Beilage
Sonnabend, 18. Oktober 1929
Der Abend
Spalausgabe des Vorwäre
Hunger im Paradies
Neuseeländisches Abenteuer
Neuseeland ist das schönste, aber auch das teuerste Touristenland der Welt. Die Sehenswürdigkeiten liegen weit ab von den Berkehrszentren, nicht nur die mehr wunderliche als malerische Welt der Bulkane, der Geysirs und heißen Seen auf der Nordinsel , sondern noch mehr so das paradiesisch schöne Gebiet der falten Seen, der Alpen und Urwälder im Südwesten. Wer kennt diese Wälder auch unter den Neuseeländern und Australiern nur wenige, und doch: was weiß der vom Wald, der diese Wälder nicht kennt!
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Der schönste Spaziergang der Welt
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Von Heinrich Hemmer
fängnis geworden, in dem man um und um geht und das man lebendig nicht wieder verläßt. Dies Tal mit den freundlichen immergrünen Birken ist das Tal des Todes. Das Tal ist nicht mehr als dreißig Meilen lang, und vom Talausgang find's noch dreißig Meilen etwa zur ersten Farm. Wir glaubten uns gerettet, da sahen mir zu den fatalen Bergzinken auf: woher waren wir gekommen, wohin mußten wir gehen? Keiner von uns wußte mit mit Bestimmt heit zu sagen.
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Drei weitere Tage irrten wir in diesem Tal herum und standen vor einem Grab. Hier war ein schottischer Pionier ver: hungert. Wir schleppten uns noch einen halben Tag weiter: ein zweites Hungergrab. Nun wußten wir: auch wir waren verloren. Und wenn man diese Ueberzeugung gewinnt, wenn die Angst einen padt, ist aus eigener Kraft teine Rettung mehr möglich. Der Verdurstende geht in einer Spirale bis zu deren Mittelpunkt und gräbt sich da in die Erde: das ist alltägliche australische Erfahrung. Der Verhungernde beschreibt einen Kreis, aus dem er nicht wieder herauskommt: das ist Neuseeländer Erfahrung.
Wir waren, ich und mein Freund Stanley Browning, den Prospekt vom Government Tourist office( dem staatlichen Reisebureau) in der Hand, von Dunedeen, der südlichen Haupt- und schottischen Puritanerstadt, mittels Bahn, Schiff und Auto quer durch das südliche Neuseeland gefahren. Die Reise endet vor einem Hotel an der Pforte des Paradieses", oder vielmehr: hier beginnt sie eigentlich erst. Es ist eine drei Tage lange Fußwande rung durch das einsame Buschland des Südwestens nach dem Sund aller Sunde, dem Milfordsound, und ist der schönste Spaziergang der Welt". Wo die Zivilisation endet, beginnt ein Touristenpfad durch unberührte Natur. Auf einem ganz schmalen Fußpfad geht's durch den Busch, und der Busch wird immer märchenhafter, je tiefer man eindringt. Man stelle sich einen altgermanischen Urwald, einen Wald aus der Edda, vor, einen immergrünen gigan- pidten, zweie, dreie? Die wanderten hungernd im Busch, und dann tijazen Laubwald, in dem zugleich die üppige Pracht und der Wirrwarr der Tropen wuchert, Blattgirlanden ranken sich von Stamm zu Stamm, Bartfäden hängen in den bemoosten Bäumen bis zur Erde herab, Kletterstiele, Lianengewächse, alles unter einem gemäßigten Himmel; man faßt es nicht, man zittert vor Erregung, an jeder Bindung ein neuer Zauber: Kulissen zur Oper ,, Siegfried".
Es war merklich fühl und feucht, als wir nach einem Tagesmarsch die erste Blodhütte, eine Art Urwaldhotel, erreichten, wo ein paar Australierinnen( in Pyjamas) gerade dabei waren, Kleider und Schuhe an einem mächtigen Kaminfeuer zu trodnen. Dann wurde gegessen und gescherzt( o, wie haben wir noch daran gedacht an das viele Essen). Bei Morgengrauen über einen Gebirgspaß im Nebel und talabwärts in Reich der Moose. Sie haben
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all die armen Kiefernwälder erwürgt und liegen wie ein ungeheurer Berjerteppich über Baum und Boden grünbraun schillernd, braungelb schillernd und mit matten, fahlen Lichenen durchsetzt. Am Ende des dritten Tages der Haupt- und Schlußeffekt: Milford sound . Einst führen hier Schiffe ein mit erlauchten Passagieren, die sich die teure Reise geleistet nach dem schönsten Punkt der Erde. Heute gibt es nur noch den„ Spaziergang". Der Sund( so lange einen die Sandflöhe nicht entdeckt haben) erscheint wie ein Traumbild. Man hört sie nicht, diese silbernen Wasserfälle an den steilen Hängen, man ficht nicht den Eintritt des Meeres zwischen Ballisaden, man glaubt faum an die Wirklichkeit dieser Bergkegel, so unwahrscheinlich grün und schön und unberührt ragen sie auf. Bezaubert steht man da und fragt sich, fuchtelt mit den Armen herum, schlägt mit den Beinen aus. Zu Myriaden und Myriaden waren sie über uns hergefallen, die kleinen bissigen Biester, und nichts nüßt, nichts schützt gegen fie, überall kommen sie durch, kommen sie hin. Wir flohen ins Hotel. Es ist ein altehrwürdiges Haus, in das sich schon allerhand zerstochene Lords, Erz- und Großherzoge gerettet haben. Die Wirtin schwelgte in aristokratischen Erinnerungen; an ihrem Tisch jaßen Südseedemokraten und englische Mittelklasse...
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Der Prospett vom Tourist office sagt die Wahrheit: der ,, Spaziergang" ist unvergleichlich schön. Aber billig kommt er nicht ge= rade. Freund Browning war zudem nicht für Weiberbuschtouren" eingenommen und überredete mich zu einer zweiten richtigen Ur waldwanderung. Kaum ins Gebiet der falten Seen zurückgekehrt ( men muß den Spaziergang zweimal machen), padten wir Proviant in unsere Blanketts, die landesüblichen Reisebettdecken, nahmen den Billy, den Wanderblechtopf, zur Hand und zogen diesmal wie Männer in den Busch. Wir hatten etwas von einem ehemaligen Vichweg gehört und wollten auf diesem weiter hördlich die einsame Westküste erreichen ohne Touristen, Sandflöhe und Hotels.
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Der Biehweg, menn er jemals existiert hat, war schon be trächtlich zugewachsen. Wir fanden mur ab und zu einmal eine fahle Stelle, einen abgefnidten Zweig oder ein vertrocknetes Mist flechschen. Aber was die Richtung anlangt, fühlte sich Browning als Neuseeländer so unfehlbar wie der Papst. Drei Tage ,, führte" er mit Pfadfinderinstinkten durch dick und dünn, entdeckte die pittoreskesten Nachtlager und entfachte jeden Abend einen wahren Waldbrand. Am vierten Tage war große Aufregung. Es war jetzt eine Provianthütte fällig. Eine jener Nothütten, die die Regierung für etwaige an der menschenleeren Westküste gestrandete Schiffbrüchige mit Konserven versorgt hält. Die Hütte sollte etwas landeinwärts stehen, an einem See, einem fleinen Nigensee mit einem Kahn. Wir suchten sie den lieben langen Tag und auch den weniger lieben und noch längeren nächsten Tag. Wir fanden sie nicht.
Hunger!
Unser Proviant wat aufgezehrt. Wir waren hungrig. Wir wollten etapas essen, irgend etwas. Gibt es denn gar nichts zu essen im Paradies? Nein, im Paradies von Neuseeland gibt es nichts zu effen, feine Früchte, teine genießbaren Wurzeln, feine Tiere. Einmal sah ich eine Buschhenne, die sich scheu zurückzog, ab und zu flog ein Schwarm Bapageien trächzend hoch über unsere Häupter hinmeg, das war alles. Alles ist für das Auge da, nichts für den Magen. Wolfen stiegen auf. Wir faßten einen raschen Entschluß: Zurüd! zurüd in Eilmärschen!
Der
Aber aus diesem Paradies gibt es fein Zurüd. Wir waren so fröhlich eingezogen, aber wir tamen nicht wieder heraus. Schöne immergrüne Buchenwald wurde in der Regennacht zur Mauer: nach dem letzten Lichtstrahl unmöglich, einen Schritt vor oder zurüd zu machen, ohne den Kopf gegen eine Band zu rennen. Da standen wir und Der Regen floß. Das Feuer ging nicht an. zählten die Sefunden zu Minuten und Stunden und müllerten Stunde um Stunde gegen die grimmige Kälte. Aus dem silbernen Büchlein war ein reißender Strom geworden, der raste dem Meere zu, und kein Elefant hätte seiner Strömung widerstanden, geschweige Denn ein Mensch
Drei Tage faßen wir am Ufer und tauten assortierte Gräser, his fich der Bach fo meit beruhigt hatte, daß wir ihn überschwimmen fonnten. Aber aus dem Taltejfel am Buscheingang mar ein Ge
Es ist nicht gut, vorauszugehen in solchen Augenbliden. Freund Browning, du hast Strindberg und Nietzsche gelesen, du bist mit einem zarten jungen Mädchen verlobt, die Verse liest. An was denkst du jetzt?
tread lightly, for she can hear the pansys grow. tread lightly, for she can hear the pansiès grow. ( Sprich leise, denn die Geliebte liegt unterm Schnee,
geh sacht: ihr Dhr kann die Stiefmütterchen wachsen hören.) Kaum hatte er diese rührendste Strophe Dstar Wildes vor sich hingemurmelt, so fiel er auf alle Viere und sing zu brüsten an wie ein Tier. Er war jetzt eine Kuh und imuhte. Rein schlechter Einfall. Eine verirrte Kuh könnte uns hören. Oder ein Schaf, denn er blöfte jetzt, aber es flang schauerlich in der Stille, und jetzt bellte er. Wir bellten beide und trochen am Boden vorwärts und sahen einander an wie zwei verhungernde Wölfe.
Wau mau!" ,, Wau wau...
Ein schwaches Echo! Ganz dünn und hell. Ist das unsere Stimme oder eine andere? Man tönnte meinen, es sei ein Hund, der lacht. Wir frochen eine Weile auf allen Bieren weiter, nach allen Himmelsrichtungen bellend.
,, Es ist ein Hund!" schreit Browning plöglich, so daß ihm Ja, ein Hund!" der Schaum vor den Mund tritt. Da werden wir auf einmal wieder Menschen, fassen einander bei der Hand und laufen mit neu erwachten Kräften dem Schalle zu, bellend und horchend...
Eine Lichtung, ein 3 eft, davor ein Dingo, ein auftrali
Noch eine Nacht und ein Tag, und wir standen wieder am selben Grabe. Aber wir waren zwei Berhungernde, die da in einen Kreisscher Köter, sich vor irrsinniger Freude in der Luft überschlagend. verstrickt waren. Da schleichen sich seltsame Gedanken ins Hirn. Wie war's in alten Tagen, ais von den Sträflingen welche ins australische oder tasmanische Land hineinliefen? Oder Seeleute aus
Im Zelt ein Mann, Büchsen öffnend, bis der Tisch voll bededt ist mit Salmon, Corned beef, 3unge, Sardinen, Heringe. Der Mann nickt und bewegt die Lippen, aber es fommen nur Laute und feine Worte heraus. Der Einsiedler hatte das Sprechen verlernt. Auch wir waren der Sprache nicht mächtig. Wir fuhren nur mit Gabel und Löffel in die Büchsen hinein, kunterbunt, und aßen, bis wir
eines Tages fiel einer um: der Schwächste. Und was geschah mit ihm? Und dann fiel der zweite um, vielleicht nicht ganz von selbst. Wir gingen nebereinander. Keiner ging schneller als der andere. I umsanten. Wir hatten uns im Paradies einen guten Appetit gehoit.
Früher verbrannt und heute verachtet
Die Einäscherung ist auch heute noch in Indien die übliche Form der Bestattung. Daß dabei die Reichen, die Armen und der Mittelstand ihre besonderen Formen haben, die sich der Vermögenslage des einzelnen anpassen, ist selbstverständlich, und man kann an den
Colenverbrennung bei den Aermsten
Das Holz muß für den Verbrennungsprozeß ausreichen Begräbnissen in Indien ebensosehr seine soziologischen Studien machen wie in Europa . In einem aber stimmen die Bestattungen überein: Witwenverbrennung gibt es nicht mehr. Sie wurde vor 100 Jahren abgeschafft. Das ging natürlich nicht mit einem Federstrich, denn es handelte sich hier um eine alte Sitte, die ihrer tieferen Symbolik nicht entbehrte.
Bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. bekundeten Soldaten Alexanders des Großen von Witwenverbrennungen. Der 3eitpunkt ihres tatsächlichen Ursprungs ist bisher nicht mit Sicherheit erforscht worden. In altarischer Zeit wurde sie jedenfalls in höchst harmloser Weise ausgeübt. Die Beden berichten, daß die Witme sich zwar neben die Leiche ihres Mannes auf den Holzstoß legte, dann aber bei den Worten des Priesters: ,, Erhebe dich, o Weib, zur Welt des Lebens!" von dem toten Gatten Abschied nahm. Es wird vielfach behauptet, daß die Sitte der späteren Witwenopferung bei den Ariern durch die Szythen oder Thrazier eingeführt wurde; allem Anschein nach hat sie sich durch letztere übertragen.
Bis Anfang des vorigen Jahrhunderts waren zwei Arten von Witwenverbrennungen anzutreffen. Bei der einen, SAHAMARANA genannt, ließ sich die Frau zugleich mit der Leiche ihres Mannes verbrennen; bei der anderen, ANUMARAH, erlitt die Witme, den Flammentod, ohne daß der Leichnam zugegen war. Hier hatte der Gatte entweder auf dem Schlachtfeld sein Leben gelassen, oder der Tod hatte ihn auf einer Reise überrascht. Der Fall steht nicht ver
Leichenverbrennung des Mittelstandes Der Tote befindet sich unter dem aufgeschichteten Holz einzelt da, daß die Frau bereits ein Opfer der Flammen geworden mar, als der Mann plötzlich doch noch auftauchte. 1817 verbot die englische Regierung, obgleich fie fich religiösen Gebräuchen gegenüber passiv verhalten wollte, die letztere Art der Witmenverbrennung. In China war es üblich, daß den Frauen, die sich verbrennen
| ließen, Ehrentore erbaut wurden. Der Verbrennungsprozeß fand meistens außerhalb der Stadt, am Ufer eines Flusses ftatt. An den Tagen, die der Verbrennung vorausgingen, ritt die Witwe,
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reich geschmückt, auf einem Pferd durch die Stadt, in der einen Hand einen Spiegel, in dem sie sich mitleidig betrachtete, ohne jedoch eine Träne zu vergießen, in der anderen eine Limone haltend. Vor und hinter ihr lärmte das Volt. Am Verbrennungstage erschien sie inmitten eines Prozessionszuges. Den Anfang bildeten Spielleute mit Pauken und Schalmeien. Ihnen folgten Tänzerinnen. Den Abschluß bildete ein Geleit, von Männern, Frauen und Kindern. Die Witwe selbst war mit ihren schönsten Gewändern angetan und reichlich mit Geschmeide( Ketten, Arm- und Fußbänder, Ringe, Najen- und Kopfschmuck) versehen. Bevor fie den Holzstöß befrieg, der meistens aus mit 3imt und Sandel durchlegten Apritojen und Morellenholz bestand, verteilte sie ihre Gewänder sowie ihren Schmuck unter die Anwesenden, tröstete ihre Verwandten und nahm von den Freunden Abschied. Dann legte sie sich neben die Leiche, die sie mit einem Arm umschlang und goß mit der anderen Hand ein töstlich duftendes Det über Kopf und Körper, um den Berbrennungsprozeß zu beschleunigen und die Schmerzen zu lindern. Auf ihren Befehl wurde das Feuer angezündet; oft tat sie dies auch selbst. Die Spielleute schlugen eine lärmende Mufit an, um die Schreie der Verbrennenden zu übertönen. Die Zuschauer folgten dem Vorgang, wie etwa ein Europäer dem Fußballspiel. War das letzte Scheit verglüht, dann wurde die Asche in den Fluß geschüttet.
Entschlossen sich die Frauen freiwillig zum Feuertod an der
Verbrennungs- Feierlichkeit bei einem vornehmen Mann In der kostbaren, geschmückten Sänfte wird der Tote nach dem Ort der Verbrennung getragen
Seite des verstorbenen Ehegatten? Nein! Fast 90 Prozent aller Witwen wurde durch Ueberredung und 3wang zum Opfertod veranlaßt. Die übrigen zehn Brozent hätten sich wahrscheinlich gleichfalls nicht freiwillig entschlossen, wenn sie Zeit zur Ueberlegung gehabt hätten. Aber die Berwandten und Brahmanen, für die die Zeremonie ein gutes Geschäft war, wußten sehr wohl, daß eine Frau in ihrem ersten Schmerz willfähriger ist und beschleunigten die Einäscherung nach Möglichkeit. Und die bedauernswerte Frau hatte ja auch niemanden, den sie hätten um Rat bitten können! Sie wußte nur zu gut, daß fie bei einer Weigerung eine im wahrsten Sinne des Bortes tierische Behandlung zu erwarten hatte. Kein Kaufmann durfte ihr Ware Derabfolgen, die Bekannten und Verwandten straften sie mit Verachtung, jedermann mied fie. Und doch: hätten fie nicht lieber dieses traurige Leben auf sich genommen, als den grauenvollen Berbrennungstod, zu erleiden?
Nicht nur ideale Gründe fonservierten die Sitte der Witwenverbrennung. Bei der in Indien herrschenden Polygamie tam es häufig zu Giftmorden am Gatten aus Eifersucht. Man glaubte deshalb in dem unter Umständen drohenden Feuertode ein wirksames Abschreckungsmittel zu besitzen. Ein zweiter Grund war der Aufstieg der Brahmanen, die allein predigen durften und denen die Verbrennungen eine ansehnliche Einnahme brachten. Eine Rolle spielte es wohl auch, daß dem Sohne durch den Tod der Mutter die weiteren Unterhaltungskosten erspart murden. Bersuche, die Witwenverbrennungen abzuschaffen, unternahm der