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Beilage

Freitag, 25. Oktober 1929

Der Abend

Shalausgabe des Vorwäre

Der Kampf ums Dasein

Immer dasselbe

Wenn wir ein wenig Protoplasma oder, wie man es vordem nannte, Urschleim" auf eine Glasplatte tun, so beginnt diese in der Tat einfachste Lebensform sofort ihre Fühler auszustrecken und fich zu bewegen. Nimmt man nun aber reinen, das heißt 98prozen­tigen Alkohol und gießt wenige Tropfen davon auf das Protoplasma, so erstarrt dieses sofort in eine Art Totenschlaf. Man kann es durch wiederholte Waschungen mit Wasser aus diesem Schlaf wieder er­

ادنه

Schlange mit ihrer Beute.

weden, tann ihm seine Beweglichkeit und sein Leben wiedergeben; aber darauf kommt es hier nicht an. Was in Frage steht, ist viel­mehr die durch den Alkohol verursachte Hemmung der Be­wegung, des Lebens im Protoplasma. Hier spielt sich in der ein­fachsten Form der Kampf ums Dasein ab, jenes Grundgesetz der Bio­logie, das Jean , Baptiste de Lamard( 1744) in seiner Ent­wicklungslehre vorbereitete und das Charles Darwin mit seinem im Jahre 1859 erschienenen Buche Ueber die Ent­ stehung der Arten " zu einer unverrückbaren Wahrheit aus­gebaut hat.

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bei Mensch wie bei Tier

Wärme verkommene Nachkommenschaft ehemals starter Tiere hin­megzumähen. Dabei geht es nicht immer nach unseren Begriffen Wir sehen, wie eine Spinnerart einwandfrei und nüßlich zu. meilenweite Wälder überfällt und sie ihre Atmungswerkzeuge, die Nadeln, zerbeißend, eingehen läßt. Und wir beobachten, daß der bunte Borkenfäfer zwar Jagd macht auf die Spinner, aber, zu gering an Zahl, ihrer längst nicht Herr wird. Da erscheint etwas wie ein giftiger Meltau, ein Bafterium auf dem Plan, und in

Das Prinzip, nach dem aus der einen Urart so viele verschiedene, das degenerierte Wild, die durch zu reiche Nahrung und zuviel Arten, d. h. Formen desselben Tieres geschaffen wurden, ist das der Selektion oder Auslese. Man könnte auch sagen: 3üchtung. Die Tierzucht ist im Verlaufe der Jahrtausende zu einer hohen Kunst geworden. Heute sind die Menschen so weit, daß sie beinahe jede Form, die sie wünschen, bei einer Tierraffe hervorbringen. So ist zum Beispiel eine der am weitesten zurückliegenden Formen des Hundes die Doggenform. Schon die Römer hatten in dem bernhardinerähnlichen Molosser" eine Doggenart, die sie mit Bor­liebe als Hofhunde, aber auch bei Kampfspielen, ja selbst im Kriege beim Angriff verwandten. Diese Molosserhunde find wahrscheinlich die Vorfahren unserer heutigen Doggen, die im deutschen Mittel­alter unter dem Namen Haze" als Hezhunde auf die Jagd und fonft viel gebraucht wurden. Es waren große ungeschlachte Tiere mit typischem Doggentopf und breiter, lang vorgeftredter Schnauze. Diese Hunde tamen ebenfalls schon sehr früh nach England. Und hier auf dem klassischen Boden des Sports entwidelte sich der typische Bullenbeißer" aus ihm. Noch unter der. Königin Anna waren die Bullenheten sehr beliebt. 3wei oder auch sogar nur ein Hund kämpften mit einem wütend gemachten Stier. Man brauchte natürlich eine unerhört fräftige und starte Dogge dafür. Weil aber der Hund mit langer Schnauze den Bullen nicht so packen und festhalten fonnte, züchteten seine Lieb­haber ihm den Fang"( Maul) so weit zurück, daß er auch, am Halse des Bullen hängend, atmen konnte. Und da es für diesen Kampf feineswegs auf weites Laufen, wohl aber auf eine ungeheure Sprungkraft der Hinterhand anfam, so wurde die Bor derhand des Hundes mit der Zeit vollkommen vernach= lässigt. Als später die Bullenhezen aufhörten und in Berruf tamen, wurde der Bulldogg in England trotzdem in dieser merk. würdigen Richtung weiter gezüchtet und es entstand zulegtjene feltfame Raritatur, die mir heute auf den Hundeausstel. lungen anstaunen.

An diesem Beispiel habe ich die von Züchterhand betriebene Selektion aufgezeichnet, und ich fönnte dem aus tausend Pflanzen und Tierrassen gleiche, ja vielleicht noch überzeugendere Beispiele beifügen.

Aber weitaus univerfaler, bedeutender und wunderbarer ist die Natur selbst in ihrer Züchterrolle.

Nur daß hier nicht eine gewollte, aus irgendwelchen Spekulations­oder Sportgründen betriebene Selektion vorhanden ist. Wenn man an dem mißverständlichen Ausdruck:" Die Natur mill..." festhält,

Darmin hatte das Glüd, als der Sohn reicher Eltern auf die Welt zu kommen. Er brauchte nicht, wie so viele andere, einen großen oder den größten Teil seiner Arbeit dem Lebensunterhalt zu widmen. Er fonnte seine fast unbeschränkte Arbeitskraft viel­mehr der Beobachtung, dem Studium, also seinen Forschungen hin­geben. Das leberraschendste an seiner Lehre war das von ihm Brinzip der Selettion" genannte Erklärungsprinzip, an dessen Mängeln bisher noch alle Entwicklungstheorien gescheitert waren. Charles Darwin sagte: Die Arten der Lebewesendungen auszuschalten und die vorhandenen Eigenschaften in einer scheinen uns nur unveränderlich. In Wahrheit können und müssen sie sich verändern und in neue Arten umwandeln. Die

Lebemelt von heute ist hervorgegangen aus solchen Umwandlungen,

aus einem großartigen Entwicklungsprozeß, der mit niedersten Lebensformen seinen Anfang nahm, nach und nach aber, im Laufe ungeheurer Zeiträume, immer komplizierter wurde und zu immer höheren und leistungsfähigeren Organismen emporstieg."

Eine solche Theorie aufzustellen ist leichter, als sie zu beweisen. Aber in voller Erkenntnis der Bergeslast von Arbeit, die vor ihm lag, ging Charles Darwin an sein Werk. Er wollte Pflanzen und Tiere auf ihre Ursprünge zurückführen. Die außerordentliche Ver­schiedenheit der heutigen Arten in Flora und Fauna legte dem Forscher die Vermutung, nahe, daß unmöglich die Entwicklung so vor sich gegangen sein fonnte, daß vor Anbeginn der Mensch­heitsperiode alle diese Organismen schon in einer wilden Form bestanden hätten, die dann später vom Menschen kultiviert und hausbar gemacht hätte werden müssen. So mußte Darwin , deffen Kardinaleigenschaft unbeirrbare Logif war, zu der Annahne tommen,

daß die Entwicklung der Arfen nach bestimmten Prinzipien, und zwar eine aus der anderen, vor sich gegangen war. Er fand z. B., daß alle unsere heutigen Taubenrassen von einer Art, der Felsenta u be, heritammen. Aber es galt, den Beweis dafür zu erbringen. Darwin freuzte eine reinweiße Pfauentaube mit einer schwarzen Barbtaube. Die Jungen waren teils fchwarz

4.V. Hon

Hyänen greiten einen Elefanten an. braun, teils mit Weiß gemischt. Nun treuzte er diese Blendlinge mit Tieren, die ebenfalls nicht blau waren und feine Flügelbinden hatten. Und siehe da, es entstand von neuem die schieferblaue Felsentaube mit Flügel- und Schwanzbinde. Man nennt das: den Rückschlag auf entfernt. Vorfahren und hat damit schon einen Beweis für die Abstammung der zwanzig Hauptraffen unferer Taube mit ihren vielen, vielen Unterrassen von der einen Felsentaube. Die Tauben gehörten mit zu den am frühesten do­mestizierten Bögeln. Schon 3000 vor Chrift: Geburt finden wir Tauben auf dem Küchenzette! eines ägyptischen Pharao.

o tann man immer nur den Willen, die Art zu erhalten, Mißbil­dungen auszuschalten und die vorhandenen Eigenschaften in einer möglichst günstigen Form zu vervollkommnen, tonstatieren; das heißt: günstig wiederum für den Fortbestand der Rasse. Und hier beginnt das, was wir seit Darwin den Kampf ums Dasein"

nennen.

Die Formen, in denen die Natur diesen Streit austrägt, find unendlich mannigfach. Sie bedient sich der Wintersnot, um

Hype

Iltis saugt einem Hasen das Blut aus. zwei oder drei Tagen bededen Myriaden getöteter Raupen in einer weißlich flebrigen Schicht den Waldesboden.

Eins lebt vom anderen, das Schwache viel häufiger vom Starten als dieses von jenem.

Go geschieht in Hungerjahren in der afrikanischen Steppe das Ungeheuerliche: hyänenhunde, vielleicht die gefräßigsten und blutdürftigsten aller Raubtiere, überfallen in einem starken Rudel einen drei Meter hohen Riesenelefanten. Ob er auch manchen zertrat, mit dem Rüssel erschlug und zerriß, am Ende friegten sie ihn do ch! Am Rüssel ist der Elefant sehr empfindlich und da hingen sich fünf oder sechs dran, rissen Stücke heraus und machten das Riesentier Kampfunfähig.

Und so ist es, genau so, wenn die Hornviper eine große Ratte packt oder das Maus wiesel, ein nur handlanges Raub­tierchen, einem großen, zwölf Bfund schweren Waldhafen ins Genid springt und ihm, als Todesreiter, das Blut aus der Schlag­aber trinkt. Immer dasselbe, auch bei uns Menschen selbst.

Der eine verdrängt den anderen von seinem Erwerb und damit von feinem Nahrungsplatz. Er nimmt ihm sein Land, er zwingt seine Kinder in die Sklaverei und er raubt ihnen mit Gewalt ader List heute wie vor hunderttausend Jahren sein Weib. Jeder muß acht - unter die Füße des Neben­geben, wenn er steht, daß er nicht fällt mannes. Dieser Kampf, der Kampf ums Dasein, währt von Ewig­feit zu Ewigkeit. Er ist der Anfang und das Ende allen Seins. Hans Hyan .

Heinrich Hemmer: Der Zopf

,, Grausam sind sie da unten," sagte Frau B. mit einem felt­samen Lächeln, aber außerordentlich ritterlich: Frauen gegenüber." Bir tauschten, eine laute, große Gesellschaft, einmal wieder süd amerikanische Erinnerungen aus.

,, Die Gegensätze sind nirgends so schroff, höchster Glanz und tiefftes Elend, Lumpen und Brillanten, Marmorpaläste und Stroh­lager," sagte jemand, es gibt nur zwei Klassen, die einen haben alles, den anderen fehlt alles.. Ja, wenn diese prompt funktio. nierende Mulatten- Polizei nicht wäre, die erbarmungslos mit Gummifnüppeln dreinschlägt, wo sich etwas rührt, etwas organisiert unter diesen hungernden, schuftenden, unterbezahlten Arbeitermassen. Sehen Sie in Montevideo

,, Montevideo , nein, Bahia: Bahia muß man gesehen haben! Wissen Sie, daß ich nach zweistündigem Bummel an Bord zurück gefommen bin: pernichtet, erschöpft, frank vor Efel," sagte ein zweiter. Der Markt, dieser Markt: stinkendes, weichgewordenes Felt in der Tropensonne, Vermejung... Vermesung auch auf so vielen Gesichtern, Negergruppen von Bahia( ich habe mir Bilder mit­gebracht): schauerlich grinsendes, hilflos- naives, hoffnungsloses, ufer­loses Elend treibt sich hin und her zwischen den Schlössern der Mäch­tigen, die unberührt und ungerührt durch diese schwarze Verwesung schreiten..., eine lupuszerfressene Negerin sah ich, in lumpigem, buntscheckigem Putz, die stolze Spanierin spielen. Ah, qué bella!" rief ihr ein Passant zu, und sie drehte und fächelte sich, hochzufrieden, daß sie so schön sei.

,, Ich Tomme von Maracaibo," sagte ein dritter, der neuesten, modernsten, luxuriösesten, fortschrittlichsten südamerika nischen Metropole, das ist das Tampico von heute und morgen, die neue Stadt der Delmagnaten, aber eh' man an dem schönen, neuen Bier anlegt...., und wir hatten gerade eine nimmer endenwollende Delflottille passiert, da ging eine Begrüßungsflagge hoch und man wies auf eine graue Mauer dahinter. Das ist eine Insel. Und die politischen Verbrecher, die dort untergebracht sind, stehen bis über den halben Leib im Wasser... Uebrigens ist Maracaibo die Stadt der Hähne, nirgends gibt es so viele Hähne; man bindet ihnen fleine Sicheln an die Füße: der fortschrittliche Diktator liebt Hahnen tämpfe über alles, und Wetten darüber.

und fließendes Blut?" dachte ich; und wie ich nochmals an Frau B.'s Ausspruch dachte: sie sind grausam, die Südamerikaner, aber ritterlich gegen Frauen, da stieg aus meinem Gedächtnis wie cin Alp eine Bilderreihe auf, als Illustration zu diesem Thema.

Auf der Fahrt nach Bahia hatte unser Schiff vor einer ein­famen Insel, mitten im Atlantischen Ozean , gestoppt; wir treuzten hin und her( denn wir waren vor der Zeit), wir sahen scheu und schauernd nach den Felsen hinüber.. wir wußten schon: betreten dürfen wir diese Insel niemals. Es ist auch feine rechte Insel, fein Land für Menschen, wie ein Zeigefinger reckt sich da ein Felsen aus der Unterwelt drohend zum Himmel. Ein rötlich- weißlicher Stein, auf dem taum ein paar Grashalme wachsen und mir wenige Seite

stehen, für die Privilegierten( Menschen: es find Menschen, die da wohnen, wenigstens dem äußeren Anschein nach), die übrigen halfen sich im Freien auf, wo freilich die Tropensonne etwas heftig nieder. prasselt, oder öfter noch äquatoriale Regengüsse. Es ist eine Ver brecherinsel, man bringt dort Politifer unter, die man aus dem Wege haben will, Leute mit volksbeglückenden Ideen, zum Bei­spiel wie jenen, von dem der Steward sprach.

Der Steward war auf der Insel gewesen, und er sprach davon zu einer Dame, die neben ihm an der Reeling stand. Ich schnappte einiges Wenige davon auf. Wir waren beim bloßen Anblick dieser Insel von Schrecken wie gelähmt. Um die Insel waren Klippen und Riffe, und irgendwie wirkten die glitschigen Seelöwen, die daran auf- und abglitten, wie der lebendiggewordene Schleim aus dem Meeresgrund. Alle vier Wochen kommt ein Schiff mit Nahrungs­mitteln und neuen Wächtern, denn niemand hält es länger als vier Wochen auf der Insel aus, ohne den Verstand zu verlieren. Nach pier Jahren ist keiner mehr am Leben, den man nach diesem einsam umbrausten Felsen geschleppt, diesem Satansfinger, der aus dem Meere ragt.

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Wie ist wohl der Abschied von einer jungen, schönen Senorita, die man mit ritterlicher Galanterie verehrt hat, wenn man plötzlich auf diese grausame Insel verbannt wird? Wegen eines Versuches etwa, die Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit praktisch durchzuführen, wie jener, von dem der Steward sprach: der war seinem politischen Gegner unterlegen der Abschieb nahte, drüben minkte der Felsenfinger. Er würde nie wieder die Welt sehen, er würde nicht zurückkehren, das galt für ausgemacht, für den Rest des Lebens gab es nur noch Stein und Meer sagt da ein galanter, südamerikanischer Sozialpolitiker der Dame seines Herzens zum Abschied?

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Was

,, Gib mir ein Andenken! Ein Bild, nein, das verblaßt in Sonne und Regen, nein, etwas Reales, etwas von dir selbst, von deinem Körper, etwas Unverwüstliches, das ich stutt allem andern im Leben behalten will... schneide mir deinen 3opf ab."

Es wird wohl ein blauschwarzer 3opf, das Ende mit einer roten Schleife zugebunden, gewesen sein. So etwas hing an der Zeltmand ein paar Jahre, erzählte der Steward, und der Politifer mit Idealen fauerte in ständiger Betrachtung unter dem Zopf, wenn er nicht schlief, denn er wollte nicht in die Wasserwüste hinaus oder in die Felsenwüste hinein, oder auf die wüsten Menschen blicken. Was für Gedanken mochten bei dieser ständigen Betrachtung des geliebten Haares dem Sozialpolitiker durch den Kopf gegangen sein? Sicher ist nur, daß er den Verstand verlor, wie die meisten dort, eh' sie das Leben verlieren. Eines Morgens fand man ihn erstickt auf dem Boden liegen. Er hatte den 3opf geschluckt.

Die Dame an der Reeling aber war ohnmächtig geworden, soviel Grausamkeit und Ritterlichkeit auf einmal vertrug sie nicht. ,, Schon der Konful in Hamburg , der mir das Bisum ausstellte," fuhr Frau B. fort, war von einer Gefälligkeit...."