Nr. 475* 46. Jahrgang
*1 Beilage des Vorwärts
Donnerstag, 40. Ottober 4 929
Mörder seines Sohnes. Ein Geisteskranker stürzt fein Kind in die Tiefe. Tine Szene des Schreckens spielte sich gestern nachmittag
.m Hause Bergmann st rasie SO ab. Der 45jährige Strafeenbahnarbeitec Wilhelm Albert stürzte, wahrscheinlich in einem Anfalle geistiger Umnachtung sein neunjähriges Sind aus dem Vodensenster aus den« hos hinab. wo es mit zerschmetterten Gliedern l o t liegen blieb. Der Täter wurde verhaslcl. Albert ist zum zweiten Mole oerheiratet. Mit seiner Frau— der Ehe sind zwei Kinder, der neunjährige Herbert und der jiins- jährige G., entsprossen— bewohnte er im ersten Stockwerk des Hinterhauses eine kleinere Wohnung. Der Mann ist bei der Straßen- bahn als Weichenreinigcr beschäftigt. Vor etwa acht Togen hatte er sich krank schreiben lasten: ein altes inneres Leiden machte sich wieder bemerkbar, so daß«r das Haus hüten mußte. Gestern nach- mittag weille er mit der Frau allein in der Wohnung, die beiden Kinder spielten auf der Straße. Unter einem Vorwand entfernte sich Albert aus seiner Behausung, nachdem er zuvor die Loden- jchlüssel heimlich zu sich gesteckt hatte. Er lockte seine Kinder dann auf den Boden, wo er plötzlich den neunjährigen Herbert er- griss und ihn durch die Scheibe des Bodenfensters zwängte..Das üind schrie verzweisell, der entmenschte Bater ließ aber nicht von ihm ab. Mieterinnen des Hinterhauses, die durch das Klirren der zertrümmerten Scheibe aufmerksam geworden waren, sahen gerade noch, wie da? Kind, an den Beinen von zwei Händen gehalten, plötzlich in die Tiefe stürzte. Die Frauen schlugen Länn. Zunächst wurde die Feuerwehr alarmiert, die das Kind, das in einer großen Blutlachs lag. ins Ilrbankronkenhaus schaffte. Es war aber keine Rettung mehr möglich, der kleine Herbert starb bald nach der Aufnahme. In- zwischen war auch die Kriminalpolizei alarmiert worden. Die Be- amtey eilten nach oben und fanden Albert und das jüngste Kind noch unversehrt vor. Ohne Widerstand ließ er sich abführen. Bei seiner Vernehmung gab A. an, daß er die Absicht gehabt hat, mit beiden Kindern in den Tod zu gehen. Cr habe sich mit den Kleinen auf den Boden begeben, was dann geschehen sei, dessen tönne er sich nur im Dunkel erinnern. Albert, ein durch und durch kranker Mensch, steht seit'vielen Jahren in ärztlicher Behandlung. Cr ist häufig operiert worden, so daß er immer verzweifelter wurde. Als ihn gestern wieder furchtbar« Schmerzen plagten, verübte er die schreckliche Tat. Albert wurde verhaftet.
Tragödie eines Kriegsbeschädigten. Gr wollte mit der Familie in den Tod gehen. Em schweres Ilervealeiden lieh in dem Schwer- k»egsbeschädigten Paul Lösfler den Entschluß reifen. wU semer Familie in den Tod zu gehen. Zlachdem£. zuvor da» Schlüsselloch der Wohnungstür verstopft hatte, drehte er la der Zlocht zu Mittwoch den Gashahn aus. Durch die Aufmerksamkeit einer Verwandten, die gestern in der Edison- skraße 50 in Oberschöneweide einen Besuch machen wollte, und vergebens Einlaß begehrte, wurde eine Tragödie im letzten Augenblick verhütet. Der jetzt 42iährige Mann ivar früher bei der Eisenbahn be- schästigt, ist aber seit einiger Zeit arbeitslos. Während des Krieges wurde er verschüttet und behiell«in schweres Nervenleiden zurück. Sein« um 1» Jahre jüngere Frau hatte unter seinen Krank - heitsanfällen schwer zu leiden. Im Frühjahr dieses Jahres unter- nahm Löffler schon einmal einen Selbstmordversuch, er tonnte ober gerettet werden. Frau L. war durch den Vorfall so mitgenommen,
daß sie in eine Nerosnheilanstalt gebracht io«rd«n mußte, aus der sie erst vor kurzem zurückkehrt«. Aus der Ehe sind zwei Kinder hervorgegangen, die 7jährige Edith und der 8jährige Fritz. Der Zustand des Mannes verschlimmerte sich in letzter Zeit so, daß die Frau es nicht mehr u>ag«n konnte, ihn allein in der Wohnung zu lassen. Am Mittwoch mittag kam die Schwester der Frau das Ehepaar besuchen. Vergeblich begehrte sie Einlaß. Plötzlich bemerkt« die Schwester, daß aus der Wohnung Gasgeruch kam. Di« Feuerwehr und die Polizei wurden atarmiert und die Beamten ver- schafften sich gewaltsam Einlaß. Im Schlafzimmer lag das Ehepaar in seinen Betten, die Kinder hatten sich aus ihrem Kinderbett herausgewälzt und lagen quer über den regungslosen Körpern der Eltern. Nach langen Bemühungen gelang es der Feuerwehr, all« vier ins Leben zurückzurufen. Sie waren aber so schwer mitgenommen, daß sie in das Clisabeth-Hospital gebracht werden mußten. Eisenbahnunglück in polen . Sieben Tote, 27 Schwerverletzte. W arscha n, 9. Ottober. Am Mittwoch morgen hat sich ans der Station S o b o lew bei Demblin ein schweres Eisenbahnunglück ereignet. Vermntlich infolge starken Nebels überfuhr ein Eilgüterzug das Haltesignal und stieß etwa 40 Meter weiter mit dem aus Lemberg kommenden Personenzug zusammen. Der Anprall war so heftig, daß beide Lokomotiven schwer beschädigt entgleisten und mehrere Wagen des Personenzuges sowie
fünf Wagen des Güterzuges vollkommen zertrümmert wurden, wahrend zahlreich- andere Wage» schwer be- schädigt wurden. Bei den sofort nnternommenen tungsmaßnahmen wurden fü«s Tote und fünfzehn Schwerderlehte au» Trümmern hervorgezogen, weitere IS Personen haben leichtere Wunden und Q. schnngen davongetragen. Während der Fortschaffung sind zwei Schwerverletzte gestorben; man be- fürchtet, daß sich die Zahl der Todesopfer noch erhöhen wird. Unter den Toten befinden sich nach vorliegenden Meldungen zwei Soldattn» ein Schaffner und vier Reifende, nach anderen Meldungen sollen unter den Trümmern noch mehrere Tote, darunter drei Soldaten. liegen. Aus Demblin ist ein Sanitätszug und aus War- schau eine Untersuchungsrom, nission eingetroffen. Aufklärung desZuwelendiebsiahls. Racheakt des Botschastsportiers. Der Zuwelendiebslahl in der Französischen Botschasi, dee erhebliches Aufsehen erregt hatte, ist durch die Ermittlungen der Kriminalpolizei jetzt völlig geklärl. Als Täler ist der 53 Jahre alte Botschaftspsörtner. der frühere Oberst im rusiischen Generalstab. Michailow, vorläufig in Polizei. gewahrsam genommen ivorden. lllach der Entdeckung des Diebstahls und nachdem die Kriminal- polizei in Kenntnis gesetzt worden war, beobachteten zwei Kriminal- beamte das Personal. Zunächst lenkte sich t>«r Verdacht der Tot auf den in der Botschaft tätigen Kraftwagenfllhrer, der früher R i t t m e i st e r der russischen Armee war. E? zeigte sich aber bald, daß er als Dieb nicht in Betracht kam. Es wurde festgestellt, daß ursprünglich zwischen dem Chauffeur und dem Pförtner, die ja Landsleute und beide Emigranten find, eine gute Freundschaft bestanden hatte, d!« sich aber in letzter Zeit in arge
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Funk sagt gewaltsam laut:„Verzeihen Herr Ober- leutnant—" Da hat der andere genug. Er weiß Bescheid. Er schreit: „Ich werde Sie anzeigen, ich weiß genau, wer Sie sind, ich bin lange genug beim Regiment, Ihnen will ich'» bei- bringen—" „Gewiß, Herr Hauptmann," sagt Funk ruhig, salutiert, sckiwenkt auf dem falschen Absatz herum und geht. Er lacht noch in seinem Bett darüber, er hat lange nicht mehr gelacht, es war ein schöner Tag.— Aber eine warnende Stimme ist am nächsten Morgen doch in ihm, eine leis be- sorgte, die ihn abhält, einem Kameraden von diesem Gockel- tanz etwas zu erzählen, obwohl Sanitätsfeldwebel Bethge sicherlich seinen Bart unter Gewieher vergnügt nach oben dressiert hätte. Weil es also nichts zu erzählen und wenig zn arbeiten gibt, geht man viel spazieren. Jeden Tag nach Brügge pilgern kann man nicht, das Geld wird knapp, man muß mit dem Nest vorliebnehmen. Auf seinen Spaziergängen durch Dudzoele kommt Funk manchmal an einem kleinen sauberen Kramladen vorbei mit Hosenträgern, Fingerhüten, Ansichtskarten und Malzzucker. Die braunen Malzwürfel sehen appetitlich aus. Nicht weniger die Frau, die durch die Scheibe jedesmal ihm zulächelt— oh, keine Verführerin, eine biedere Provinzmatrone von fünfzig Iahren. Sie scheint bald herauszuhaben, daß Funk sich weder Hosenträger noch Fingerhüte wünscht, sondern Malz, denn sie zeigt mit der Hand auf die Glasvase, nickt und winkt ihn init der gleichen Hand herein in den Laden. Funk kann gar nicht anders, als dieser freundlichen Geste höflich folgen. Das Innere ist winzig, aber er kommt nicht einmal dazu, die dürftigen Einzelheiten aufzunehmen, so dringend
und geheimnisvoll veranlaßt ihn die Matrone, in ein noch .winzigeres Hinterzimmer zu treten. Die Breite einer Wand wird dokk ausgefüllt von einem Kanapee. Auf ihm sitzt ein rothaariges Mädchen, das grüßend den Kopf senkt, eine hübsche Sechzehnjährige mit gelehrigen Augen, die offenbar schon allerlei gelernt haben. Gleich ist Fun? neben sie geschoben, und auch die Frau hat Platz genommen. Sie hocken zu dritt auf braunem Wachs- tuch, über einer ächzenden Federung. Die Frau beginnt ein wirres Knäuel an Reden zu haspeln, darirt verheddert sind: Malzzucker, Funks Genfer Binde, die er am linken Arm trägt, Watte und Mull, Schwangerschaft und Geburt und das Amt der Hebamme. Das alles erklärt sich dahin, daß die Frau Hebamme ist und dringend ein wenig Material braucht für ihre berufliche Tätigkeit. Daß sie in Funk den Mann sieht, der ihr solches oerschaffen kann, und daß sie ihm Malzzucker in ungeahnten Mengen dafür anvertrauen will. Die Frau bat etwas Flehendes, die gänzliche Mittel- lofigkcit ist offenbar echt, das Notwendigste für ihre Patienten scheint in der Tat zu fehlen— aber Funk sucht ihr klarzu- machen, daß er von den knappen Vorräten, über die er ver- fügt, nichts abgeben darf. „Sind denn nicht eure Soldaten meistens die Väter von den Kindern, die ich hier zur Welt bringen soll?" fragt sie vorwurfsvoll. Funk denkt an den Fall in Mvricourt. Da ist eine Ver- wandtschast. Auch die kleine Rothaarige blickt ihn gravierend � an. Er fühlt, nicht lange diesen Augen widerstehen zu können(Gimpel! beschimpft er sich), und verläßt, ablehnend unter Kopfgeschüttel, den federnden Kanopeefitz. Die Frau folgt ihm in den Laden und hält seinen Acrmel fest. Sie flüstert: wenn der Malzzucker nicht konveniere, stehe ihre Nichte ihm zur Verfügung. Oh, sie sei durchaus folgsam, und er solle sich nicht genieren oder irgendwelchen Skrupel hegen: ihr als Hebammer feien Mittel und Wege offen, um unliebsame Folgen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Da ist sie nun also doch eine Verführerin, diese Matrone. Plötzlich ist Funk entschlossen: ja. sie könne Mull und Watte haben, ober sie dürfe dem kleinen Fräulein kein Wort von diesem kurzen Zwiegespräch erzählen. Dann geht er, behaftet mit etwas schleimigen Segenswünschen, und erleichtert sofort um ein paar Pakete den Sanitätswagen. Er sagt sich völlig beruhigt: so gut Offiziere
immer noch Verbandstoff als Taschentücher benützen und dann wegwerfen, kann ich auch dieser Frau etwas schenken. Schenken natürlich, nicht verkaufen.— Wie ist das? Was veranlaßt mich nun, ihr zu willfahren? Sie hat das Richtige getan, ohne zu ahnen, daß es das Richtige war. Bietet mir diese kleine rote Katze an, will sie mir verschachern— und zwingt mich dadurch, ihr nachzugeben. Denn gebe ich nichl nach, so wiederholt sie sicher noch ungehemmter ihr Angebot. Das wäre schrecklich, weil— nun weshalb? Weil ich die kleine Rote nicht verkuppelt haben, sondern weil ich sie haben will. Weil ich sie wiedersehen will. Aha, siehst du, blöder Don Ioan: nicht Tante Hebamme soll sie dir erobern, du selber willst sie erobern. Doch kommt es nicht dazu. Er trägt wohl Verbandzeug hin, aber er hält sich diesmal absichtlich nur kurz auf, um jedes Mißverständnis zu vermeiden, er dringt nicht ins Hinter» zimmer und empfängt als Gegengabe lediglich Malzbonbon?, die er mit Kameraden teilt. Als er drei Tage später das Hinterzimmer wieder be- treten will, als er auf dem Wege ist, begegnet er dem Kom- mandeur, Herrn v. Artigand— fast an der gleichen Stelle. an der er abends mit' jenem Feldwebel zusammenge- stoßen war. Heute ist heller Morgen, Funk schleudert die 5Mid au den Mützenrand, aber er wird wiederum gestellt. Ein Ruft knackerkinn arbeitet gegen ihn:„Weshalb grüßen Sie s? spät? Sie haben bei acht Schritt Abstand mit dem Gruß zu beginnen. Wissen Sie das noch nicht? Wo tun Sie Dienst" Wie heißen Sie?" „Krankenträgerunteroffizier Funk, von der achten Kom pagnie." Der Adjutant sagt begütigend:„Der Mann ist recht? Hand des jeweiligen Regimentsarztes, Herr Oberstleutnant, seit drei Iahren." Der Kommandeur läuft rot au:„Im Sanitätsdienst sind Sie— und wo haben Sie Ihr Abzeichen? Funk streckt den Arm mit der Binde leicht vor:„Hier, Herr Oberstleutnant." Da tobt er los:„Das rote Kreuz sehe ich von allein. Glauben Sie, ich bin blind, Sie Tropf. Frech wollen S'.e auch noch werden! Ich sperre Sie ein. Das bequeme Leben hat ein Ende. Ich schmeiße Sie in den Graben hinaus. Warum tragen Sie nicht nach Vorschrift die Aeskulapschlange am Oberarm?"(Schluß folgt.)