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Freitag 1. November 1929

Unterhaltung und ÄNissen

Beilage des Vorwärts

3lnge Stramm: ZHVCtS 1111 ZJtVdjß

Sonntagabend... Schon hängen Sterne am nachtdunklen Himmel über der Großstadt. Di« hohen Miethäaser im Norden D:rlins drängen sich eng und lastend zusammen. Die flackernden Gaslaternen oerschotten die Strohe nur. Ein verwehtes Wand-r- sied. Ein Lauienklang... Junge Mensch lachen und schütteln sich die Hände zum Abschied. In ihren Haaren hangt noch der Atem des Waldes. Ein Schlüssel klappert im Schloß. Schritt« verhallen. Lene Kruschke steigt die enge Hintertreppe»um dritten Stock empor. In dem dunklen Korridor riecht es nach Kohl und seuchter Wäsche. Sie hängt ihren Lodenmantel an einen Haken und summt ein leises Lied. In der Küche brennt noch das Licht. Vater sitzt in eine Zeitung vertieft am Küchentisch und Mutter flickt. Di« Wasserleitung tropfl. Niemand sieht auf, als das Mädchen eintritt. Nur Mutter fragt, indem sie einen neuen Faden einfädelt: Geht's nächsten Sonntag wieder so früh los, Lene?" Ja. Mutter, aber der Tag ist immer noch viel zu kurz für all das Schöne da draußen und wir hatten so fein« Gespräche da- bei von...* Da fährt der Vater auf und knüllt die Zeitung zusammen: Fang bloß nicht wieder an mtt sonem Gequatsche von Gott und de Sterne unds Gute! Mumpitz alles...! Dreck ist das Leben...1 Nur immer schusten, bis de ufs die Nase liegst, damit andere sich amüsieren können! Iawoll!" Der erregte Mann schlägt mit der Faust auf den Tisch. Etwas klirrt und fällt zu Boden. Ein Fluch entringt sich den Lippen des Mannes. Er hat sich an einer Gabel, die unter der Zeitung auf dem Tisch lag, gerissen. Tut's sehr weh, Vater?" fragt dos Mädchen verstört. Geh schlafen, Lene!" bittet die Mutter, mit einem Blick auf den Dater, der die schmerzende Hand unter die Wasierleitung hält. Das Mädchen zögert: Wenn ich dir doch helfen könnt«, Vater, daß du ander» denkst. Wir müssen uns doch alle gegenseitig helfen." So, hat dir schon mal einer wat geschenkt?" höhnt der Mann. Nicht so, Vater, sein Brot erarbeiten muh jeder, und schwer ist es immer, wenn es ott auch ganz anders aussieht. Und glaub mir. glücklich sind auch die wenigsten dabei. Aber es gibt nur ein« Hilfe:' Nicht blind verdammen und dem Schein nach urteilen... Ein wenig Verständnis nur aufbringen,«in wenig Anteilnahme. Jeder trögt seine Last... Aber das Wissen um Gemeinsamkeit macht das Leben schon heller, macht olles leichter..." ..Halts Maul!" sagt da der Mann,und mach, daß de ins Bett kommst!" ober in seiner Stimme ist ein anderer Klang als vorher. Um den Mund des Mädchens blüht ein ganz kleines Lächeln. Laß man die Lene", sagt die Mutter,die ist schon richtig!" Tßat weißt du denn davon?" brummt der Mann,verdienen tut se dabei noch nicht so oillc wie die Hilde zum Beispiel von Müller?!" Dafür gibt se ooch keen Geld für seidene Strümpfe au» und.. und... einen Freund hat s« woll auch noch nich!" Die Frau bückt sich tief über die Näherei. Der Mann erwidert langsam: Na... det wär auch noch schöner... sowat unser Mächen ».. unser« kleene Lene...!" Der Mann sitzt wieder am Tisch, den Kopf in die Hand ge- stützt. Die Wasserleitung tropft.... Montagmorgen.... In dem großen Fabriksaal stampfen die Maschinen. Regengraues Vormittagslicht fällt durch schmutzige Fenster, liegt lastend über arbeitende Menschen. Ein unterdrückter Fluch. Ein trockener Husten. Alles ertrinkt im Lärm der Masch!» nen. Nur die Stimme des Werksührers ist möchtiger. Zum Donnerwetter, Piesecke, wenn Se denken, Se können hier saulenzen...?" Der Angerufen« fährt zusammen und beginnt etwa» zu stottern. In seinem übernächtigt aussehenden Gesicht brennen flackernd die Augen. Reden S« nich, arbeiten S« gefälligst, sonst.. Der Werkführer, Herr Kruschke, ballt die Faust. Da geschieht es, daß die kleine Wund«, die er sich gestern abend gerisien hat. zu schmerzen beginn:. Rief dort nicht jemand? Nein! Di« Worte erwachen in ihm. Die Worte seiner Tochter:.... nicht blind oer- kämmen...!" Herr Kruschke zwingt den Blick noch eimnal zurück zu dem Mann, sieht gezwungene, fiebrig hastende Bewegungen. Schwer ringt es sich ihm los: So geht das doch nich, Piesecke! Sind S« krank?" Steil ausgerichtet beginnt der andere wieder zu sprechen: Nein, das nicht, aber seine Frau hätte einen Unfall gchabt und nun läge sie allein zu Haus und der Arzt hätte gesagt, heute wäre die Krise, heute würde sich's entscheiden, ab...* Fritz Piesecke kann plötzlich nicht weiter sprechen.... Dem Herrn Kruschke würgt etwas in der Kehl «. Er muß sich erst räuspern. Zweimal setzt er an: Na... Na, denn machen S« man, daß Se nach Haus kommen, für h-ut« haben S« denn Urlaub und... gute B-sierung für die Frau!" Damit geht er schon weiter. Fritz Piesecke starrt ihm nach und begreift alles noch nicht ganz. Zwei ander« Arbeiter aber stoßen sich an und grinsen: Der Olle hat wohl'nen Rappel gekriegt, seit wann pfeift der denn aus d I e Luke?" Na, vielleicht wird es jetzt«en bisken gemütlicher hier, det tut wirklich not!" Und die Maschinen stampfen.... Fritz Piesecke öffnet ganz leise die Kammertür. Mes ist so ruhig in der«einen Wohnung. Die Süll« bedrängt sein Herz Doch der Arzt hat gesagt, wenn seine Frau schlafen könnt«, wäre schon Hoffnung zur Besserung. Aber Frau Piesecke schläft nicht. Unrithig wirft sie sich umher. Fritz!" stöhnt sie, als sie ihren Mann sieht. Ihr« Augen blicken schon klarer. Wie gut. daß de da bist. Fritze. Die Heimarbeit muß dach geliefert werden! Eher hob ick keene Ruhe... Ick hob's doch so s-ste versprochen bi» heute mittag.. geh doch. da liegt det Paket.. denn.. denn könnt ick woll schlafen...!" Die Frau läßt sich matt in die Kissen zurücksinken.

Der Mann nickt nur. Dann macht er ein paar Schritte, um das Fenster zu schließen. Draußen lärmen Kinder. Die Stadtbahn rasselt. Ein Leierkasten spielt.... Auf der Straße fällt es dem Mann ein: Na. is man gut. daß ich mal selber hinkomme zu den feinen Fräuleins, den Malerinnen, die die Heimarbeit vergeben. Da quält sich meine Frau, immer in Hetze, für ein Lumpengeld, und die selber leben, heidi, in einem seinen Atelier mit Künstlerfesten und so.... Na, denen wcrd ich mal Bescheid sagen!" Fünf Treppen hoch, unterm Dach, liegt das Atelier für Seiden- malerei. Der Mann pustet ein bißchen, wie er oben ankommt. Ick dachte ooch, die hätten'nen Fahrstuhl?" brummt er vor sich hin, dann klopft er an die Tür. Ein junges Mädchen im weißen Malkittel öffnet ihm. Er sagt seinen Namen und will noch mehr sagen, aber schon unterbricht das Mädchen ihm: Oh.. wir haben schon so aus Ihre Frau gewartet. Wir müssen doch heute noch die Sachen bei der Firma liefern!" Nu, und wenn Se nicht geliefert hätten, wär's ooch gegangen!" Nein!" sagt dos Mädchen,dann.. hätten wir die Kundschaft des Grossisten verloren... die Konkurrenz ist überall hinterher." Aber verdienen tun Se schon genug bei die Sache, wo Se Ihren Heimarbeitern nur so'n paar Groschen bezahlen... Ick habe meiner Frau schon so oft Kroch gemacht, daß Se für fo'n> unter.

Lumpengeld überhaupt arbeet.. da verdien ick doch anders. Det sollte mir mal einer bieten. Ins Gesicht schmiß ick's ihm! Det wollte ick Ihnen nur sagen!" Sein« Stimme wird ganz heiser vor Erregung. Lieber Mann!" stammelt das Mädchen vollkommen hilflos Lieber Mann! Arbeite ich nicht selber noch die halben Nächte durch, damit ich überhaupt von dem Verdienst loben kann, Glauben Sie, ich möchte gar keine Heimarbeit weggeben, aber man macht sich ja ganz kaputt... Ich bin schon immer müde... Und wenn die Arbeit nicht ganz tadellos ausfällt... die Konkurrenz unter- bietet jeden Tag die Preis«! Ihre Frau bittet auch immer noch mn mehr Arbeit, als sie eigentlich schaffen kann. Sie hat's wohl auch sehr schwer?" Nee, eigentlich brauchte se dos gar nicht... Ick versteh det nich...! Und nu is je man krank." Der Mann erzählt plötzlich sehr besänftigt von dem Unfall, doch daß es wohl jetzt bald besser würde. Dann streckt er dem Mädchen seine derbe Hand hin. Er sieht jetzt erst, wie schmal die Gestast des Mädchens ist und wie blaß das Gesicht unter dem dunklen Haar. Nu.. denn�entschuldigen Se man, Fräulein... und wenn meine Frau denn nachher wieder bei Ihnen kommen darf?" Das Mädchen lächelt. Durch dos große Glasfenster fällt ein schmaler Streifen Sonne . Rote Blüten in einer Vase flammen seltsam lebendig in diesem Licht. Sehr langsam geht der Mann die fünf Treppen wieder hin-

fflchard Oerlach:*P&irfUll6SVO(fGl

Der große Paradiesvogel trägt sein Gesieder wie ein Schlepp- «eid. Ich starrte ihm nach, als wäre mir eine schöne Tote, eine längst Verstorbene, die Jenny Lind oder eine Kaiserin von China begegnet. Falb und weiß zerrann der Schmuckseberbusch wie ein« sprühende Fontäne. Es war mir, als träumte ich den Traum eines Scheriffs von Babylon. Und ich tastete meine eigenen Augen ab, ob ich ihnen trauen sollte. Auf einen Ast gekrallt, groß wie ein Rabe, saß in seinem Käsig der Vogel, den die ersten Entdecker Göttervogel nannten. Es war kein Zweifel, er war von weit. her aus dem Dunkel der Aru-Inseln gekommen und strahlt« in seiner unglaublichen Schönheit. Gelblich, wie mit dem Saft einer Melone getränkt, schimmerte der Kopf. Stirn, Kinn und Kehle flirrten goldgrün. Flügel und Schwanz waren mattbraun abgetönt. Wie zwei Helmbüsch« aber wallten zu beiden Seiten die zerschlissenen Zierfedern herab. Gravitätisch humpelte der Vogel auf dem Zweig von rechts nach links und löst« sein« Füße so langsam und widerstrebend, als seien sie festgeklebt. Blindlings stürzte er sich in die Tiefe auf einen unteren Ast. mit einem merllichen Ruck, bedacht, das kostbare Kleid nirgends anzustreifen. Dann blockte er eine Weile reglos da und begann sich zu putzen. Ich mußte an die schloicken Finger der Mädchen denken, wenn sie die Nackenhärchen schnell noch einmal zupfen, ehe sie in den Theatersaol tänzeln. Ich fragte mich, warum man dem Vogel keinen Spiegel gegeben hatte. Es hätte einer mit goldgeschnitztem Rahmen sein müssen. Feder für Feder zog er fast ängsttich durch den dünnen graublauen Schnabel, den Körper fest an den Ast geschmiegt, den Kopf zärtlich hin und herbiegend. Flüchtig, wie man«inen Fächer ausmacht, spreitete er die Flügel. Senkrecht unter ihm wollte die Prunkschleppe. Plötzlich schien ihm etwas einzufallen. Den Hals kampflustig vorgestreckt, schrie er melancholisch wie ein heiserer Fasan. Bebend fuhr er auf einen unsichtbaren Gegner los. Wie ein Pfau sein Rad schlägt, so stellte er den sonst gesenkten Federbusch steil über sich Es sah aus, als wüchse ihm«in Strauß von abenteuerlichen Strohblumen aus dem Rücken. Minutenlang verweist« er so, im Takt mtt den Flügeln schlagend. Berbarg sich im Gebüsch ein Weibchen, das«r mtt dem glühenden Strahlenkranz seines Gefieders berücken wollt«? Hier im Käfig war er allein. Aber sein Ber - langen schwoll über Küsten und Korallenriffe und flatterte zwischen riesigen Mangroven. * Auf den Papuanischen Inseln nordwestlich von Neuguinea lebt der r o t« P a r a d i« s o o g e l, ein schlanker ungestümer Vogel von der Größe eines Eichelhähers. Sein Rücken ist kühlgelb wie Danille-Eis. Die metallgrünen Federn über den Augen ragen hervor wie zwei lleine Hörner. Smaragdgrün schillert die Kehle. Brust und Flügeln dämmern rotbraun. Die Schmuckfcderbüsche aber leuchten weinrot. Die mittleren Schwanzfedern sind wie ein dünner Eisendraht einen halben Meter lang ausgezogen, und an ihrem Ende wippt eine kleine Spirale. Di« aschblcmen Füße sind viel zu groß: derbe Klauen sitzen daran. Mit zuckenden Bewegungen rudert er fortwährend umher, so viel schmächtiger er ist, hat er doch etwas von der mutigstarken Haltung des Auerhahns. Die Paradiesvögel leben auf geheimnisvoll verschwiegene Weise. Sie nähren sich hauptsächlich von Früchten. Bei dem ge- ringsten Laut flüchten sie in die dicht belaubten Wipfel, annrutig spielend meiden sie den Erdboden und oerlassen die Baumkronen höchstens, um aus einem Bach zu trinken. Der Ruf des roten Paradiesvogels ist Nirrend und hell, viermal hintereinander stößt er ihn mit emporgeworsenem Schnabel aus. Am meisten ähnelt er dem Regenruf unseres Schwarzspechtes. Die Melanesicr, die schwarzen Ureinwohner jener fernen Inseln, wollhaarig, Ketten von Muscheln an Hals und Armen, schießen mit Pfeil und Bogen den Parodiesvogel aus luftiger Höhe. Und so edel ist dieses Gefieder, daß selbst die Wilden sich scheuen, es der Verwesung anheimfallen zu lassen. Sie balsamieren die Bälge in Asch« ein. Zu Zeilen einer töricht überladenen Mode droht« den Vögeln Verderb und Ausrottung. Ich habe«inen Paradiesvogeljäger kennen gelernt. Er war«in tollkühner tatenhungriger Mann. Zwölf Jahre zog er mit seiner Flinte durch die Fieberwälder, bergauf, bergab, zu Gast in den Hütten der Dorshäuptlinge. Tausend« der schönen Vögel erlegte er. Bis sich die Panier Modistinnen besonnen, daß man Hüte auch anders nls mit toten Tieren garnieren kann. Nach- dem der Paradiesvogeljäger sein Vermögen in Monte Carlo ver- spielt hatte, ging er nach Alaska , um Gold zu graben. « Nur von der Größe einer Singdrossel ist der Königs- xaradiesvogel, Er ist mtt dem Ornat der Dogen von Venedig

angetan, bluttot sind seine Schwingen. Der Oberkopf ist etwas heller, wie das Fleisch einer Kirsche. Die Brust ist in ein« Frack- weste von gelockertem Weiß gekleidet. Ueber den Augen trauert ein schwarzer Harlekinfleck. Ein smaragdgrünes Kettchen säumt«in rauchbraunes Halstuch. Zwei fadenförmige Steuerfedern sind eigen­sinnig weit aus dem Schwanz herausgedreht. Der Schnabel ist honiggelb. Die Füße sind kobaltblau. Vor den eigentlichen Flügeln hat er ein zweites Paar grüner Flügelchen an den Seiten der Brust sitzen, die er aber nicht zum Fliegen benutzt, sondern nur eitel aus- breitet. Sein Ruf ist etwaOrk ork ort ork," ein eigentümlicher Laut von der Stärke des Hühncrgockerns. Rasch und sprunghaft ist sein Wesen. Er schaukelt sich aus einem Zweig dicht über der Erde, turnt daran wie an einein Reck und erhascht eine Beere, ohne den Zweig aus den Füßen zu lassen. Seine Heimat sind die Insel» Misul, Salavatt und Neuguinea . Seine Augen sind so fremd, als habe er sich aus einer Mondlandschaft zu uns verirrt.

Die beschriebenen drei Arten habe ich in der Gefangenschast belauscht, der blaue Paradiesvogel ist mir noch nie zu Gesicht gekommen. Ich kenne ihn mir von Abbildungen. Er muß der allerschönste fein. Samtschwarz, grün und blau ist sein Gefieder. Er hat die Farben des tropischen Himmels und der Schwertlilien. Nur in den hohen Gebirgen des östlichen Neuguineas lebt er, und tch weiß nicht, ob man ihn jemals in Europa gehalten hat. Er, der Unbekannte, der in den unwegsamsten Cafuarinen- und Eukaiypten-Wäldern wohnt, ist mir wie ein Traum. Ich kann glauben, daß es ihn gibt, und ich kann mir auch einflüstern, daß es ihn nicht gibt, daß sein Bild aus der Einbildung eines berauschten Malers entstanden ist. Seine Schönheit ist verschwenderisch, über- schwenglich und unbegreiflich.

Chinefifche Friedhöfe Eine zahllose Menge spitzer Erdhaufen brettet sich allmählich aus bis an den Rand des Meeres. Es sind nichts als Gräber, wähl- los verstreut, wie vom Himmel herabgeregnet in dieser unsruchtbaren, von Salz verpanzerten Fläche. Friedhöfe gibt es nicht in China , darum findet man Gräber außerhalb der Stadt überall,ilvas für den Lebendigen der Atem, das sind für die Toten die Knochen," lehrt ein Chinese den anderen. Und so schützen und erhallen die Lebendigen von heute in einer einzigartigen Totenknechtschaft olle Gräber des Landes, auch die aus den längst vergessenen Gene- rationen. China hat über 400 Millionen Einwohner, doch kaum weniger Gräber. Verbrennung findet nur selten statt: die Bauern begraben ihre Toten auf den Aeckern, die anderen belegen die dein Staat gehörenden Oedländereien, die Bergabhänge und das Meeres- ufer. Drei- oder viermal in der chinesischen Geschichte haben all- gemeine Gräbervernichtungen stattgefunden, jedesmal beim Wechsel von Dynastien: die letzte beim Anttitt der Mingdynasti« im Aus­gang des vierzehnten Jahmnderts. Die Mandschudynaftie, die ün siebzehnten Jahrhundert die Regierung antrat, ließ die Gräber des Volkes nicht zerstören, wie sie auch die Grüfte der Mingkaiser ver- schonte. Es klingt sehr seltsam, ober durch dieses pietäwolle Ver- halten versagten die Mandschukaiser dem Lands eine Wohltat, nach der es dringend verlangte. Wären alle Gräber Chinas seit mehr als dreitausend Jahren noch vorhanden, so würde wohl kaum noch ein Platz für die Lebenden übrig sein. Aber es genügt auch, daß seit einem halben Jahrtausend in China kein Grab mehr zerstört worden ist, um bei der unablässigen Schmälerung des Bodenbesitzes eine Bodenkrisis herbeizuführen. Die Berg« bei Kanton und Nanking, die Kustenflächen in der Nähe der großen Seestädte sind ungeheure Tvtenselder. Bei manchen Städten wird schon der Raum für die Bestattung der Toten unerschwinglich. Das Volk würde im alten China aus sich heraus niemals gewagt haben, die allen Gräber den, Erdboden gleichzumachen. In dem neuen China beginnt allmählich eine Beseitigung der Gräber. Man hat ausgerechnet, daß China durch eine allgemein« Beseitigung seiner Gräber«in Gebiet von der Größe Deutschlands neu gewinnen würde. Auch die Anlage neuer Straßen und Siedlungen, der Bau von Eisenbahnen und Berg- werten würde unendlich viel leichter vor sich gehen als in der Gegen- wart, wo der Ingenieur auf die Ruhe der Toten peinliche Rücksicht nehmen muß. Es gab schon vor der Revolution in China viele Chinesen, die behaupteten, daß in China ein Dynastiewechse! not- wendig sei, damit wieder ein« allgemeine Gräbervernichtung das Land erleichtere und nicht nm End« die Zahl der Toten die Lebenden verdränge. lAlkon- Paqnet.