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Morgenausgabe

Nr. 469

A 236

46.Sorgenstu

46.Jahrgang

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Vorwärts

Berliner   Bolksblatt

Die

Sonntag

6. Oftober 1929

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Der Weg Gustav Stresemanns

Ein Staatsmann der neuen Zeit.

In wenigen Stunden wird sich nun die Erde über dem| Körper eines Mannes schließen, den wir viele Jahre im Kampfe gesehen, mit dem wir oft unsere Klingen gekreuzt und mit dem wir dann doch wieder bei wichtigsten Entschei­dungen Schulter an Schulter gestanden haben. Es ist wahr lich eine große Trauergemeinde, die an seinem Hingang feelischen Anteil nimmt; sie reicht international bis in ent­fernte Winkel der Welt, national vom Reichspräsidenten, der hinter dem Sarge herschreiten wird, bis zum Reichsbanner und zur Sozialdemokratischen Partei.

Als der Großkapitalist und bürgerliche Demokrat Walter Rathenau   den Kugeln seiner Mörder erlegen war, stan­den die Arbeiter zu Millionen in den Straßen, um den Toten zu ehren und seinen Mördern zu fluchen. Das war fein Verwischen und Bergessen der Klassengegensäge. Es war ein politischer Aft, entsprungen der instinktiven Erkenntnis, daß der ermordete Außenminister eine entscheidende An­näherung an die Weltpolitik des internationalen Sozialismus vollzogen hatte. Darin zeigt sich ja die Größe einer Idee, daß sie Zug um Zug auch Widerstrebende in ihren Bann zwingt. Wenn die Arbeiter auch heute noch Rathenaus Andenten ehren, so tun sie das nicht in Ver­Ieugnung, sondern in Beja   hung ihrer eigenen großen Idee.

Gustav Stresemann   war fein Großfapitalist, aber in feinen Anfängen stand er politisch weit rechts von Walter Rathenau  . Dieser hatte die große Welt" des Kaiserreichs lange genug von der Nähe gesehen, um sie zu verachten. Der junge Stresemann sah sie von unten her und war von ihrem Glanze geblendet. Für ihn war sie eine verschlossene Welt und blieb es, auch als er schon Führer einer bürgerlichen Bartei war. Bon der Weißbierstube seines Vaters in der Köpenicker Straße   führte kein Weg zum Weißen Saal des föniglichen Schlosses. Auch der kleinste aristokratische Be amte des Auswärtigen Amtes glaubte sich über ihn erhaben. Es ist immerhin eine psychologische Merkwürdigkeit, daß ein Mann von der Geistesstärke und der Kämpfernatur Strese manns feinerlei Neigung zeigte, gegen diesen unwürdigen Zustand zu rebellieren.

Absicht nur gewesen sein, vorhandene geistige Strömungen diplomatisch auszunuzen, aber es war interessant zu sehen, wie diese Strömungen ihn schließlich auch innerlich ergriffen und umformten. Stresemann hat den weiten Weg vom Stresemann   hat den weiten Weg vom nationalistischen Eroberungspolitiker zum Apostel des Welt­friedens und der Völkerverständigung aus Ueberzeu gung zurückgelegt, und er hat mit größtem persönlichen Mut für seine schwer errungenen Erkenntnisse gekämpft.

Kein Wunder, daß die Stehengebliebenen, die Ewig geftrigen mit Entsetzen und But den Weg dieses Mannes verfolgten, der so weit aus ihrem eigenen Lager sin das ent­gegengesetzte führte. Sie können ihn nicht anerkennen, denn diese Anerkennung schließt die andere in sich ein, daß die von den Arbeitern geschaffene Republik   und die von den Arbeitern vertretene Außenpolitik das deutsche Bolk aus dem Verderben auf den Weg der Rettung gebracht haben.

Ein Sozialdemokrat mar Stresemann gewiß nicht. Auf wirtschaftlichem Gebiet steckte er noch tief in den Auffassungen des Liberalismus. Das will nicht sagen, daß er ein Lobredner des Kapitals und ein diensteifriger Knecht der Schwerindustrie gewesen wäre, die in seiner eigenen Partei stets sein Widerpart war. Die Tendenz zur Kapitalston zentration verfolgte er mit Mißbehagen und Sorge. Für die sozialpolitischen Bestrebungen der Arbeiter fehlte ihm nicht das Verständnis. Von dem Typ des engstirnigen Scharf­machers war er weit entfernt.

Geschichtsschreibern einer kommenden Zeit wird er als ein Mann erscheinen, der aus dem Dunkel ins Licht schritt. Daß er den Mut besaß, so viele Illusionen und Vorurteile feiner Jugend hinter sich zu werfen, das erst hat ihn zu einem Staatsmann von geschichtlichem Ausmaß gemacht. Und das hat ihn auch uns nähergebracht. Indem wir seine außer­ordentlichen Verdienste anerkennen und gemeinsam mit vielen politisch Andersdenkenden seinen Hingang aufrichtig be­trauern, geben wir nichts von dem auf, was wir selber sind. Wir haben den Sturz eines Kaiserreichs und den Auf­stieg einer Republik, die wir geschaffen haben, erlebt. sehen seitdem auch auf sozialem Gebiet eine alte Welt sich auflösen und eine neue im Werden. Daher die gärende Un­ruhe in allen bürgerlichen Parteien. Grenzen haben sich ver­schoben, nicht nur auf der Landkarte, und noch immer ist alles in Bewegung.

Wir

Gustav Stresemann   ging den Weg in die Zukunft, soweit er ihn jah. Auf ihm begegnete er sich mit uns. Seine Partei blieb nicht ohne Sorge, vielleicht hat er ihr damit auch nicht gedient. Aber daß er damit Deutschland   und Europa   unvergängliche Dienste geleistet hat, ist gewiß. Nichts hindert uns, diese Verdienste anzuerkennen und am offenen Grabe auch unseren Dant auszusprechen. Es gibt Gräber, in denen nichts liegt als Vergangenheit, und es gibt andere, die in die Zukunft weisen. Stresemanns Grab und Denkmal auf dem Luisenstädtischen Friedhof wird ein Meilen­stein sein auf dem Wege in die neue Zeit.

Die Ueberführung in den Reichstag  .

Gestern abend erfolgte die Ueberführung der Leiche Gustav Stresemanns aus seiner Wohnung in das Reichstagsgebäude  . Bei Eintritt der Dunkelheit sammelten sich Tausende, die dem großen Führer der Republik   die letzte Ehre erweisen wollten. Zu beiden Seiten der Friedrich- Ebert- Straße rund um den Platz vor dem Brandenburger Tor   und in den Straßen am Reichstag harrte die

Menge geduldig aus.

die in der letzten Nacht vor der Bestattung die Totenwache halten. Als der Trauerwagen erschien, hatte die Menge den Kopf entblößt und verharrte schweigend bis der Zug vorüber war.

Der Trauerwagen fuhr an der Rampe des Reichstags auf. Die Beamten des Auswärtigen Amtes trugen den Sarg in den Reichstagssitzungsfaal. Der Sizungssaal ist feierlich ausgeschmückt. Die Wand hinter dem Präsidentenstuhl ist fast bis zur Decke

Kurz nach 8 Uhr erschien ein Trupp berittener Schutzpolizei vor hoch mit schwarzem Stoff ausgeschlagen. Davor steht der Sarg, über ihm die schwarzrotgoldene Fahne und rings um den Sarg die kostbaren Blumenspenden. An jeder Seite des Sarges stehen Beamte seines Ministeriums, die stündlich sich in der Toten­wache abwechsen.

Ja, er hat noch nach der Revolution die Republit und das parlamentarische System bekämpft, die bald darauf ihm seinen eigenen Aufstieg ermöglichten.der Billa   des Reichsaußenministers und nahm dort Aufstellung. Mehr als sechs Jahre lang hat er dann an der Spize des Gegen 9 Uhr öffneten fich die großen eisernen Tore, der Trauer Auswärtigen Amtes gestanden und an seinem eigenen Bei- wagen mit dem Sarge Gustav Stresemanns erschien. Auf offenem spiel gezeigt, daß Geist mehr ist als Geburt. Diejenigen, die Wagen, der von zwei schwarz behangenen Pferden gezogen wurde, heute Strejemann ehren, aber das parlamentarische System ruhte der Sarg unter der großen schwarzrotgoldenen Fahne mit dem in Grund und Boden verdammen, bedenken nicht, daß der Zeichen des Auswärtigen Amtes. Die berittene Schutzpolizei segte Stresemann der letzten sechs Jahre, der Minister und ge- fich an die Spize des Zuges. Am Sarge   schritten Beamte des Aus­feierte Staatsmann ohne die Demokratie und das parlamen- wärtigen Amtes und Schußpolizisten. Dann folgten die Wagen mit tarische System nicht denkbar ist. Sie bedenken auch nicht, den Hinterbliebenen und den Beamten des Auswärtigen Amtes, daß Demokratie und parlamentarisches System in Deutsch­ land   aus dem Willen der Sozialdemokratie, der Arbeiter Plasse hervorgegangen sind. Stresemanns große politische Leistung ist nicht denkbar ohne die große politische Leistung der deutschen   Arbeiter.

Es ist auch kein Zufall, daß sich die große Leistung Stresemanns immer mehr in den Bahnen bewegte, die von der internationalen sozialistischen   Arbeiterbewegung vorge­zeichnet waren. Wieder zeigt sich die zwingende Macht der Idee: Stresemann   wurde international aus natio nalem Willen. Nicht auf dem Weg über eine Theorie, wie wir Sozialdemokraten, sondern auf dem empirischen Weg über den Versuch und die Erfahrung fam er immer mehr zu der Erkenntnis, daß man dem eigenen Bolte nur dienen fann, wenn man auch die anderen begreift, und daß wahrer. Internationalismus nichts anderes ist als die Harmonie aller Patriotismen der ganzen Welt.

Um dem niedergebrochenen Deutschland   zu dienen, be­trat er den Weg der Verständigung, leistete er Verzicht auf unwiderbringlich verlorenes Gebiet, bot er den Feinden von gestern Freundschaft. Er tat das, nicht weil er etwa für die Idee des Internationalismus begeistert gewesen wäre, son­dern weil er als prattischer Staatsmann erkannt hatte, daß jeder andere Weg zum rettungslosen Untergang Deutschlands   führen mußte. Wohl mag es im Anfang seine

Auch England ratifiziert!

Borlage im Unterhans spätestens Anfang November.

Wie aus Genf   berichtet wird, hat gestern der englische   Regierungs­vertreter anläßlich der Beratung über die Einberufung einer Inter­nationalen Kohlenkonferenz zur einheitlichen Regelung der Arbeits­3eit im Bergbau mitgeteilt, daß die englische Regierung gegenwärtig eine Vorlage zur Ratifizierung des Washing. toner Abkommens über den Achtstundentag vorbereitet, die spätestens Anfang November dem Unterhaus zugehen werde.

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Im gestrigen Morgenblatt fonnten wir die Mitteilung veröffent­lichen, daß die deutsche Reichsregierung eine gleiche Vor­lage vorbereite. Diese parallele Aktion der deutschen   und der eng lischen Regierung zur Ratifizierung des Abkommens von Washington  ist von außerordentlicher Bedeutung. Damit werden die letzten Hindernisse zur Durchführung des internationalen Abkommens über den Achtstundentag in den europäischen   Ländern von industrieller Be­deutung beseitigt. Wenn auch das Abkommen von Washington  nicht alle unsere Wünsche befriedigt, so stellt es doch einen wesent lichen Fortschritt dar. Durch dieses Abkommen wird zum erstenmal die Arbeitszeit international einheitlich ge

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Gustav Stresemann   ruht für die letzte Nacht vor seiner Be­stattung an der Stelle, wo er so oft seine Außenpolitik vor Freund und Feind darlegte. Er ruht auf dem Platz, von dem aus er in wenigen Tagen über sein letztes Wert, die Haager   Konferenz, Ant­wort und Rede stehen wollte.

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regelt. Die Grundlage dieser einheitlichen Regelung ist der Acht= stundentag. Das ist ein Fortschritt gegenüber der nationalen Gesetzgebung der Borkriegszeit eine internationale Gesetzgebung gab es damals überhaupt noch nicht von ungeheurer Tragweite. Auf dieser Grundlage wird der notwendige Kampf um die weitere Berkürzung der Arbeitszeit angesichts der fortschreitenden Rational fierung um so leichter geführt werden können.

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Attentat in Bukarest  .

Ein Revolverfchuß auf den Innenminister.

Bukarest  , 5. Oftober. Vor dem Gebäude des Janenministeriums schoß heute nach­mittag um 24 Uhr ein junger Mann, der sich vor dem Hause aufgestellt hatte, gegen das Auto des Innenministers Alexander Vajda Vojvoda, in dem außer dem Minister sein Kabinetts= chef saß. Die Kugel durchschlug das Fenster der einen Tür des 2utos, verfehlte aber ihr Ziel. Minister Bajda- Bojvoda und sein Rabinettschef blieben unverletzt. Der Täter erklärte, er heiße Goldenberg und stamme aus Jassy  . Man glaubt, daß er ein An­archist ist. Er gibt an, das Attentat aus Rache für die Tötung der Bergarbeiter von Lupeni ausgeführt zu haben.