7lr. 423* 46. Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
Mittwoch, 9. Oktober 4929
Das große Reichsbahnausbesscrungswork tn Tempelhof, an hem 1�7 Beamte uird 25Ö0 Sir« heiter bcfdjäftigt wird vollkommen modernisiert und umgebaut. Riesige Glosdächer belichten die neuen Werkstätten, in denen 79 Lokomotiven, ZZ Personenwagen und 74? Güterwagen auf einmal aufgenommen und gleichzeitig repariert werden können. Wäh- rend früher auch die elektrischen Wagen der Lichterfelder Strecke hierher zur Reparatur kamen, werden diese jetzt an das. vor kurzem fertiggestellte Werk in Riederschöneweide abgegeben. In dem Tempelhoser Werk wird nur eine Sorte Lokomotiven behan- delt: solche ohne Tender, wie sie früher auf der Stadtbahn ver- kehrten. Jetzt dienen sie als Verfchiebelokomotioen bei Vorortzügen und Personenzügen auf länd- lichen Strecken. v-Jugs-Wagen sind hier ebenfalls von der Behandlung ausgeschlossen: nur zwei- bis dreiachsige Personen-
wagen kommen in Betracht. Gegenwärtig stchen K9Z Lokomo- t i v e n und 1130 Personenwagen im Ausbesserungswerk, dem der riesige Wasierturm einen imposanten Abschluß gibt.
Echwindelkonsorlium auf der Anklagebank. Die Hypoihekengeschaste der Herren Lüitge und Genoffen vor Gericht.
ZLicder ein Aloastcrprozeß vor dem Schöffengericht Berlin . ZNilte. Bon voraussichtlich dreimonatiger Dauer. Unter Vorsitz des Amtsgericht srals Dr. Arndt, der sich soeben erst vom Slinncs-Prozeß erholt hak, Gegenstand der Anklage: K o m p l i. zierte hqpotheken-Sreditgefchäste mit angeblich dreizehn Geschädigt en und einer Betrugssumme von 231000 vlnrk. Die fünf Angeklagten, alles Leute au» guter Gesellschaft, darunter zwei alte Bekannte: Herr R c I ch m a n n vom Waldenburger ßrediischwindclprozeß und Herr R o s e n t h a l. der im heringsdorfer Weißen- Schloß.Prozch g Monate Gefängnis wegen Betruges einheimste. Der Kreditbetrug mit dem„Weißen Schloß" spielt auch in diesem Prozeß eine hervorragende Rolle. Sämtlichen Angeklagten wird zur Last gelegt, daß sie Darlehen auf Grundschuldcn versprachen, die Grundschuld um ein höheres weiter beliehen, das versprochene Varlehen dagegen entweder gar nicht oder nur in geringer höhe einlösten. Die zur?ln klage stehenden Betrugssälle liegenvier Zahrezurück. Soviel Zeil brauchte man. um sich in den Kreditgeschästen des Konsortiums zurechtzufinden. Die Akten umfassen hundert Lände. Da dürsten selbst drei Monate Gerichtsverhandlung kaum ausreichen. Als Erster auf der Anklagebank der Kaufmann L ü t t g e. Seine Bekanntschaft mit dem zweiten Angeklagten Kaufmann Reich- mann datiert aus dem Jahre 1921. Mit diesem zusammen machte er Effektentransaktionen, hypvthekcnvermitt- langen uird Lombardgefchäfte. Reichmann hatte im Jahre 1922 sämtliche Aktien des Berliner Handelskontars erworben. Dann kani er in Untersuchungshaft wegen Landesverral. Lüttge murdc sein Generalbevollmächtigter. Er gründete für ihn die Memema-Filmgejellschaft und wurde deren Geschäftsführer. Das Landcsocrratsverfahren gegen Herrn Reichmann wurde eingestellt. Jetzt konnte er eine intensive Tätigkeit entwickeln. Es ent-
standen mit Hilfe von Strohmännern zwei neue Aktiengesellschaften, die Germania I m m o b i l i e n- A.- G. und die Berliner Effekten- und Handels-A.-G.i ihren Sitz hatten sie zuerst am Kronprinzenufer, dann in der Französischen Str. 15. hier kamen die hypothekendarlchensgeschäftc zustande. Der dritte A n g e- klagte, ll>r. Zur. Innehofcn, führte als Angestellter dl« erforderlichen Verhandlungen, R o f e n t h a l spielte den Vermittler und der Angeklagte zu Z— Rechtsanwalt und Notar Dr. Jungfer— besorgte die juristische Seite der Angelegenheit. Natürlich verstand man sich auf Reklame. Man schickte Anzeigen in die Welt hinaus, in denen man gegen Grundstücke Darlehen an- bot; man versandte Briefe, in denen.man sich als Selbstgeldgeber bezeichnete. In Wirklichkeit besaß man teilweise überhaupt nichts. „Das war die Ebbe", erklärt� Herr Lüttge. Darauf folgte wie üblich„die Flut"—„wohl wenn eine neue Grundbucheintragung beliehen wurde", meinte der Vorsitzende. Herr Lüttge, der im Vor- stand der Aktiengesellschaft saß, will von dem Inhalt der Geschäfte überhaupt nichts gewußt haben: er hat einfach nur unterschrieben, allerdings wußte er, worum es sich handelte— doch nur so ganz im allgemeinen. Die Verhandlungen führte stets Dr. Innehofcn. Dieser erklärt aber: ich war nur Angestellter, Herr Reichmann wurde mir als grundehrlicher und seriöser Kaufmann vorgestellt. Ich bin der Sohn eines vielfachen Millionärs, hatte vor der Inflation ein Jahres- einkommen von über 109 Ol» Mark und hätte mich nie auf unsolide Geschäfte eingelassen. Und Reichmann sagt: die Geschäfte waren ja gar nicht unsolide. Ist es etwa nicht allgemein üblich, daß aus Hypotheken Darlehen versprochen werden, ohne daß man das nötige Kleingeld besitzt? Man treibt es auf, indem man seinerseits die Hypotheken beleiht, erst hinterher, als Schwierigkeiten entstanden, glaubten sich die Leute
betrogen, während sie früher selbst an der Sauberkeit der Angelegen- heit keinen Augenblick gezweifelt hatten. Und was meint zu allem der Rechtsanwalt und Notar Jungfer, der in den Geschäftsräumen des Herrn Reichmann sein Bureau aufgeschlagen hatte? Er kommt erst morgen zu Wort. Tatfach« ist, daß die Firnia nicht ins Handels- register eingetragen werden konnte, weil ihr das Geld zu dein erforderlichen Vorschuß fehlt« und daß sie schon im April 192? keine Miete für ihre Burcauräume zahlte. Darlehen aber versprach sie lustig weiter. Der Mainzer Frauenmord. Kaufmann Bauer gestern ausgeliefert. Vor etwa drei Monaten, am 17. Juli 1929, wurde in einem Hotel in der Friedrichstadt der 38jährige Kaufmann G u st a v Bauer aus Wien auf Veranlassung der österreichischen Behörden wegen Mordverdacht verhaftet. Fast ein Vierteljahr nach der Verhaftung— während der Zeit befand sich Bauer in Polizei- gewahrsam— ist nun endlich auf Gnmd des gegen Bauer vor- liegenden Belastungsmaterials dem Auslicferungsbegeh- r e n stattgegeben worden. Der mutmaßliche Mörder ist gestern von zwei Berliner Kriminalbeamten nach Wien gebracht worden. Bauer hat trotz der gegen ihn vorgetragenen Indizien kein Geständnis abgelegt. Im Gegenteil beteuerte er immer wieder seine Unschuld. Der Mord, desien man ihn bezichtigt, liegt bereits über ein Jahr zurück. Wie wir damals berichteten, wurde im Lainzer Tiergarten in Wien eine Frau, die ihrer Kleidung nach den wohlhabenden Ständen angehörlc, erschossen ousgesunden. Außerdem war versucht worden, die Leiche zu verbrennen. Neben der Toten wurden mehrere Hartspiritus- würfe! gefunden. Die unbekannte Tote wurde erst im Juli dieses Jahres identifiziert und als eine 40jährige Frau Katharina Fellner ermittelt, zu der Bauer intime Beziehungen unterhalten hatte. Der Verdacht richtete sich gegen Bauer, und er wurde in Berlin verhaftet. Das Alibi Bauers weist zwar große Lücken auf, aber trotzdem erscheint es noch fraglich, ob die Indizien feine Schuld genügend beweisen und zu einer Verurteilung ausreichen werden. £ Der Lainzer Tiergarten ist ein riesiger Komplex von uralten Wäldern mit Lichtungen, Wiesen unh Busch- werk und l'richem WildtWsiond. Er war kaiserliches Eigentum samt der darin stehenden Villa Hermes und dehnt sich auf den A b« hängen des Wiener Waldes, der wiederum der nord- östlichste Ausläufer der Alpen ist, im 13. WieZicr Ge- meindcbezirk(hietzing ) aus, von dem die Ortschaft Lainz«in Teil ist. Eine hohe Mauer umgibt diesen Naturpark, zu ihrer Um- schreitung würde man so manch« Stunde brauchen. Die Republik hat den Park für einige Tage der Woche für die All- gemeinheit geöffnet, zumal er ihr gehört. In der Revo- lution haben mohnungslose Kxieasteilnchiner in einem Teil des Parks, aus eigenem Willen sich ein« kleine Siedlung erbaut,
Französische Jutvelen wiedergefunden. Die Juwelen, die aus dem Besitz des französischen Botschafters verschwunden waren, find jetzt auf eigenartige Weise wieder zum Vorschein gekommen. Sie wurden, in Toilettenpapier ge- hüllt, auf dem Podest einer Treppe des Botschaftgsbäudes ge- funden, die zu den Räumen der Zlngestellten führt. Es fehlt, wie bereits gesagt, nicht ein Stück. Nach der Entdeckung wurden die im hause angestellten Personen noch vernommen, um festzustellen, ob jemand von ihnen die Nicderlegung vielleicht beobachtet hat. Es hat sich bisher aber kein Fingerzeig nach dieser Richtung er- geben. Ein fremder Einbrecher scheint nicht in Betracht zu kommen. Die Bedeutung der Stadiverordnetenwahlen. Am Freitag, dem 11. Oktober, spricht um IS-Uhr im Rahmen der Vortragsreihe„Kommunale Stunde" Stadtverordnetenvorftchcr Genosie haß über„Die Bedeutiing der Stadtoerordnctenwahlcn" im Berliner Rundfunk.
721 copzmgbt 1929 by Gustav Kiepenheuer Verlag A-Gs Berlin
Sie geraten schon ins Weiterwandern. Die Gesichter, stumpf und verdrossen, drehen sich ab. Sie verschwinden bald mit schleifenden Schritten, die dennoch hasten. Ihre ge- beugten Gestalten werden verschluckt von der weißen Wand des nahen Horizontes. Dr. Eggebrecht sieht den letzten wegtauchen. Waren sie auch aufsässig— sie waren doch wie ein letztes Band, das hinüberreichte zur Truppe. Das Band ist zerrissen.— Er wird sie anzeigen. Er weiß ihre Namen nicht. Am Ende haben sie recht getan? Er wird sie nicht anzeigen.' Die Stille ist groß, sie wächst, sie wird unerträglich. Es ist sieben Uhr morgens, es ist kühl und feucht, man fröstelt doppest bei leerem Magen. Wann wird der schützende Nebel zerteilt sein? Bald. Und was wird dann sein? Er ordnet an, die unvernichteten Reste des Sanitäts- Materials zusammenzupacken und abzurücken. 40. Gelangte man an maßgebender Stelle doch zur Er- kenntnis, daß es vorerst nicht mehr ging mit diesen Leuten? Daß man ihre Spannkraft überdehnte, ihre Tragfähigkeit überlastete? Man kam stirnrunzelnd wohl nur zu dem Eirt- schluß, es sei ratsam, auf sie im Augenblick nicht mehr zu bauen. Sie wurden herausgenommen. Verladen und eine weite Strecke gefahren. Ausgeladen und in Marsch gesetzt— aber marschierten gern, denn es ging immer tiefer in die Stille und in unbeschosienes Land hinein. In Dudzeele machte der Regimentsstab halt und ein Bataillon, die anderen Truppenteile gerieten in benachbarte Dörfer. Alle hatten gute Quartiere in diesen sauberen, von der Granate unberührten, belgischen Ortschaften, in weitläu-
figen Bauerngehöften, denen die einstige Wohlhabenheit nach vier Iahren Krieg noch anzusehen war. Das Revier breitete sich aus in einem uralten Kasten mit schwarzem Gebälk und roten Steinfliefen, einem bäuer- lichen Herrenhof— darin freilich die geräumigen Ställe leer standen. Leer aber stand auch das Revier, hier wollte keiner krank fein, es lohnte sich nicht, es war, zum erstenmal, schöner bei der Kompagnie. Wer wirklich marode war, der war es gleich so, daß er abgeschoben werden mußte. Man hatte es nicht weit nach Brügge . Der Kanal vom Meere her zog dicht vorbei, man konnte zu Schiff in die schöne alte Stadt hineinfahren. Halbtagsurlaub gab es be- reitwillig— man sollte wohl endlich einmal auf andere Ge- danken kommen, zum Schluß probierten sie es damit— und traf man es richtig, so nahm einen die schleichende Langsam- keit eines Torpedobootes hafenwärts mit. Man stieg, ohne daß das Schiff gehalten hätte, von einem Brückenpfeiler aus aufs vorbeigleitende Verdeck über. Die von der Marine— wie sahen die aus? Ach, nicht schöner als die anderen. Die gleiche, chronisch gewordene Verdrossenheit und Verzweiflung in den Gesichtern, ebenso abgeschabt und ausgelaugt— ebenso verbogen und verbeult. In den Mienen von Sträflingen die Hoffnungslosigkeit der Lebenslänglichen— die sich eines Tages aufbäumen soll. Das Wort Galeere liegt Funk auf der Zunge. Ihre Boote paßten gut zu ihnen. Funk staunte. Er hatte Seiner Majestät schwimmende Pracht in der Vorkriegs- zeit zu Kiel gesehen—: diese geflickten, zerwaschenen, zer- stoßenen Kähne schienen ebenso genug zu haben wie ihre Be- dienten. Aber der ungewohnte Anblick einer Stadt wie Brügge ließ alles Elend auf Stunden vergessen, hier war noch das Märchen, eine tröstende Kulisse— die doch wohl mehr war als bloße Kulisse. So, wie das Märchen etwas anderes ist als ein Theaterschwindel. Erlesen spiegelt sich Architektur in der satten Dunkelheit des Wassers, über das ein Schwan die schaumige Wolke seines Gefieders hinschweben läßt. So etwas gibt es also noch? Wie auf alten Bildern. Sind die Bilder der Kindheit nicht alle zerschossen? Es gibt noch mehr gute Dinge. Konditoreien mit Bergen von freundlichem Gebäck— in Vollkommenheiten, wie du sie fest Iahren nur träumend erlebt hast. Der Znckerhunger ist allmählich ins Gigantische ge- wachsen. Funk verspeist ein Dutzend faustgroßer Kompositio-
neu aus weißem Mehl, aus Creme und Fett, trinkt Kaffee und Schokolade dazu, legt einen beträchtlichen Teil der Unter- offizierslöhnung hin und macht sich mit leisen Magenbeschwer- den auf den Heimweg. Es dunkelt schon, als er Dudzeele erreicht. Es ist Mitte September— und plötzlich fällt ihm«in, daß er auf den Tag drei Jahre draußen ist. Drei Jahr«. Viel vollbracht. Was alles? Einige hundert Attenbögen beschrieben und noch mehr Meldezettel, einige hundert Temperaturen gemessen und noch mehr Binden verwickelt, einige hundert Tabletten verteilt und noch mehr Spritzen gegeben. In der militärischen Rang- ordnung aber die erste Stufe erklommen! Wenn wir den Sergeanten glatt überspringen, märe die nächste für uns der Feldwebel. Ob wir hoffen können, daß der Krieg lange genug—? spottete er in sich hinein. Da drüben geht«in neugebackener. Donner, ist der aber stolz! Solch unentwegte Freude am Soldatenspielen gibt es also noch? Was ist denn—? Er steuert auf mich zu? Was will—? Der Feldwebel tritt Funk in den Weg, so daß er stehen- bleiben muß, und sagt herrisch:„Warum grüßen Sie mich Nichte?" Funks Mund sperrt sich dagegen, aufzugehen. Nicht, weil dieser„Borgesetzte" ihn einschüchtert, sondern weil er seinen Ohren mißtraut. Er muß aber doch richtig gehört haben, es wird aus der grausam drohenden Miene des an- deren deutlich. Wie? Nach vier Iahren Krieg bringt dieser Hanswurst die Blödheit noch auf, einem anderen Unteroffizier gegenüber den Erhöhten zu spielen? Funk brüllt innerlich vor Lachen. Welch lustiger Tag, erst die feinen Kuchen in Brügge , und jetzt diese Delikatesse. Er nimmt dienstliche Haltung an, daß es nur so knackt, und schnarrt:„Verzeihen Herr Leutnant, ich habe Herrn Leut- nant bei herabfallender Dunkelheit alz Herrn Leutnant nicht gleich erkannt." Der Feldwebel stutzt. Er ist auf solche Darlegung nicht im mindesten vorbereitet. Wie soll er sie nehmen? Ist er tatsächlich so fesch beisammen, daß man ihn, ohne auf ein- zelnes zu achten, für einen Offizier—? Sein herz wogt hin und her zwischen Geschmeichxltsein und Mißtrauen. Er will, zwar weiter scharf im Ton. aber doch sanfter in der ganzen Haltung, die Sache richtigstellen. Er befiehlt:„Ich bin nicht Leutnant. Was bin ich, bitte—?"(Forts, folgt.)