschriftsmäßig ge­schnitten seien und die Unterbeinkleider gewaschen. Da, in dieser ge­heiligten Stunde, zu der selbst die Ratten im Rielraum den Schwanz mit den Pfoten präsentierten, geschah es, daß die ganze Schiffs. bemannung so laut lachte, daß der Admiral vom Flaggenschiff mit Handsignal die Frage herüberwinfen ließ, ob wir alle total ver rückt geworden seien.

Barbarossa war eine Woche vorher wegen seiner vorschrifts­midrigen Künstlermähne bestraft worden. Als heute nun das Kommando, Kappen ab!" erscholl, zeigte er seinen Besserungswillen dadurch, daß er sich eine Glaze rasiert hatte. Nicht etwa eine Tonsur, nein, im Kranze furzgeschnittener Haare leuchtete eine richtige Glaze, die im Ausmaß und Gestalt völlig der des ersten Offiziers glich, der ihm die Strafe diftiert hatte, und der eben auf weißen Schuhen, den Säbel aus dem Hüftgelenk um die Beine Schlenkernd, auf Freided heraustam, um das Quartier zu vifitieren.

Das war ein Gelächter! Oben auf der Brücke stand der Kom­mandant. Er hielt sich den Bauch und Tränen rannen in seinen ergrauenden Bart. Er ließ Barbaroffa zu sich rufen und verlieh ihm einen Liter Wein und zwei Monate Bordarrest mit je drei Tagen Dunkel als Einleitung und Abschluß.

Dies war Barbarossa. Ich sehe ihn noch heute, nach vellen zwanzig Jahren vor mir, als hätte ich ihn gestern gesehen, wie er, die Pfeife im Munde, in, irgendeinem verborgenen Winkel hockte und leidenschaftlich mit einem Kameraden das an Bord verbotene Fingerspiel spielte. Ich höre noch die taftmäßigen Ausrufe seiner stets heiser belegten Stimme:" Tre! Cinque!... Mora!... Due!" Dies war Barbarossa, stets mit grauer Delfarbe beschmiert vom Kappenrand bis an die Stiefelspitzen. Denn er war Pfleger eines der wichtigsten Schiffsbestandteile, des Außenbordanstrichs. Solange das Schiff in See   war, schlief Barbarossa irgendwo unter Deck. Sobald aber die Ankertette durch die Klüsen gedonnert hatte, strich er eiligst die Buzzjolle, fletterte mit etlichen Farbtöpfen und Pinseln über die Backspiere und gab sich seiner malerischen Tätigkeit hin. Einmal täglich rief ihn der Bootsmann an und ließ sich von ihm um Außenbord rudern, um zu sehen, an welcher Stelle der Farbpanzer noch eine Verdidung vertrüge. Sonst aber war Barbarossa nächst Gott allein Herr auf seinem Kahne. Er pinselte andächtig und lang­sam mit breiten Strichen und ruderte ab und zu ein paar Schläge zurück, um die Fernwirkung zu studieren.

Leutnant Billy von der f. und f. Festungsartillerie tam frisch aus der Kadettenschule zu den Vierrern auf Fort Santa Maddalena. Seine Mutter war eine Tante unseres Navigationsoffiziers und hatte diesem geschrieben, er sollte sich des Jungen annehmen. Deshalb wurde er zu uns an Bord in die Offiziersmesse eingeladen. Er benahm sich für einen Landsoldaten recht manierlich. Er fonnte Klavier spielen, so daß unser Schiffskurat einmal nicht den Fleder­mauswalzer vorzutragen brauchte, den er sonst allnächtlich in einem bestimmten Stadium der Alkoholisiertheit von sich zu geben pflegte. Leutnant Willy fonnte sogar singen, die anderen sangen mit, und bis 1 1hr nachts widerhallte das Achterschiff von dem damals neuesten Slager: Manndi, Manndi sei doch net so hart!"

Als Leutnant Willy sich gegen 1 Uhr nachts zum Aufbruch ent­schloß, stellte es sich heraus, daß niemand an eine Beförderungs­möglichkeit gedacht hatte. Die Dampfbarte lag mit abgebranntem Kessel in der Backspiere. Neun Mann Jollbootsbemannung zu weden, was in solchen Fällen früher üblich gewesen war, hatte der Alte" verboten. So kam man auf die Idee. die Puzjolle in Dienst 7 ftellen. Da mußte nur Barbarossa gemedt werden, und der war für ein Biertel Wein noch zu ganz anderen Dingen zu haben, als cinen Beutnant an Land zu rudern.

Also wurde Barbarossa ausgepurrt und holte sein Fahrzeug nach Achter ans Steuerbootfallreep, das ob solch einer unwürdigen Berührung vor Scham errötete. Durch eine alte Bootsflagge wurde der hintere Luftkasten der Pazjolle zum üppigen Siz umgestaltet, Fer Bad funteroffizier flötete den Bootspfiff, Leutnant Willy ftieg cin, der Wachtfadett rief Abstoßen!" und falutierte.

Alles wäre gut gegangen, wenn nicht Leutnant Willy fich, als fie etwa hundert Meter vom Schiff entfernt waren, plöglich seiner jungen Offizierswürde erinnert hätte: Sie, warum haben's mich denn eigentlich net grüßt? Das is mir aufg'fall'n, Sie!"

Barbarossa hatte mit Recht darauf hinweisen fönnen, daß er Laut Dienstreglement als riemenführende Bootsbemannung feine Eirzelehrenbezeugung zu leisten habe. Wenn er wollte, so sprach er auch hinlänglich deutsch, um die Aufklärung zu geben. Da er aber nicht wollte, erteilte er in der wohlflingenden Sprache Dantes seinem Gegenüber den Rat, einen alten Seemann nicht zu behelligen. Leutnant Billy wiederum verstand fein Wort italienisch. Er nahm die hastig hervorgestoßenen Worte als einen Entschuldigungs­versuch und äußerte überlegen:

,, Das glaub ich auch! Wissen's, ich hätt net schlecht Lust, Sie zum Rapport zu schicken. Mir is nur die Schererei z'piel, aber Sie tönnten an einen tommen, der net so gutmütig is, wie ich."

Barbarossa erwiderte nichts mehr, aber er wütete innerlich.

Sein nackter Fuß stieß zufällig an den Puzpfropfen des Bootes, und sofort war sein Racheplan entworfen. Mit seinen affenartigen Greifzehen packte er den Spund, lockerte ihn und ließ langsam See wasser ins Boot dringen. Nach einer Weile sagte der Leutnant: ,, Sie! Mir scheint, das is Wasser da im Boot!" ,, Aqua? Si Signore!"

Ist denn das Boot leck?" ,, Non capisco, Signore!" ,, Ob ein Leck im Boot ist?"

,, Leck? Led? Non capisco, Signore."

,, Ob das Schinatel a Loch hat, Herrgott noch einmal!" ,, Una busca? Si Signore, eh Signore!"

Ja, was machen wir denn da?"

,, No so, Signore. Andaremo a fondo mi dico." Und er mies mit dem Haupt seitlich hinab nach dem kühlen Grunde des Meeres. Wohl wußte er, daß sein Boot auch in gänzlich vollgelaufenem Zustand vermöge der Luftbehälter nicht finden fönne. Dies Wissen aber behielt er für sich und begnügte sich damit, daß der andere es nicht wußte.

,, Sie! Können's net a bißl schneller rudern?"

,, Vogo, eh vogo Signore. Vedete che vogo!" lind er legte sich mächtig in die Riemen, nicht ohne den Spund neuerdings zu lockern. Das Wasser stieg an den champagnerfarbenen Hosen des Offiziers empor. Da erinnerte er sich aus der Robinsonleftüre feiner Jugend, daß man in folchen Fällen alle Mann an die Bumpen stellen müsse, und begann, mit seiner hohen Schirmmüße man trug - das damals gerade solche von mindestens drei Liter Hohlmaß

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Beilage des Vorwärts

Basser aus dem Boote zu schöpfen. Barbaroffa betrachtete, immer fort rudernd, seine Anstrengungen mit innigem Bergnügen und lief den Spund fest zwischen den Zähnen, für je zehn ausgeschöpfte Lite: Basser fünfzehn neue ins Boot.

Sie tamen an einer Anterboje vorbei, einem jener riesigen, aut Stahlblech genieteten, schwimmenden Zylinder, die eine freisförmige Plattform von etwa drei Meter Durchmesser haben und in der Mitte einen mächtigen, geschmiedeten Eisenring tragen.

Barbarossa lenkte knapp an die Boje. Als sie die Bootswand streifte, 30g er den Bußpfropfen völlig heraus. Der Leutnant fühlte das Wasser plötzlich bis an seine Kniekehlen steigen. Im Selbst erhaltungstriebe sprang er aus dem Kahn auf die Boje, wo er sich am Ring festklammerte und mit hinaufgezogenen Beinen sizen blieb.

Barbarossa ließ sich noch einige Meter weit treiben, spundete das Putloch wieder zu, schöpfte mit einem Handeimer, den er tüdischerweise verborgen gehalten hatte, sein Boot leer und ruderte. gemächlich an Bord zurück.

"

Boot ahoi!" rief der Bugposten ihn an.

Buzjolle an Bord!" antwortete Barbarossa. Er hängte sein Fahrzeug an die Backspiere, enterte auf Deck und legte sich schlafen. Leutnant Willy schaukelte auf der Boje bis sechs Uhr morgens. Da nahm ihn eine vorbeifahrende Dampfbartasse auf. Da er einen Verwandten im Kriegsministerium hatte, wurde er auf seine Bitte zwei Wochen später nach Przemysl   versetzt. Dort gab es fein Meer, feine Bojen und feine Bugjollen. Dort fam suchung einen Matrosen zu schurigeln.

Barbarossa wurde nicht bestraft. Weber er noch der Leutnant hatten großes Interesse daran, den Vorfall in die Deffentlichkeit ge­langen zu lassen. Einst, als wir auf Lissa vor einer Hafenfneipe beim Mustatteller faßen, erzählte mir Barbarossa den Spaß.

In den häufigen Kunstpaufen trant er einen gewaltigen Schluck des goldfarbigen Weines und ergriff mit fettglänzenden Fingern eine in frischem Olivenöl gebratene Sardine am Schwanze, um sie tunstgerecht zwischen seinen roten Bart zu torpedieren. Das Meer vor uns war blau wie ein Matrosenfragen und stant nach Hafen und faulem Seetang.

und in jedem Einzelfalle, bei jedem einzelnen Menschenkind, doch

Richard Schaukal  : Lebensleitworte wieder einzigartige Borgang.

Sich nichts gefallen laffen, aber nachgeben können. Aufrichtig sein, aber mit Zurückhaltung.

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Ob sterbliche Menschen dieses Rätsel wunder der Ber= erbung einst lösen werden, ob es gelingen wird, im Sinne von Goethe ,, Menschenverstand und Philosophie so zu vereinigen", daß sich auch in diesem Borübergehenden das Ewige schauen läßt", mer

Dem Bergangenen freu bleiben, ohne zu flagen; auf die ist so vermessen, das heute mit Bestimmtheit zu behaupten? 3ukunft hoffen, ohne ihr zu trauen.

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Besser sich enttäuschen lassen als argwöhnen.

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Gerhart HerrmannMostar: Der wilde Des

Der liebe Gott hatte nichts Erregendes für mich. Er war so

Sich mit dem Altwerden abfinden und der Jugend ihr etwas wie ein guter, reicher Ontel, der weit weg wohnte und des Recht auf Unrecht einräumen.

halb noch nicht zu Besuch gefommen war, und hatte eben seine Engel wie meine anderen Onkels ihre Dienstmädchen und Köchinnen. Meine fünfjährige Phantasie ging nicht weiter auf ihn ein.

Anders wurde es, als der wilde Des in mein Leben einzog.

Erafmaßlos ruchernde Erben Der wilbe Des war ein Mißverständnis. Ich weiß nicht mehr: hatte

Eine Erbschaft fällt jedem Menschen zu. Keiner fann sie ab­lehnen. Ein jeder muß sie annehmen und hat während seines Lebens, besonders in den beiden ersten Jahrzehnten, mit dem ihm übergebenen Pfunde zu wuchern.

Ja, zu wuchern! Und zwar in einer Weise, die all das, was unter ehrbaren Kaufleuten als unanständig gilt oder gar gesetz­widrig ist, weit in den dunkelsten Schatten stellt, wird doch der überkommene Schatz in furzer Zeit nicht weniger als zehn- bis fünfzehnmilliardenmal vermehrt.

Und so ungeheuerlicher Taten muß ich hiermit jede noch so unschuldsvoll dreinblickende Leserin, jeden sich darüber noch so sehr entrüftenden Leser aufs bestimmteste bezichtigen, kann mich selbst davon allerdings auch nicht ausnehmen.

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Wenn ich oben von Pfunden" sprach, mit denen wir maßlos muchern, so ist das nicht nur ungenau, sondern sogar ganz außer­ordentlich übertrieben, beträgt doch das Gewicht des einem jeden von uns übergebenen Erbschatzes nur den hundertmillionsten Teil eines Pfundes; das sind 5/1000 Milligramm, der tausendste Teil eines Gramms fünfmal.

Alle auf ihre schlanke Linie" stolzen Leserinnen wucherten mit diesem Erbschaße zehnmilliardenfach, wenn sie den Kaloriengehalt ihrer Ernährung so zu regeln vermochten, daß sie bei der nächsten Bägekontrolle befriedigt ein Körpergewicht von 50 Stilogramm, netto, feststellen können. Die Angehörigen des männlichen Geschlechts find in dieser Hinsicht in der Regel die schweren Jungen", sind sie doch bei einem durchschnittlichen Körpergewicht von 75 Kilogramm fünf­zehnmilliardenfache Bucherer.

Binzige Gebilde von Kugelform sind menschliche Eizellen, etwa 0,2 Millimeter im Durchschnitt messend, kleiner als eine Stecknadel­tuppe, mit unbewaffnetem Auge gerade noch als feines weißes Bünftchen erkennbar. Noch viel winziger, faum den 500 000. Teil Dom Rauminhalt einer Eizelle befizend, sind die männlichen Samen fadenzellen. Und das Gewicht beider bei der Befruchtung sich ver­einenden Reimzellen beträgt ungefähr 5/1000 Milligramm.

Eine fast verschwindend geringe Menge stellt so das einem jeden von uns übergebene biologische Erbgut dar. Diese unvorstellbare Kleinheit birgt in sich eines der größten Wunder der Schöpfung.

Uebernommen aus den Zellkernen der Keimzellen von Vater und Mutter liegen im Kern der befruchteten Eizelle alle die Kräfte eingebettet, die im Wechselspiel mit den mannigfaltigen Verhältnissen der Umwelt unsere körperliche und geistige Wesensart während des gesamten Lebensablaufs grundlegend bestimmen. Bis in die kleinsten Einzelheiten hinein beeinflussen sie unsere Körperform und bis zu den allerfeinsten Regungen sind sie beteiligt an allen unseren Lebens­funktionen. Für manche sind sie nie in Berlust kommende wertvolle Glücksgüter, die ihnen sonnige Tage in Fülle bescheren und froh genießen lassen; für andere aber sind sie tragische Lasten, die sie immer und immer wieder auf die Schattenseite des Daseins hinüber ziehen.

Wohl immer wird unfaßlich bleiben, warum und wie diese ver­schwindend geringe Menge beim verwidelten Bildungsvorgange eines Menschen Stoffe und Kräfte der Umwelt leiten tann, insbesondere, mie fie es fertig bringt, eine zehn bis fünfzehnmilliardenfach größere Menge völlig nach den ihr innewohnenden Gesezmäßigkeiten aufzu bauen und zu erhalten, wie das unvorstellbar Winzige sich in dem im Verhältnis zu ihm außerordentlich Großen nicht nur nicht ver liert, sondern diesem troß der ungeheuren Berdünnung" feinen Willen vollständig aufzuzwingen vermag.

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Seit ungezählten Geschlechterfolgen wiederholt sich der gleiche

man mich in eine Kirche oder zu einer Beerdigung mitgenommen jedenfalls hatte irgend jemand das Bibelwort gesprochen: ,, Das ist der Wille des, der dich gesandt hat." Und ob der Kompliziertheit der grammatischen Form hatte ich verstanden: Das ist der wilde Des, der dich gesandt hat." Von diesem Tage an spürten meine geheimsten und wichtigsten Kindergedanken um den wilden Des.

Zuerst hatte ich Furcht vor ihm. Besonders abends, im Bett, furz vorm Einschlafen. Wenn ich die Augen schloß, war da die Form irgendeines Tieres, eines Gegenstandes, das mich zuletzt beschäftigt hatte; dann wurden alle Glieber dieses Dinges größer, breiter, quollen auseinander, verloren die Farbigkeit, es stampite oder froch voll schwerfälliger But im grauen Schimmer umher- dann war es der wilde Des. Er jah jedes Mal anders aus: einmal, weiß ich noch, wie ein verquollener Elefant, einmal wie ein Tier aus drei Streichhölzern, das mein Bater gebaut hatte, und das nun riesenhaft dick geworden war. Aber es war immer er: er war wild, er hieß Des, und er hatte mich gesandt.

Dieser letzte Umstand linderte allmählich meine Furcht und ließ mich Bertrauen zu ihm faffen. Er hatte mich ja gefchickt, er fonnte mich also brauchen, hatte mich nötig, er würde mir nichts tun. Ich hätte meine Eltern gern gefragt, wozu er mich eigentlich ge­schickt hatte; aber ich begriff vollkommen, daß dies eine ganz ge heimnisvolle Angelegenheit war, von der außer mir niemand etwas wissen durfte außer eben ich. Das ehrte und verpflichtete mich sehr; ich tat alles, was ich tat, für den wilden Des und teilte ihm allabendlich mit, was ich ausgerichtet hatte. Diese Stunde des Alleinseins mit dem wilden Des hatte ich sehr gern, und ich schlief ruhig ein, während er vor meinen geschlossenen Augen als dides Fabelwesen immer langsamer und schließlich ganz sanft im Grau herumstapfte, und träumte nie von ihm.

Ein Jahr später tam die Schule, und mit ihr kam der liebe Gott wieder. Anfänglich suchte ich noch den guten Onfel in eine Be. ziehung zum wilden Des zu triegen und fragte mich, ob Gott viels leicht auch vom wilden Des geschickt war; diese Möglichkeit ent­täuschte mich. Später verlor der liebe Gott das Onkelhafte und die Engeldienstmädchen und Engellöchinnen, wurde sehr groß und ge heimnisvoll und begann dem wilden Des gefährlich zu werden.

Eines Abends sah ich ihn noch einmal wieder. Der große Anfangsbuchstabe einer Fabel, die ich zuletzt gelesen hatte, es war ein großes deutsches H, quoll auf, bekam einen dicken Rumpf, dicke Glieder. 3um ersten Male erschrat ich wieder vor ihm: er stürzte auf seinem einen geraden und seinem anderen gekrümmten Bein gegen mich los, durch das weite Grau, das zwischen meinen ge­schlossenen zitternden Lidern und meinem braufenden Kopfinnern war; er war wieder wild, mütig, unendlich riesenhaft, ich stöhnte, verlor jähen Schweiß. Da, als der schnablige Kopf schon nach mir hackte sah ich plötzlich Farben, freisende Farben, wie ich fic seither immer sehe; damals rotierten sie um ihn wie ein Rad, das sein Grau zermalmte; er taumelte, versant langjam in die Farben, sein Untiergesicht war traurig und betrunken, ich vergaß es lange nicht... Aber die Farben waren Gott  , fie befamen einen feuchten Glanz: ich weinte...

Nach diesem Abend kam der milde Des nur zumeilen noch wieder als eine Art Epufgeift mie etwa Rübezahl und starb end­gültig zugleich mit dem Märchenglauben. Der Bibelspruch touchte wieder auf, ich fonnte ihn richtig lesen: Das ist der Wille des.." ich war ganz gut mit dem wilden Des ausgekommen, aber nun war es fa flar, daß er ein Mißverständnis gewesen war.

Ein Mißverständnis und der Gott meines fünften Lebens­jahres.