Jtr. 437* 46. Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
Mittwoch, 4S. September 4929
Ein Tag der Katastrophen. Neues schweres Eisenbahnunglück in Ztalien.
M e s s i n a, 17. September. Der Schnellzilg Messina — Palermo ent- glcnt« aa der Einfahrt jttm Bahnhof G e s s o. Drei Eisenbahnbeamte wurden getötet. Vierzehn Personen. zehn Reisende und vier Eisenbahnbeamte, wurden v e r- letzt. Der Unfall ist wahrscheinlich auf die zu hohe Geschwindigkeit des Zuges zurückzuführen. Explosion in Tourcoing . Acht Arbeiter und Arbeiterinnen schwer verletzt. Paris , 17. September. 3n Tourcoing wurden bei einer Explosion in einer TcxtUsabrik acht Arbeiter und Arbeiterinnen schwer ocrleijt. Das Geheimnis um„Voikow". Die Seekatastrophe der Sowjetflotte. Stockholm , 17. September. Telegrame aus HelsingforS halten trotz aller russische» Dementis daran fest, dast die russische Flotte ernste Unglücksfälle bei ihren Uebungen in der Finnischen Bucht erlitte« hat. Der Kapitän eines finnischen Dampfers sah am vorigen Sonn- abend zwei russische Flottenabteilungen, die je aus mehreren Schiffen bestanden, die bei sehr langsamer Fahrt zwei Torpedobootszerstörer des„N o o i k"- Typs bugsierten. Diese beiden Schiffe schienen sehr stark beschädigt zu sein. Man konnte denlsich sehen, daß sie zusammengestoßen waren. Die Bugs der Schiffe waren völlig aufgerissen und bis zur Kommandobrücke hinauf zertrümmert. Die Schisse machten den Eindruck, daß sie im Begriff waren, zu sinken. Auf allen Schiffen der Sontzetflotte wehten die Flaggen auf H a l b m a st. Aus Renal wird gemeldet, daß der Zerstörer„Voikpw", der sich nach dem Zusammenstoß in sinkendem Zustand befand, in der Finnischen Bucht vom Sturm überrascht wurde und unter- gegangen ist. Zwei Arbeiter schwer verletzt. Schwerer Unfall in einer Lleberlandzentrale. Lübeck . 17. September. 3a der llederlandzeatrale der Itocdwestdeu». scheu Kraftwerke A.- G. in Herrenwyk ist heute vor. mlllag ein Hauptrohr der Dampfleitung geplatzt. Zwei A r b e i. ker wurden schwer, einer leicht verletzt. Durch da» Aussehen der Stromversorgung find in Lübecker Industriebetrieben erhebliche Störungen eutskandev. Der Straßenbohnverkehr mußte eingestellt werden. Großer Fabrikbrand in Berlin O. Zwei Seitenflügel niedergebrannt. Gestern abend um 22 Uhr würbe die Feuerwehr nach der poseuer Straße 27 im Osten Verims gerufen. In einer Werkstätte des auf dem ersten Hof des Grundstückes befindlichen Fabrikgebäudes, in dem mehrere Möbelfabriken
und Tischlereien ihre Räum« haben, war aus noch unbekannter Ursache Feuer ausgebrochen. Die Flammen sprangen auf die anderen Stockwerke über und fanden an Hölzern, Werkbänken usw. reiche Nahrung und griffen mit rasender Schnelligkeit um sich. Die vachslühle des rechien und sinken Seitenflügel», in denen sich die Lagerräume befanden, wurden ein Raub der Flammen und brannten völlig au». Das Feuer wurde aus zehn Schlauchleitungen größten Kalibers bekämpft. Nach etwa dreistündiger Löschtätigkeit war die Hauptgefahr beseitigt. Der Schoden ist sehr erheblich. Die Aufräumungsarbeiten dauerten bis lange nach Mitternacht. Ueber die Entstehungsursache konnte bisher noch nichts Genaues ermittelt werden. Es wird aber vermutet, daß Brandstiftung vorliegt. Bauunglück beim Oppacher Konsum. Acht Arbeiter verletzt. Dresden , 17. September. Am Dienstag vormittag ereignete sich auf dem Neu- bau der Großeinkaufsgesellschaft deutscher jlonsumvereine in QPPach(Oberlansi tz), die ihre Weberei erweitert, ei« schweres Einsturz» unglück. Aus noch unbekannter Ursache stürzte plötzlich ein großes Baugerüst zusammen und begrub mehrere Arbeiter unter seine« Trümmern. Fünf Schwer- und drei Leichtverletzte wurden geborgen. Wiffell an Forgeot. Beileid zum ttnglück auf Zeche de Wendel. Reichsarbeitsminister Wiffell hat anläßlich des Gruben- Unglücks auf der Zeche de Wendel dem französischen Minister für die öffentlichen Arbeiten telegraphisch feine aufrichtig« Anteilnahme ausgesprochen. Die Fahrt des„Graf Zeppelin". Begrüßung Eckenerö. Hamburg . 17. Setember. Der Dampfer„New Jork" sichtete um 13,10 Uhr bei dem Feuerschiff„Elbe 1" da» Luftschiff, da» Steuerbord aufkam und sich in schneller Fahrt und geringer Höhe näherte und dann über der„New Dorr kreiste. Den Posfagicren, die durch die Dampf. pfeife des Dampfers an Deck gerufen worden waren, bot sich ein prächtiger Anblick. Als..Graf Zeppelin" an Backbock» de» Schiffes entlang fuhr, entbot er der„?tew Vl"ck" mit Flaggengruß Willkommen. Dr. Eckener sandte von Bord des Dampfers aus ein Begrüßungstelsgramm an Kapitän Lehmann. Das Luftschiff entfernte sich hierauf langsam.
Die Bombenattentäter in Berlin . Zhre Ankunst auf dem Lehrter Bahnhof . Gestern wurden die 21 iu Altona verhafteten Lombenleger nach Berlin gebracht. Ihre Ankunft hatte zahlreiche Neugierige nach dem Lehrter Bahnhof gelockt. Die Derhafteten waren in Altona gefesselt zur Bahn gc- bracht worden. In der Bahn wurde»! ihnen die Fesseln abge- nommen. Di« Eisenbahn hatte für den Abtransport dreiTrans- portwagen zur Verfügung gestellt, die an den f a h r p l a n- mäßigen O-Zug, der 12.43 Uhr in Berlin eintrifft, angc- hängt wurden. Für je einen Verhafteten war ein Abteil reserviert, damit sich die Gefangenen unterwegs nicht verständigen könnten. Bei jedem Gefangenen nahmen außerdem noch zwei Kriminalbeamte Platz. Das Eintreffen sollte zunächst streng geheim gehalten werden, allein die weiten Absperrungen um und am Lehrter Bahnhof verrieten allzu deutlich, was geschah. Auf d«n Bahnsteig war durch einen Polizeikordon der halbe Bahnsteig besetzt. Pünktlich fuhr der Zug in die Halle. Der Polizei- major, der die Absperrungen leitete, machte allerdings ein ver- dutztes Gesicht, als er seststellen mußte, daß er gerade an der ver- kehrten Stelle abgesperrt hatte. Die Wagen waren nämlich nicht hinten angehängt, sondern gleich hinter dem Pack- wagen einrangiert. Nun gab es zunächst«in wirres Durchem- ander: Im Laufschritt rannten die Schupodeamten zum Kopfende des Bahnhofs und sperrten alles ob. Die Reisenden waren nicht wenig verwundert, als sie daran gehindert wurden, den Bahn- Hof zu verlassen. Erst dem energischen Eingreisen des Stations- Vorstehers gelang es, die Polizei davon zu überzeugen, daß man doch besser den Abtransport überwachen könne, wenn das Publikum den Bahnsteig veckassen habe. Schließlich wurde auch so verfahren. Der Abtronsport der 21 Perhafteten dauert« ziemlich lange. Sie wurden, jeder in Begleitung von zwei Kriminalbeamten, vom Waggon bis zum Auto geleitet und sofort fortgebracht. 21 Ante- droschken waren für diesen Zweck bereitgestellt. Die Verhafteten hielten sich zum Teil Pakete oder den Hut vor das Gesicht, um nicht photographiert zu werden.
Ein Akt der Eifersucht. Gestern abend spieste sich in der W a l l n e r t h e a t« r st r a ß c ein besonders krasser Fall der Eisersucht ab. Di«.Hausangestellt« Helena K o l a c i n f k i schnitt ihrem Geliebten, dem 20jährigen Andrö Podgarbansky, bei einen» Zusannnensein die Hoden ab. P. wurde in schwerverletztem Zustande ins Kraickenhaus gebracht. Seine Geliebte wurde festgenommen
Eine Begnadigung. Das preußische Justizministerium griff ein. Wir teilten vor einiger Zeit mit, daß das Landgericht E l b e r- f e l d einen Mann mit Namen Hermann B. aufgefordert habe, eine Reststrafe von sechs Monaten Zuchthau- zu verbüßen. Er war im Jahre 1917 wegen Urkundenfälschung zu 1 M Jahren Zuchthaus oerurteilt worden, weil er Brotkarten g e f ä�l s ch t hatte. Von dieser Zuchthausstrafe hotte B. ein Jahr verbüßt, dann hatte er Bewährungsfrist erhalten. Der preußische Justizminister, den wir zu sofockigem Eingreifen aufgefordeck harten, hat nunmehr den Rest dieser Zuchthausstrafe durch Gnaden- erlaß vom 11. September erlassen. Zu diesem Fall erfahren wir wester die folgenden Einzelheiten, die chn in etwa? anderem Licht erscheinen lassen! Nor dieser Der- uckeilung im Jahre 1917 haste B. schon zweimal Bewäh- r u n g s f r i st e n erhallen. Nach der Verbüßung der einjährigen Zuchthausstrafe ist er im ganzen sechsmal wieder zu Gefängnis verurteilt worden, zuletzt zu mehreren Monaten. Zur Zeit. als unser Artikel erschien, verbüßte er noch seine letzte Gefängnis- strafe. Auf Grund dieser Verurteilung sollte die Vemährungsfrist widerrufen werden und B. sollte im Anschluß an seine Ge- fängnisstrafe den Rest feiner Zuchthausstrafe verbüßen. Das preußische Justizministerium hat d'ennoch, als es van diesein Fall erstchr, telegraphisch eingegriffen und durch eine» Gnodenakt die restliche Zuchthans strafe erlassen.
va» volksbildungsomt Wilmersdorf veranstallc» am Sonntaci. dem 22. September. 12—13 Uhr, im Prcußenpark Wilmersbors ein Plapkonzert des.Wilmersdorfer MännergefangSverein Eäcilia 1860- unier Leitung des ChormeisterS Wohlstein.
von A.M.Frey - 641 Copyright 1829 by Gustav Kiepenheuer Verlag A-G., Berlin ind dann landen sie irgendwo, und dann beginnt das aste Spiel von neuem: sie landen nur, um alsbald wieder fortgeschwemmt zu werden. Schon ist der Herbst da, er findet sie in Flandern , in einem Dorf, das noch erstaunlich gut erhalten ist. Soll man hier wenigstens für ein paar Wochen seßhaft werden? Funk hat eine Waschküche mit feuchtem und glitschigem Steinboden zum Quartier. Aber ein großer Hoiztisch hält sich bereit, auf dem früher Wäsche gebürstet worden ist. An ihm schmiert er tagsüber feine Meldungen, auf ihm schläft er des Nachts. Ein ausgezeichnetes Lager, trocken wie feit langem nicht, wenig zugig, frei von Spinnen und Affeln : man muß nur achthaben, im bleiernen Schlaf nicht herunter- zurollen. Hier ein bißchen zu bleiben, wäre gut. Hinter dem Haus ist ein verwildertes Gärtchen. In dem Gärtchen lebt eine Ziege. Sie ist angepflockt, ein Strick läßt ihr Spielraum. genug, um zwischen dem schießenden Unkraut herauszusuchen. was ihr behagt. Bei dieser Ziege ist Funk manchmal. Wenn er seine rück- ständigen Rapporte so satt hat, daß er sie einfach liegen läßt, geht er hinaus zu ihr, setzt sich ins Gras und schaut sie an. Ein paar Pflaumenbäume, an denen nichts hängt, stehen in der Nähe. Das Tier ist zufrieden, es bannt den Krieg, es verbannt ihn aus seiner Nähe— wenigstens aus dem Um- kreis, den es anlaufen kann am Ende des Strickes. Manch- mal läuft es spielerisch und neckisch. Es läuft ganz ohne Nutzen, nur so, aus Freude an ein paar Kapriolen. Gibt es das noch— einen possierlichen Sprung, nur um des Sprun- ges willen? Das junge Tier überspringt den Krieg. Es ist, als könne hier gar keiner fein. Nicht nur die Ziege ist zu- frieden, auch Funk wagt für fünf Minuten em schöneres Dasein im Geist.
Es ist förmlich hörbar— denkt er—, wie Herbstsonne stiller scheint als irgendeine andere, selbst als die des Winters — freilich, die weckt ja das angriffslustige Gefunkel der alten Kristalle-- da stürzt schlagartig der ganze Himmel her- z unter, oder zerplatzt er berstend ins Nichts? Funk wird von einer fauchenden Schattenhand im Genick gepackt und gegen den Boden tief gebeugt. Er sieht noch, wie die Ziege mitten in einem Luftsprung ist, der ansetzt im Scherz und endet im Entsetzen. Einen zweiten tut sie nicht. Ein schwirrendes Dröhnen fegt durch die Luft, als werfe sich eine Hornisse von Hand- große maßlos wütend auf einen Gegner. Der Gegner ist die Ziege, und jene Wut zsscht klatschend in sie hinein. Aber ehe Funk dazu kommt, aufzustehen, zwingt ihn ein zweites Gebrüll des Himmels, sich platt auf den Boden zu legen. Wie die Erde zittert, sie wird geschüttelt von Angst! Und wird ein drittes Mal heimgesucht von einer englischen Granate größten Kalibers, wohl eineinhalb Meter hoch und fast einen halben dick. Dann wird es still, nur daß Gelauf und unterdrücktes Geschrei von der Dorfstraße her in den Garten dringen. Funk geht auf die Ziege zu, sie hat einen handgroßen Stahl- splitter in den schmalen Brustkasten bekommen. Die Schnauze zittert, als wolle sie noch Gras erschnuppern. Im goldgelben Aug erlischt ein letzter Schein. Funk geht hinaus auf die Straße, durch sie rennt ein Häuflein Frauen mit Kindern an den Händen, sie lassen eine dünne Blutspur hinter sich. Als Nachzüsslerin läuft«ine, die einen Knaben trägt, den sie halb über die Schulter geworfen hat wie einen Sack. Rot bricht es aus großer Halswunde, ein Tor ist da mitten in den kleinen Körper gerissen. An gelbschlenkernden Aermchen erkennt Funk den Tod. Die den Toten dahinschleppt, weiß noch gar nicht, wie es steht. Wohin rennen alle? Haben sie einen alten Heilkundigen im Ort? Werden weitere Granaten kommen? Funk spürt die Straße entlang. Es wird zu tun geben. Aha. bei der Kirche, hart an der Mauer, hat einer dieser Riesenschüsse eingeschlagen. Die Straße ist aufgerissen, als sei für Kanalarbeiten eine Grube gegraben. In der Nähe dieser Grube hält ein Maschinengewehrzug, richtiger, halten Reste eines solchen. Was lebt noch von ihnen? Funk geht um erstarrte Gruppen von Wagen, Fahrern und Pferden herum. Sie waren wohl auf dem Durchzug, st«
haben nur einen Augenblick hier halten wollen, da hat es sie ereilt. Irrtum: für die Sanität gibt es hier nichts mehr zu tun. Funk muß an gewisse, unheimlich verrenkte Szenen in den Wachsfigurenkabinetten der Großstädte denken. Einer sitzt noch auf dem Bock, wie mit betend erhobenen Händen, der Luftdruck hat ihn nach hinten gekippt, die Lehne hält ihn, er ist ganz unwahrscheinlich in der Schwebe, die Zügel führen hinab zu Pferdekadavern. Ein anderer lehnt am Wagenrad und scheint im Stehen eingeduselt gleich einem Betrunkenen, die Mütze hängt ihm über die Nase herab. Es liegen halb oder bäumen sich oder hocken die Körper in einer allerletzten Geste, die der Schock konstant gemacht hat. Zwei Gäule tun, als versänken sie in den Boden. Bei bis zur Brust weggeschlagenen Beinen, die spurlos ver- schwunden sind, ist es, als stiegen sie hinab in die Erde. Die Leiber sind aufgerichtet, die Hälse gebogen, die Schnauzen stützen sich in den Staub. Nein, hier ist von einem Dutzend Männern und ebenso- viel Pferden nichts Lebendiges übriggeblieben. Lebendige Flammen find auf dem Marktplatz, dort brennen zwei Häuser. Aber niemand kümmert sich um sie, überhaupt ist niemand zu sehen weit und breit. Weshalb geht Funk hier einsam umher? Und fürchtet nicht gleich den anderen vor der Möglichkeit weiterer Schüsse? Er ist zu erschöpft, um halbe Sicherheiten aufzusuchen, die von Tag zu Tag weniger sicher werden— ist allmählich ergeben in den Hieb, der immerfort nach Mensch und Tier zielt, ist ohne Schutzwillen. Und steht dumpf mitten auf dem Platz vor einem menschlichen Gesäß mit Hosenresten, das durch die Luft hierher geschleudert worden ist. Ohne Zweifel gehört es hinüber zu jenem Maschinen- gewehrzug. Er hebt es auf an einem Stoffteil und trägt es zurück. Er legt's auf einen der zertrümmerten Wagen, als fei es von Wert, wenn alles gut beisammen ist. Weiß er ganz klar, was er tut? Dann geht er„heim". Er sieht sich noch einmal die Ziege an. Es hat sich nichts oerändert. Ihren Verzicht auf das Um- herspringen in der Runde, die der Strick erlaubt, wird sie beibehalten. Er will ihren Kopf wenden, um zu sehen, ob auch das Auge, auf dem sie liegt, einen solch„meckernden" Ausdruck hat— aber da ereilt ihn der Befehl: Sogleich zusammen- packen, fertig sein in einer Stunde, es geht fort, es geht weiter!(Forssetzung folg?)