föeiloge Freitag, 20. September 1920
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Geist und Ausführung Von Eduard Wie man aus d«m Testament, dem Kodizill und dem Ergänzungsbrief von Friedrich Engels ersieht, ist es diesem nicht eingefallen, einen Rechtsgrundsotz anzurufen, den man als Bourgeoisreckst im Gegensatz zum einfachsten Naturrecht bezeichnen konnte. Was speziell die Marx-Manuskripte und Marx- Briefe anbetrifft, so hat Engels in bezug auf sie nur verfügt, was sich auf Grund seiner Arbeitsgemeinschaft mit Marx und den naturgemäßen Ansprüchen von dessen Töchtern als sein« Pflicht ergab. Es hat denn auch die Ausführung des Testaments usw. zu nicht dem geringsten Rechtsstreit zwischen dessen Vollstrecker und den Marxschen Erben geführt. Als Engels starb, waren die von ihm eingesetzten Testaments- Vollstrecker in London . Das Ehepaar Freyberger, auf dessen Rat Engels sein altmodisches Haus 122 Regents Park Road mit dem sehr viel bequemeren Haus 41 Regents Park Road vertauscht hatte, das er dann mit ihm teilte, hatte Engels' und Marx ' alten Freund Sam Moore sowie mich, der ich mich gerade an der See aufhielt, einige Tage vor Engels' Ableben von der bevorstehenden Kata- ftrophe unterrichtet, und als diese eingetreten war, fand denn auch von uns dreien unter der Leitung von Sam Moor« die Eröffnung von Engels' Testament, Kodizill und Ergänzungsbrief statt. Ihr Wortlaut ward den Töchtern von Marx, denen der Tod von Engels telegraphisch mitgeteilt worden war, abschriftlich übergeben, und ebenso wurde den Genossen August Bebel , Wilhelm Lieb- knecht und Paul Singer , die, wie jene, auf die telegraphische Meldung von Engels ' Tod nach London gekommen waren, der Inhalt von Engels ' letztwilligen Verfügungen obfchristlich unter- breiter. Und soweit dies« Verfügungen die sozialistische Bewegung überMipt betrasen, wurde schon bei dieser Gelegenheit mit den genannten deutschen Parteiführern über Art und Grad der Aus- führung Rats gepstogen. Außerdem ward in den folgenden Togen unter Leitung von Sam Moore und Beihilfe von Frau Louise Freyberger genaue Inventur des sachlichen Nachlasses von Friedrich Engels sowie seines hinterlasfenen Vermögens aufge- nommen, welches letztere sich infolg« des Hinzutritts von Engels' väterlichem Erb« als so bedeutend herausstellte, daß auf jede der mit einem Teil davon bedachten Personen bzw. Gruppen noch deutschem Geldwert gegen 60 000 Mark für das Achtel entfielen. Hinsichtlich der von Engels August Bebel und mir testa- mentorisch überwiesenen Manuskript« erklärten Laura Lafargue und Eleanor Marx -Aveling ausdrücklich, die Bestimmung als zu Recht getroffen anzuerkennen. So wurden denn diese Manuskript« zusammen mit solchen von Marx in«ine Kiste verpackt, deren Ueberwochung Bebel zunächst übernahm. Aus seine Anordnung wurde sie längere Zeit in den Räumen des Porteiarchivs der deutschen Sozialdemokratie ausbewahrt und dann— wenige Jahre vor Bebels Tod— in meine Wohnung übergeführt und meiner Obhut anvertraut. Nun hatte ich die Bestimmungen in Engels ' Testament, die bestimmte Manuskripte August Bebel und mir überweisen, von Ansang an lediglich als ein literarisches Vertrauensmandat auf- gefaßt. Maßgebend für die Bestimmung konnte, wie ich Engels kannte, bei diesem nur der Gedanke gewesen sein, Sorge dafür zu tragen, daß die Manuskripte unter keinen Umständen in die Hände von Personen kamen, welche sie in einer, der im kommunistischen
Eugelsseheu Testaments Bernstein*) Manifest niedergelegten Lehre widersprechenden Weise verwenden würden, und diescn Gedanken gerecht zu werden hielt ich sür meine, mir selbstverständlich obliegende Pflicht. So konnte ich mich denn leicht mit dem Vorstand der Sozial- demokratischen Partei Deutschlands darüber«inigen, nach welchen Grundsätzen nunmehr mit den Manuskripten verfahren werden soll«. Ich erklärte ihm, ich hielt« die Sozialdemokratie als Partei für die oberste Instanz in dieser Frage und würde daher keines der Manuskripte herausgeben oder anderen Personen zur Herausgabe überlassen, ohne mich vorher mit ihm darüber ver- ständigt zu haben. Diese Zusicherung hielt er für genügend. Noch ihr ist denn auch seitdem in jedem in Betracht kommen- den Fall gehandelt worden, wobei der dem Vorstand als Mitglied angehörend« verstorbene Genosse Adolf Braun stets für diesen mit mir Vereinbarung getroffen hat. Kein Dritter war darüber besser unterrichtet als D. Rjasanow, da jedesmal, wo das von ihm geleitete bolschewistische Morx-Engels- Institut Einblick in Stücke des Marx-Engels-Nachlasses oder die zeitweilige Ueberlassung von solchen behufs photographischer Ab- nähme begehrte, sein Vertreter von mir ersucht wurde, zunächst mit dem sozialdemokratischen Partei. vorstand, bzw. dem Genossen Adolf Braun , darüber Rück- sprach« zu nehmen, und ich die Entscheide dieser in solchen Fällen stets als für mich maßgebend behandelt habe. So habe ich, als Adolf Braun mir im Auftrag« des Partei- Vorstandes mitteilte, dieser habe nichts dagegen, baß ich Rjafanows Wunsch auf näheren Einblick in den Manuskriptennachlaß von Marx und Engels nochkomme, dann auch Rjasanow davon ohne Verzug Mitteilung gemacht und ihm freigestellt, den Nachlaß bei mir, wo die Kiste, die ihn enthielt, aufbewahrt war, in meiner Gegenwart durchzusehen, was er erfreut annahm und womit er alsdann während einiger Wochen täglich einige Stunden bei mir zubrachte! Es ist daher«ine arg«, auf ein« bös« Verdächtigung hinaus« laufende Uebertreibung, wenn es in Rjajanows Bericht heißt, es sei ihm nur nach Ueberwindung großer Schwierigkeiten und dank dem Beistande des Vorstandes der russischen kommunistischen Partei und älterer deutscher Freunde, darunter Louis« Kautsky, gelungen, den Einblick bei mir zu erlangen. Mit dem Vorstand der russischen kommunistischen Partei, will sagen der Bolschewisten, habe ich zu keiner Zeit in irgendeiner Verbindung gestanden und wüßte daher nicht, wieso er mich bewogen haben soll, Rjasanow Einblick in die meiner Obhut anvertraute Kiste mit Manuskripten von Marx und Engels zu gewähren. Eher ist es möglich, daß Louise Kautsky, auf deren Stimme ich stets großes Gewicht gelegt habe, sich bei mir für ihn verwendet hat, indes ist mir nicht erinnerlich, wann«s der Fall .gewesen ist. Auch verträgt sich der Hinweis auf Louis« Kautsky als Helferin kaum mit der Behauptung, daß ich Marx-Manuskripte vor Karl Kautsky versteckt gehalten haben soll. Tatsache ist jedoch, .daß'Lpstise Kautsky wiederholt zugegen war, wenn Rjasanow bei mir die in der Kiste bewahrten Manu/kripie durchsah und sich über sie Notizen machte.
*) Vgl. Nr. 438 dieses Blattes.
Wien Wieder sind unsere Augen nach Wien gerichtet, der einzigen Großstadt mit rein sozialdemokratischer Verwaltung, deren Leistungen auf allen Gebieten moderner Stadtverwaltung— Wohnungsbau, soziale und gesundheitliche Fürsorg«, Erziehung und Schule, Förderung der heimischen Gewerbe— die höchste Anerkennung un- parteiischer Fachleute aus allen Landern findet und weithin werbend für den Gemeindesozialismus wirkt. Daher auch der grenzenlose Haß der Faschisten gegen das rote Wien , das sie überrennen und verderben wollen, wenn sie auch als ihren Feind den„Marxismus " nennen, den sie sich zum Popanz gemacht, obwohl er gar kein politischer, sondern ein rein wisstnschastlicher Begriff ist. Viele Reichsdeutsche kennen Wien , besonders seit dem Weltkrieg und im Zeichen des längst volksbewußten Anschlusses ist Wien und Deulschösterreichs herrliche Alpenwelt mehr und mehr Reiseziel ge- worden, Wien immer mehr Kongreßstadt. Dazu kommen die Massenfohrten des Reichsbanners, der Arbeiterjugend, von einzelnen Arbeitervereinen und-reifegesellschoften. Für die aber noch viel Zahlreicheren, die zwar gern Wien besucht hätten, es aber noch nicht ermöglichen konnten, sei hier wenigstens ein Fernblick auf die Stadt Franz Schuberts und Beethovens, der Lonner und Strauß und— der 420 000 sozialdemokratischen Parteimitglieder unter 1800 000 Stadtbewohnern geboten. Wien liegt in der Donauebene östlich vom letzten Ausläufer der Alpen , dem Wiener Wald , der im Leopoldberg zur Donau abfällt, während nördlich von ihr der Bisamberg den Endpunkt der Sudeten bezeichnet. Die Donau , bei Wien 1 Kilometer breit, streckt südlich einen Arm in Bogenf.orm in die Stydt, den natürlichen Donaukanal : er nimmt neben einigen Bächen den W i e n f l u ß aur, der ein größeres Stück long überwölbt ist. Wien liegt nur mit dem 21. Dezirk, Flaridsdorf, nördlich der Donau und dehnt sich da weit ins Marchfeld hinein, so genannt nach dem großen mahrischen Nebenfluß der Donau . Auf der Insel zwischen dem Strom und dem Kanal liegen die Bezirk« 20, Brigittenau und 2, Leopold- stadt , mit dem großen Augarten und dem Prater, der in die Donau- auen verläuft. Die anderen 18 Bezirke liegen alle südlich der Donau und des Kanals, von dem das Land zu einem Plateau ansteigt, dem„Hohen Markt": hier war einst das Kartell der X. römischen Legion. Wien war für das Römerreich ein« nördliche Festung, wie Krakau für Altösterreich. In einem Halbkreis, an der Stell« früherer Festunzswäll«, zieht die breite Ringstraße um den 1. Bezirk, die Innere Stadt , in der die meisten Zentralbehörden, Parlament, Rathaus, Staatscheater und-mufeen, Parks, Houptkirchen, Adels- schlösser liegen. Von der Ringstraße ziehen, in Fortsetzung von Straßen der Inneren Stadt, groß« Hauptodern radial hinaus zu einem zweiten Halbkreis, dem Gürtel, der ehemaligen Zclllinic. Jede dieser großen Radialstraßen durchzieht oder trennt die alten Bezirk« 3 bis 9, während die Bezirke 10 bis 19 außerhalb des Gürtels an der Fortführung der Radialstraßen sich erstrecken. Die beiden Halbkreise der Ringstraße und des Gürtels, zwischen denen es noch weitere parallel« Straßenzüg« gibt, zunächst die Lasten- straßc, die den Frachtverkehr von der prachtvollen Ringstraße fern- feilt, erinnern stark an die Pariser Boulevards, die inneren und äußeren. , Aus den Bezirken seien hervorgehoben: Der 5., Margareten , wo das sozialdemokratische Partcihaus am Wiensluß liegt, der 10., Favoriten, und der 16., Oltakring mit den ältesten und größten der Wiener Arbeiterheime, der 13., Hietzing , der schon Berg« und Täler des Wiener Waldes umfaßt, der 19., Döbling , mit seinen Weinbergen und den Abhängen des Kahlen- und Leopoldsberges. Di« neuen Gcmeindebauten findet man bereits in allen Bezirken, mit Ausnahme des ersten, wo kein Platz dafür ist. Ileberall auf diesen großen Wohnhöfen mit ihren Zentralwosch- küchen, Spielplätzen, Planschbecken, Kinderhorten, Büchereien, Saal- gebäuden und sozialistischen Denkmälern steht groß zu lesen: Erbaut von der Gemeinde Wien aus dem Ertrag der Wohnbausteuer So wird jedem Wohnungsinhaber gezeigt, was mit seiner Steuer geschehen ist. In Heiligenstadt , wo der Donaukanal ab- zweigt, steht ein« Ricsensiedlung, in Erdberg , wo er mündet, die andere— Eckpfeiler des roten Wien : und dazwischen noch so viele und immer mehr. An Massenoerkehrs mittel» hat Wien die Straßen- bahn und die von der Gemeinde wieder in Betrieb gesetzte und elektrifiziert« Stadtbahn, sowie Autobusse. Der Bau einer Unter- grundbahn wird jetzt wieder erwogen: die Stadtbahn ist großenteils Untergrund. Die architektonische Schönheit Wiens bezaubert jeden Besucher. iie Wiener Küche bedarf keiner Kennzeichnung. Unvergleichlich das Trinkwasser, das aus zwei Ouellcngebieten in den Alpen weither auf hohen Viadukten zugebracht wird, um vom Rosen- Hügel aus im- Westslldwcsten, wo auch der Rodiosender steht, in die 40 000 Häuser verteilt zu werden. r. bn.
ver �ollernprinT „Pour 1c m6rile" für Stoaisbefrug Man schreibt uns: Kürzlich veröffentlidsten Sie den Entwurf einer schon im Jahr« 1873 geplanten Zuchthausvorlage gegen die Sozialdemokratie, deren geistiger Url)eber der Prinz Karl von Preußen , der Bruder Kaiser Wilhelms I., war. Im Zusammenhang damit erwähnten Sie auch die außerordentlich« Geringschätzung, die dem Prinzen von ollen denen entgegengebracht wurde, die das zweiseihaste Glück hatten mit ihm in persönliche Berührung zu kommen. Es ist daher wohl von Interesse, noch etwäs Weiteres zur Eharakteristit dieses preußischen Prinzen zu erfahren. Zu denen die ihn am genauesten kannten und daher auch am geringsten einschätzten, gehörte der Freund seines Dater», des Königs Friedrich Wilhelm III -, der alte Fürst Wittgenstein. In einem Brief« vom 8. Juli 1847, der sich in den Aktenbeständen des preußischen Finanzministeriums befindet und der an den da- maligen Finonzminister Rother gerichtet ist. entwirft der Fürst«in Bild des Prinzen und«einer Umgebung, das an klarer Deutlichkeit wohl nichts zu wünschen übrigläßt. Anlaß zu diesem Briefe gab eine geplante Badereise des Prinzen, denn da er sich immer wieder über sein« schlecht« Gesundheit beklagte— er wurde dabei zum Schrecken seiner Familie und des Hofes 82 Jahre alt!, hatte er«ine besondere Vorliebe für derartig« Reisen aus St a o t s k o st e n. Solange der Vater lebte, wurden dem leidenden Prinzen bei seinen Exkursionen keine Hindernisse in den Weg gelegt. ais er aber nach dessen Tode nicht einmal, sondern wiederholt zur �Wiederherstellung seiner erschütterten Gesundheit' auf
Staatskosten nach Italien reisen wollte, obwohl er in den Besitz eines eigenen und keineswegs geringen Vermögens gelangt war, ging dem alten Fürsten Wittgenstein die Galle über. In heller Empörung bittet er in dem erwähnten Briefe den Finanzministcr, dem Prinzen die Mittel zur Reise zu verweigern, und fährt dann fort: „Betreffe diese Angelegenheit nicht einen königlichen Prinzen und Bruder Seiner Majestät, so würde ich den prinzlichen Antrag als einen ganz unverschämten bezeichnen. Zu allen Schwindeleien des Prinzen, der kostbaren Anschaffung der Wasfenhalle, den übertriebenen Pflanzungen und Bauereien in Gl i nike, den Mosquitos Projekten, Blut Igelanstalten, Eisenbahn Schwindeleien, Bergwerks Ankäufen u. dergl. ist die Erlaubniß S. M. nicht eingeholt worden. Der Herr Wedeckc und ähnliches Gesindel sind das Orakel des Prinzen. Der Arzt des Prinzen, der Dr. Casper, hat sich auch gegen die letzte Bad« Reif« des Prinzen nach Italien ausgesprochen." Daß man übrigens im Heere über den Bruder S. M. genau so urtellte wie Fürst Wittgenstein, bezeugt der Briefeines Korps- kommandanten aus dem Kriege 1866, der erbittert schrieb, daß in der ganzen Armee nureine Stimme darüber herrsche. daß der Orden pour!e mcrite völlig entwertet sei, seit- dem der König ihn auch„diesem M« n s d>e n" gegeben habe! Man sieht, daß es unter den Hohcnzollern auch früher schon Prachtexemplare gegeben hat. Und daß sie Orden aller Art schleppten, war selbstverständlich. Heute müssen sie sich mit dem—„Stahl- helm">Abzeichen begnügen, wozu noch das Hakenkreuz kommt!
Unter dem Sozialistengesetz Bruno Schönlanks Roman«Agnes' Berlin ist illuminiert. Der alte Kaiser hält seinen Einzug durch dos Brandenburger Tor und durch die Linden. Er ist von seiner Verwundung genesen. Der Attentäter ist verhaftet. Das bürger- lich« Berlin weiß sich vor Freude nicht zu lassen. Bismarck erlebt einen seiner größten Tage. Denn während das Bürgertum m übersteigertem Patriotismus macht, wirkt sich in der Dunkelheit.und hinter dem Rücken der Jubelnden das Sozialistengesetz aus, das Bismarck nach diesem Attentat geschaffen hat. Dies ist der Austakt von Bruno Schönlanks Roman „Agnes", der im B ll ch e r k r e i s, Vertin, vor kurzem erschienen ist, die dunkle Ztulisse, die man so gern in bürgerlichen Romanen, die dies« Zeit behandeln, übersieht. Die Gründerzeit und der Krach ist beinahe vergessen. Das Bürgertum wagt wieder Atem zu schöpfen. Da treten die Arbeiter mit ihren Forderungen auf den Plan, zerstören ein Gartenlaubenidyll, das eben erst im Entstehen ist. Aber nichts darf die Harmonie der besten oller Welten, d. h. der bürgerlichen stören, deshalb müssen diese Ruhestörer unschädlich genwcht werden. Es ist emer eisernen Staatsroison gleichgültig,
ob sie das Glück unzähliger Familien zerstört und ob sie ein Spitzel- wefen heranzieht, das in dieser idealen Ausprägung kaum noch von Rußland erreicht wurde. Tüchtig« Arbeiter müflen plötzlich ihre Stellungen aufgeben, weil sie der Sozialdemokratischen Partei angehören, müssen Berlin Hals über Kopf verlassen, weil sie die Ruh« eines Friedhofes vielleicht stören könnten. Und der Staat verfügt über sehr viel Geld. Wenn man nicht ganz charakterfest ist und vor der drohenden Ausweisung steht, dann schwankt man vielleicht und tritt, mehr der Not gehorchend als dem eigenen Triebe, ins andere Lager über, verrät plötzlich seine Gesinnungsgenossen und wird zu einem sogenannten staatserhaltenden Element, das niemand achtet. Andere geben alles auf, oerlassen Familie und Beruf und bieiben ihrer Gesinnung treu, einer Weltanschauung, die heute zum Siege geführt worden ist. Immer ist es so, daß man die namenlosen Kämpfer oergißt, daß nur die Führer in das Pantheon der Geschichte eingehen. Schönlank erwähnt die Namen der Führer, gestaltet aber das Schicksal der Namenlosen an«inigen hervortretenden Typen. Äleine Maurer , Zimmerleut« oder Bierkutscher entwickeln ganz unpathetisch einen Heldenmut, der sicher ebenso groß ist als der vor Mars la Tour oder Gravelotte, und als Kontrast zu diesen stillen Kämpfern setzt Schänlank in ein paar kurzen, aber plastisch gesehenen Szenen ein selbstzufriedenes, gemästetes Bürger- und Beamtentum, das beim Weißbier seinen Tag beschließt und dos hinter der Maske des Hurrapatriotismus seine wohnsinnig« Angst vor dem vierten Stande verbirgt. Ein paar andere Szenen schildern den Mechanismus der Staats- Maschinerie, das wohldurchdachte Spionagenetz, in dessen Zentrum Bismarck und fein« Kreatur der Berliner Polizeipräsident Madai saß. Hier wird Schönlanks Darstellung durchaus objektiv und fach- lich, hier wird der Lyriker zum kühl beriöhtenden Romancier. Eni- gegengesetzt zu den Feststellungen in sozialistischen Parteigeschichten über den Wydener Kongreß in der Schweiz kommt Schänlank durch Studium der Berliner Polizeiatten zu dem Resultat, daß der Sozialdemokrat Heufclder der Berliner Polizei genaue Berichte über die Vorgänge auf dem Kongreß geliefert hat. Ganz kurz skizziert Schönlank die Spaltung in der Partei, die unzufriedene Hallung von Brauseköpfen gegenüber einer klug abwartenden Parteileitung, die genau wußte, wann ihr Tag kommen würde und die schließlich auch über die radikalen Elemente siegte. Parallelen zur Gegenwart können hier gezogen werden. Revolu- tionen, die mit Bomben und Erschießungen arbeiten, haben meistens keinen langen Bestand. Die Gestaltung dieser Zustände bleibt die Hauptsache. Die Schicksal« der Titelheldin Agnes, eines Proletarier- oder besser Kleinburgermädchens, das sich zur Borkämpferin für die sozialistische Idee entwickelt, treten dagegen in den Hintergrund. Das Verdienst dieses Romans liegt darin, daß er ein Zeitbild gibt, daß er versucht, ein stilles Duldertum dem Gegenwartsmenschen einzuhämmern, daß er m künstlerischer Gestaltung die Erinnerung an das Heldenzeitalter der Partei wach erhält. f.S,