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BERLIN Freitag 25. Oktober 1929

10 Pf.

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Der Abend

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Spätausgabe des Vorwärts

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B 250 46. Jahrgang

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Der Tod im D- Bug.

Die Katastrophe bei Nürnberg. - Bericht eines Mitreisenden.

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Ein Infasse des verunglückten D- 3uges München Berlin übermittelt uns noch ganz unter dem Eindrud des furchtbaren Unglüds den folgenden Augenzeugen­bericht, der vor allem auch die unzureichenden Rettungsmittel auf der Strede in den Kreis feiner Betrachtungen zieht. Im gleichmäßigen Tempo fährt der D- Zug München - Berlin durch die etwas nebelige Landschaft, die sich aber, als die Sonne hindurchbricht, aufhellt und die im Gold des Herbstlaubes prangen­den Wälder klar sehen läßt. Kurz vor Nürnberg , manche Reisende machen sich fertig, man denkt an nichts, plöglich ein furchtbarer Stoß, Pfeifen der Lokomotive, wir werden nach vorwärts ge­morfen und durcheinandergeschüttelt, Roffer fallen vom Gepäcnet, Bermundete schreien, Berwirrung. Man stürzt ins Freie, Reisende mit irren Bliden fommen einem entgegen und wollen versorgt sein, niemand weiß Rat. Erst allmählich sieht man, daß zwei Schnellzüge ineinandergefahren sind, daß der Münchener Don einem aus Nürnberg kommenden Zug erfaßt woorden ist. Der Tender des Münchener Zuges hat sich vollkommen in den Padwagen hineingebohrt, hat das Dach abrasiert und sich über den ganzen Wagen, der in einen Trümmerhaufen verwandelt ist, hineingeschoben. Menschen darin. Man versucht, Lokomotivführer und Heizer zu befreien,

die primitivffen Reffungsmittel fehlen. Seine Winde, feine Brechffange, fein Schweißapparat.

Der Heizer, der als erster geborgen wird, sieht wenig einem mensch lichen Wesen gleich. Blutander Kopf, mit Kohlenstaub bedecktes Gesicht, er tortelt umher und gibt auf teine Frage Antwort. Stier irrt sein Blid. 10.45 erfolgte der Zusammenstoß in Reichelsdorf , drei Biertestunden später tommt der erste Hilfs= zug, noch dazu ohne Schweißapparat. Nach einer halben Stunde mar ein pripater Schweißapparat an die Unglücksftätie geschafft worden, ein amtlicher war gar nicht vorhanden. Zwanzig Menschen hängen an der Lokomotive des Nürnberger Zuges, Sani­täter, Eisenbahner, Polizisten, Aerzte. Der Lokomotivführer, der furchtbar eingeflemmt ist, hat fast eine Stunde gelitten und stirbt, vielleicht auch durch die verspätete Rettung, an seinen furchtbaren Berlegungen. Tote werden aus dem Wirrsal herausgezogen, furcht bar zugerichtet, wie von wilden Tieren zerfleischt. Nach 25 Mi­nuten erschien das erste Sanitätsauto am Blaze, Polizei zur felben Zeit in ungenügender Anzahl. Erst später tommt ein Trupp mit Autos angeraft, die Gummiknüppel geschwungen, als ob es eine Verbrecherbande auseinanderzutreiben gilt, anstatt Berunglückte zu retten. Man hat den Eindruck, daß trotz der all­mählich großen Anzahl von Bahnbeamten die Anordnungen ziem­lich topflos gegeben werden. Die widerstrebendsten Befehle werden den Reisenden gegeben. Man fümmert sich wenig um sie. Ber­mundete mit Arm- und Beinbrüchen, mit verlegten Augen, mit Nervenschocks, werden weggebracht. Eine Arbeitertolonne, die in der Nähe beschäftigt war, eilt rasch hinzu, um die im 2.- Klaffe- Wagen eingeklemmten Reisenden zu befreien. Bolster mer­den hinausgeschleudert, Fenster eingeschlagen, man sieht leidende Gefichter von Frauen und fassungslosen Männern,

Wie kam das Unglück zustande? Von der Bahn erhält man überhaupt keine Auskunft. Der Stationsvorsteher erklärt trop der herumliegenden Toten, daß überhaupt nichts passiert" fei. Es gibt zwei Erklärungen: entweder hat der Münchener Lokomotivführer das Ausfahrtsignal überfahren, nachdem der Zug auf einem Umleitungsgleise in der Station Reichelsdorf wieder auf sein richtiges Gleis geleitet werden soll. An der Weiche erfolgte der Busamenstoß mit dem Nürnberger Schnellzug, der übrigens nur zwei Personenwagen hatte und dessen Signal auf freie Fahrt ge­stellt war. Man sagt aber, daß der Lokomotivführer des Münchener Juges in Schwabach einen schriftlichen Befehl zur Durchfahrt be­tommen haben soll. Die Frage mird wohl noch gerichtlich geflärt werden müssen., Ein größerer Zusammenstoß mit schredlicheren Folgen ist durch das Ziehen der Notbremse von einem Schaffner des Münchener Zuges verhütet worden, der überhaupt nur ein geringes Tempo hatte, so daß man sich über die kolossale Bucht, mit der die beiden Züge zusammengefahren sind, wundern muß.

Was ergibt sich für die Zukunft? Mindestens müssen Leermagen zwischen Tender und Post wagen eingestellt werden, damit die Postbeamten nicht in so unsinniger Weise gefährdet werden. Die Züge müssen besser mif Hilfegeräten ausgerüstet werden, die Rettungszüge müssen schneller in Betrieb gesetzt werden fönnen. Eine elektrische Weichenstellung, die in absehbarer Zeit ja noch nicht ausgeführt werden fann, würde die Gefahr erheblich herabmindern, da automatisch dann ein Brems. flog den Zug zum Stehen bringt, wenn die Weiche nicht richtig gestellt ist. ( Fortsetzung auf der 2. Geite.)

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Das Unglück

bei Nürnberg .

Unser Bild zeigt den völlig zertrümmerten Postwagen des D- Zugs, in dem die Postbeamten während ihres Dienstes dem Zusammenstoß zum Opfer fielen.

Daladier Nachfolger Briands.

Der Vorsitzende der Radikalen mit der Regierungsbildung betraut.

Paris , 25. Oftober.

Der Vorsitzende der Radifalsozialistischen Partei Dala­ dier traf am Freitag vormittag gegen 11 Uhr beim Präfi­denten der Republik ein, um über die neubildung des & abinetts zu beraten. Nach etwa dreiviertelstündiger Unterredung mit dem Präsidenten verließ Daladier das Elysee und erklärte, daß der Präsident ihn mit der Bildung des kabinetts beauftragt habe. Er, Daladier , habe ihn gebeten, ihm Zeit zu laffen, sich mit seinen politischen Freunden zu beraten. Er werde ihn am Sonabend, 3 Uhr, über das Ergebnis dieser Beratungen in Kenntnis jeten. Daladier begab sich sofort nach Reims zurück, wo be­kanntlich der radikalsozialistische Kongreß weitertagt.

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Präsident Doumergue bietet die Nachfolgeschaft Briands dem Führer der ziffernmäßig stärksten Partei an, deren Intervention im Ber­lauf der Debatte, die den Sturz des Kabinetts Briand brachte, ent­scheidend war. Die Diskussion, die gestern auf dem Parteitag der Radikalen in Reims einsetzte, hat übrigens zutagetreten laffen, daß die Partei die Regierung übernehmen will. Man fann also ver­sichert sein, daß Daladier heute den Auftrag des Präsidenten der Republik annimmt. Man läuft feine Gefahr, sich zu täuschen, wenn man ankündigt, daß seine erste Sorge sein wird, die Be­teiligung der Sozialisten an der Regierung zu erlangen. Die Antwort der sozialistischen Kammerfraktion wird ihrerseits von der politischen Orientierung der Kombination, die Daladier herzu­ftellen fich bemühen wird, abhängen.

Die Sozialisten regierungsbereit.

Der Kongreß der Radikalen in Reims beschloß am Donnerstag, jedes Zusammengehen mit den extremen und gemäßigten Rechts. parteien abzulehnen. Eine zu der innerpolitischen Situation angenommene Entschließung enthält die Aufforderung an alle Links: parteien,

"

gemeinsam mit den Radikalen die Macht zu ergreifen. Im Falle einer Absage der Sozialisten wollen die Radikalen zu einer fonftruttiven Oppositionspolitik zurüdfehren. Leon Blum er widert heute auf diese radikale Aufforderung im Populaire", daß die sozialistische Partei es ablehne, an einer von den Radi: Sie talen gebildeten Regierung aftiv teilzunehmen. werde einer solchen Regierung jedoch ihre parlamentarische Unter­ftüßung angedeihen lassen. Maßgebend dafür seien die wiederholt von der Partel beschlossenen taktischen Richtlinien. Auch die Mög lichkeit der Regierungsbildung durch einen Sozialisten, der unab hängig von der Partei im eigenen Namen handle, fönne nicht in

Frage kommen. Es bliebe somit, erklärt Leon Blum zum Schluß, nur noch eine Möglichkeit:

die Regierungsbildung durch die sozialistische Partei selbst. Die Partei sei durchaus bereit, die Initiative zur Bildung der Regierung zu übernehmen. Sie sei ebenso bereit, der Radikalen Partei in der von einem Sozialisten gebildeten Regierung eine: 1 weiten Platz einzuräumen. Blum erklärt schließlich, davon über­zeugt zu sein, daß der Parteirat sogar soweit gehen würde, den radikal- sozialen Ministern die Majorität der Miniſterſize zur Verfügung zu stellen.

Rüstungen verschlingen die Steuern.

Erst Abrüstung, dann Paneuropa... Reims , 25. Oktober.

Der Vorsitzende der Radikalen Partei, Daladier , sagte in seiner Parteitagsrede über den Gedanken der Vereinigten Staaten von Europa , man müsse, ehe dieses Ziel erreicht werden könne, in Europa erst einmal abrüsten. Es scheine jedoch jetzt ein Wettrüsten zu Lande und eine Bestätigung der angelfächsischen Vorherrschaft Von 1400 Franken Steuern des auf dem Meere bevorzustehen. Durchschnittsfranzosen fänden 682 Franken für die Zahlung der Schulden und Pensionen, 225 für die Produktion und 262 für die militärischen Ausgaben Berwendung. In Deutschland scheine das Reichswehrbudget in verschiedenen Kapiteln der Auf­richtigkeit zu ermangeln. In Frankreich würden in diesem Jahre 10,5 milliarden Franken für die Landesverteidigung ausgegeben, ungerechnet die in den übrigen Budgets versteckten Kriegsausgaben. Frankreich müsse sein militärisches Budget in Einklang bringen mit dem gegenwärtigen Zustand in Europa , mif den von ihm unterzeichneten Verträgen und mit der wirklichen mili­tärischen Stellung der anderen Länder. Es müsse schon jetzt eine internationale kontrolle aller Rüstungen eingeführt werden, bis in einer fernen, aber sicher einmal fommenden Zeit der Völkerbund eine gemeinsame Militärmacht schaffen werde, die ihm allein zur Verfügung stehe. Wenn nicht die Demo­kratie das neue Europa schaffe, dann werde es die internationale Finanz fun.

Ein europäischer Staatenbund lasse sich nicht denken, ohne eine In gewiffe Solidarität der Finanzen der verschiedenen Länder. diesem Sinne könne die Schaffung der Internationalen Bank be­grüßt werden. Aber dieses Institut scheine seine eigentliche Auf­gabe der Vereinnahmung und der Verwaltung der deutschen Zah­lungen und ihrer Weiterleitung an die Alliierten als Nebenjache zu betrachten und den internationalen Handel finanzieren, Absatz­märkte erschließen, die Währungsschwankungen und die Gold- und Kapitalbewegung regeln zu wollen. Das wäre die Unterjochung