Nr 421* 46. Jahrgang
± Beilage des Vorwärts
Sonntag, S. September 4929
Die Suche nach den Attentätern. Noch keine bestimmte Spur ge-unden.
Der Terror, der ln den letzten Monaken von den Radikalen der Rechlen und der Linken auegeübl wird, Hai bei den Republikanern, hat bei der Mehihcil des deulschen Volkes eine starke Erregung hervorgerufen. Die Auswirkungen eines wüsten und zügellosen Terroriemus, die Bombenaklentakc, die Messerstechereien, die Gewalttätigkeiten aller Art haben den Zern der versassungslreuen Staatsbürger hervorgerufen. Erregung und Zorn sind nur allzu verständlich. Es ist in der Tat empörend, dasz eine kleine Gruppe es wagen kann, in öffentlichen Gebäuden Bomben niederzulegen und Slaal-bürgcr anderer politischer Heber- zeugung täglich anzugreifen. 3n noch höherem Matze aber ist eine Mahnung berechligt, die lautet: Gesinnungsgenossen, Republikaner, und vor allem Sozialdemokraten und Reickzebannerkameraden, hallet eure Rerven zusammen! Gewiß, ihr seid aus gutem Grunde ln Mut und Erbitterung über das Benehmen dieser Leute, die das Ansehen der deutschen Republik im Znlande und Auslande schänden. Aber ihr müht euch sagen: 3e wahnwitziger, je verbrecherischer, je törichter die Radikalen vorgehen, um so ruhiger, um so verständiger, um so besonnener müssen wir sein! Das eine ist vor allem zu bedenken! Wenn einer aus unseren Reihen sich in einer Aufwallung des Gemütes, in dem berechtigten Gefühl des Empörtseins zu Handlungen hinreißen ließe, die mit den Gesehen in Widerspruch stehen, dann könnten die Gegner, die K o m m u n i st e n und die h a k e n k r e u z l e r, sich anmaßen, zu schreien: Seht ihr. da sind die Verbrecher, bei den Sozialdemokraten, bei den Reichsbannerleutcn. Es ist nicht leicht, bei dem, was augenblicklich geschieht, die Zähne zusammenzubeißen, aber es muß geschehen. Lassen wir die anderen, die Radikalen rechts und links, ihre Verbrechen und Torheiten begehen! Sehen wir dem Wahnwitz der Gewalt das gute Gewissen des Rechtes und das Siegesbewußlsein unserer politischen Ueberzeugung entgegen! Temperamente lassen sich hinreißen, aber gerade ein Sozialdemokrat. und gerade ein junger Sozialdemokral bei aller schönen und milreihenden Begeisterung, muß im Interesse unserer Idee, unserer Sache sein Temperament zu zügeln wissen. Wenn feie Republik in Gefahr ist. dann wird die Sozial- demokratie, dann wird das Reichsbanner einig und geschlossen antreten zum Kamps für den Schuh der Verfassung. hemmungslos? Handlungen einzelner aber sind schädlich, hüten wir uns vor Ausbrüchen des Temperaments, wahren wir selbst Disziplin, wie wir es im jahrelangen Kampfe in der Sozial- demokratischen Partei und im Reichsbanner gelernt haben! Das sei unsere Losung in diesen Tagen! Die Llniersuchung in Lüneburg . Lüneburg , 7. September. Die Ermittlungen nach dem Lüneburger Attentäter werden mit allem Eifer fortgesetzt. Tie Kriminalpolizei verfolgt verschiedene Spuren, über die einstweilen noch nichts mitgeteilt werden kann. Die harburger Kriminalpolizei wird unterstützt durch Beamte auswärtiger Stellen. Bemerkenswert ist, daß am k>. September morgens im Lüneburger Regierungsgebäride eins Sitzung stattfinden sollte, in der über Maßnahmen zur Sicherung der Regierungsgebäude gesprochen werden sollte. Zu dieser Sitzung sollten hinzugezogen werden die Vertreter der politischen Abteilung der Schutzpolizei und anderer in Frage kommender Stellen. Die Attentäter sind also um einen halben Tag dieser Beratung zuvorgekommen. Aus der Tatsache, daß eine derartige Beralunz
stattsinden sollt« ist ersichtlich, daß man in Lüneburg mit einem weiteren Anschlag gerechnet hatte. In der Stadt laufen Gerüchte um, wonach der Regierung schon vor dem Attentat ein anonymes Schreiben zugegangen sei, in dem der Plan des Attenäts mitgeteilt worden sei. Diese Ge- rllchte entsprechen in keiner Weise den Tatsachen. Im Laufe des Sonnabendvormittag hat eine Besprechung stattgefunden, in der der Lüneburger Vizepräsident, der Oberstaatsanwalt von Lüne burg , der politische Dezernent und der von der harburger Kriminal- polizei beauftragte Kriminalrat teilgenommen haben. Bei der Polizei hat sich bekanntlich in der Nacht zum Sonnabend ein Mann gemeldet, der sich als der Teilnahme an dem Attentat auf das Reichstagsgebötide selbst bezichtigt hat. Vor dem Kriminalkommissar Dr. B r a s ch witz, dem er gestern nachmittag zugeführt wurde, erklärt« er, daß er an der Tat beteiligt gewesen sei. und auf die Vorhaltungen des Kommissars hatte er nur als Antwort, daß dies Geständnis doch genügen mllste und daß er mit Rücksicht auf seine Kameraden nichts weiter sagen könne. Es handelt sich um einen 2» Jahre allen Ar- beitslosen namens W e r n e r M ü l l e r. Die Vernehmung endete schließlich damit, daß er sein Geständnis zurücknahm. Als Grund für die eigenartige Selbstbezichtigung gab er schließlich an. daß ihn unglückliche Liebe zu diesem Schritt getrieben habe. Nach seinen Angaben, die psychologisch recht unwahrscheinlich sind, will er von der von ihm geliebten Frau nicht erhört worden sein, und aus diesem Grunde wollte er von der Polizei in Haft genommen werden. Da Müller später einige Angaben machte, die von einer ziemlich genauen Kenntnis der näheren Umstände des Anschlages zeugten,
hat ihn die Polizei in Haft behalten und prüft seine Angaben über seinen Aufenthalt zu der fraglichen Zeit genau nach. Zurzeit steht aber noch nicht mit Gewißheit fest, ob an dieser Selbstbezichti- gung irgend etwas Wahres ist. Die Gerücht«, daß sich der verdächtige Motorradfahrer, der sich bei Artlenburg hat über die Elbe setzen lassen und nach Berlin gefahren sein soll, bei der Polizei gemeldet hat, um sein Alibi nachzuweisen, haben sich nicht bewahrheitet. Bei der Polizei hat sich bisher dieser Motorradsahrer noch nicht gemeldet. Per- Ichiedene Personen wollen allerdings einen Motorradfahrer mit der Erkennungsnummer„I S" gesehen haben, sie vermochten jedoch keine positiven Angaben zu machen, die der Polizei irgendwelche näheren Fingerzeige geben. Strakantrag der Reichswehr . Berliner Blätter hatten im Zusammenhang mit den Bomben- atten taten Gerüchte veröffentlicht, wonach gewisse Beziehungen der— bisher unbekannten— Attentäter zu R e i ch s w« h», besonders zu Marine st ellen beständen. Wie der Reichswehrminister jetzt mitteilt, sind diese Behauptungen völlig aus der Luft ge- griffen? Beschuldigungen. Er hat deshalb gegen«in Berliner Abendblatt und gegen das Kommumstenorgan St r a f a n- trag wegen Beleidigung der Reichswehr gestellt.
Aitio fährt in eine Kinderschar. Dresden , 7. September. Am Freitag nachmittag überschritt ein Lehrer aus Hermsdorf mit seiner Schulklasse den Pirnaischen Platz in Dresden . Trotzdem die Straße von dem Derkehrsposten für die Fußgänger freigegeben war, fuhr ein Personenkraftwagen in die Schul- linder hinein. Vier Kinder gerieten unter den Wagen, zwei von ihnen erlitten schwer« Verletzungen und mußten ins Krankenhaus gebracht werden.
Neues Funkhaus am Ausstellungsgelände
Auf der Funkausstellung, die heut« abend ihre Pforten schließen wird, ist auch das interessante Mo- dell des künftigen Funk- Hauses zu sehen, das wenige Schritt« weiter am Scholzplatz nach dem Entwurf von Professor Poelzig bereits in natürlicher Größe aus dem Boden zu wachsen beginnt. Ein gewaltiger Gebäudekom- plex in Dreiccksform wird einen geräumigen Hof umschließen, in dem die großen Senderäume ihren Platz finden. Reichsrund- funkgesellschaft, Berliner F u n k st u n d e und Deutsche Welle, die infolge der Ber- größerung des Betriebes mit den alten Räumen nicht mehr auskamen, werden hierher spätestens bis zum 1. Januar 193! übersiedeln. Nach den neuesten Ersahrungen in der Akustik werden die großen Senderäume, die Räume für Borträg« und Konzerte gestaltet. Die in der letzten Zeit beim Bau der Mllnchener Sendegesellfchaft erprobten Forischritte werden natürlich verwertet, sämtliche elektrischen Leitungen werden abgeschirmt, damit sie nickt die Sendeleitungen beein- flussen. Im obersten Stockwerk wird ein Rundfunk-Museum aufgemacht, das täglich bei freiem Eintritt geöffnet sein wird. Ein
umfangreiches Archiv und ein« reichhaltige Bücherei wird Interessenten zur Verfügung stehen. Paternoster-Auszllge werden die vier Stockwerke miteinander oerbinden, Erholungsräume und ein großer Dachgarten sind für die Angestellten vor- gesehen. Der alte Funkturm wird nur noch eine Rolle als Aussichtsturm spielen. Ein gutes Modell des umfangreichen neuen Funkhauses mit seinem Lichtreklameturm und Garagen ist aus der jetzigen Funkausstellung zu sehen.
von A.Mfrey. Copyright 1929 by Gustav Kiepenheuer Verlag A-Gs Berlin Sonst tanzt immer der andere: mir auf dem Kopf herum, denkt er zornig. In zornigem Spaß fuchtelt er mit der Gerte zu seinen Sprüngen, deren Formen er immer kecker erfindet. Während er so die Runde seiner Zuschauer austanzt, schlägt er dem einen und anderen Mann haarscharf, mit der ungehemmten Sicherheit des Alkoholisierten, die Mütze vom Schädel— bis er, bei einem allzu kühnen Pas, die eigene verliert. Von der Mannschaft will keiner zugreifen, sie meinen wohl, es gehöre zum Theater, aber von den Herren will gleich ein halbes Dutzend herbeischießen. jedoch der Alte, bleibend in Bewegung, kreischt ihnen entgegen„liegen lassenl"— und sie müssen sich zurückziehen. Er macht nun wirklich ein Theater aus dem kleinen Unfall, improvisiert eine Episode— aber sie mißlingt leider. Es ist wie immer: der Adjutant soll recht behalten und siegen. Pummer will tanzend, federnd in die Kniekehlen schnappen, um die Mütze vom Boden aufzuraffen, aber die Situation wird zu seinem Erstaunen so, daß er neben leine Mütze zu sitzen kommt. Obendrein in eine der wenigen tiefe- ren Drecklachen, die von der warmen Frühlingssonne noch übriggelassen sind.. � Auch jetzt springt der Hannes nicht zu. Glaubt er immer noch, es gehöre zur Gaudi? Möglich: er glaubt wohl nicht daran, einem Regimentskommandeur könne so etwas wider seinen Willen zustoßen. Aber der Adjutant greift dem Herrn unter die nassen Ellbogen. Denn Pummer bleibt liegen, wohl mehr au- Ber- wunderung. als aus mangelnder Beweglichkeit. Dann steht er wieder, verspürt klar, wie er von all den Seinen, allen Offizieren verlassen ist— und beginnt schallend zu lachen, hinüber zu den Soldaten, die schallend erwidern. Welch ein Viech mit Haxen, dieser Kommandeur, ein Ur- viech, ein gemütliches!— Das Lochen jubelt vor Respettlosig-
keit, Pummer hört deutlich das allzu Brüderliche des Tones heraus— und er bricht jäh ab. Er bricht ab und geht sehr aufrecht und schnell, wenn auch abermals in ungewollten kleinen Bögen, ins Haus zurück. Vom Hosenboden, den der elegante kurze Waffen- rock freiläßt, trieft das Schmutzwasser der Pfütze. Die Musik spielt unentwegt den Donauwalzer. So ist Oberstleutnant von Pummer von der Front in die Etappe getanzt. Er wird ersetzt durch einen unsympathischen Herrn, einen kalten Streber,«inen kalten Gamaschenknopf mit glatter, un- gesund zarter Gesichtshaut und einem Zwicker vor den ver- kniffenen Augen— der nur Majorsrang hat. denn die höhe- ren Chargen, die im Felde mitmachen wollen, fangen an, rar zu werden. Dafür aber, und wie zum Ausgleich, ist der Nachfolger des widerborstigen, hin- und herschnellenden Lipp ein lang- samer, bärbeißiger, im Grunde gutmütiger alter Kasten: der Oberarzt Huckl. ein Bauerndoktor aus Schwaben. � Daß er. obwohl zehn Jahre älter als Lipp, noch nicht Stabsarzt ist, rührt daher, daß Lipp bis nah an den Krieg heran aktiver Militärarzt und dadurch in der Karriere voraus war. während Huckl schön brav die Stufen der Reserve durchstiefelt hat. „Sie sind ja gut eingearbeitet, Funk," sagt er.„Wisien Sie. die Melderei, die ist nicht meine Leidenschaft. Da will ich Ihnen gar nichts dreinreden. Machen Sie das, wie Sie es für nötig halten, aber machen Sie möglichst wenig. Wir wollen die Soldaten kurieren, damit wir den Krieg sicher gewinnen, aber wir wollen die Aktenstöße der Herren Etapvenärzte nach Möglichkeit nicht vergrößern." Er war rechtschaffen und dumm. Er glaubte immer noch an das siegende Deutschland . Er hielt sich eine Zeit» schrift, die die Ziele der Alldeutschen vertrat und propagierte. In einer bescheidenen Kammer sitzend, er bevorzugte die ein» fachen Unterkünfte, las er zum Qualm seiner Bauernpfeife mit ingrimmigem Fleiß die anmaßenden Forderungen, die da an Europa gestellt wurden— er, der persönlich bescheiden und schlicht war. Aber es muß wohl so gewesen sein, daß ein unerschütter- liches Vertrauen in das Rechtmäßige der Postulate jener Herren ihn vollständig verblendete. Er brachte Funk diese einzige Lektüre, die er pflegte, und befahl:„Das lesen Sie, damit Sie wissen, warum wir die große, die schwere Zeit mitmachen, und wie sie belohnt werden wird."
Im übrigen ließ er Funk in Ruhe. Er quengelte nie, schimpfte nie, tobte nie wegen irgendeines Rapportes, der nicht zusammenging, verspätet abging oder ganz unterblieb. Er war ein aufrechter Mann.„Der Divisionsarzt soll mal auf dem Verbandplatz arbeiten, bei der nächsten Gelegen- heit, wenn's wieder sakrisch viel zu tun gibt. Da wird er das Nebensächliche der Tintenkleckserei einsehen." Herr Oberarzt, hier wär' gleich etwas, das den Herrn Divisionsarzt betrifft und von ihm kommt:«in Befehl, daß in Zukunft unsere zehntägigen Krankenrapporte weniger Hautleiden verzeichnen müssen." „Stimmt denn die Zahl nicht, die Sie angeben? „Sie stimmt." „Ich versteh' nicht. Und wieso—?" „Der Divisionsarzt teilt mit. dem Herrn Korpsarzt, an den er ja die Meldung weitergibt, falle unangenehm auf, daß unser Regiment eine höhere Zahl von Hautkranken zeigt als die beiden anderen der Division. Er soll wohl eine Er- klärung dafür geben— die er nicht weiß. Er verlangt des» halb, daß wir unsere Zahlen anders verteilen. Etwa so: weniger Haut, dafür«in paar Darm und Brust mehr, wobei jedoch die Gesamtsumme der Erkrankten nicht über eine gc- wisse Höhe hinausgehen darf." Huckl dampfte dicke Wolken.„Also ein frisierter Rapport? Gibt's bei uns nicht, Funk. Schau die Gesell- schaft an. sie oerlangt auf gut Deutsch , daß wir schwindeln. Man muß ihnen alles schwarz auf weiß zurechtschmteren, und dann soll man's obendrein fälschen? Wir schreiben unsere Zahlen, wie sie sind. Und wenn es dem Divisions- arzt nicht recht ist, dann red' i ch mit ihm."— Wohin— in welch abgrundtiefe Versenkung war Lipp entschwunden! 28. M�ricourt ist— Funk hat es eines Tages erfahren— bald nach ihrem Abzug in Grund und Boden geschossen worden. Auf solche Weise hat der Frühling dort Einzug gehalten. Der Engländer versuchte vorwärts zu kommen und streute mit vollen Händen, aus dem Reichtum seiner Mittel, Granaten aus. Kein Stein ist auf dem anderen geblieben, und viele sind umgekommen. Funk glaubte später zu wissen, wer. Hatte man ihm Namen und Schicksale wirklich berichtet, oder hat sein gequältes Hirn sie sich zurechtgelegt? (Fortsetzung folgt.)