1929
Der Abend
"
Erfcheint täglich außer Sonntags. Bugleh Abendausgabe des Vorwärts". Bezugspreis beide Ausgaben 85 Pf. pro Woche, 3,60 M. pro Monat. Redaktion und Expedition; Berlin SW68, Lindenstr. 3
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Spälausgabe des„ Vorwärts"
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Nr. 514
B 256 46. Jahrgang
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Nur 9,73 von Hundert!
Schwere Enttäuschung" und„ jähes Erwachen".
Nach den beim Reichswahlleiter bis zum 1. Novem ber 12 Uhr mittags eingelaufenen Meldungen stellt sich das Ergebnis der Eintragung wie folgt: Bei 36 689 048 Stimmberechtigten hatten sich 3 571 356 Wähler eingetragen, also 9,73 Proz. Gemessen an ber Gesamtzahl der Stimmberechtigten ( 41 278 897) liegen die Eintragungsziffern aus etwa 88,88 Proz. des Reichsgebietes vor.
Die oben angegebenen Zahlen enthalten die nahezu voll. ftändigen vorläufigen Gesamtergebniffe für 25 Stimmfreife, ebenfo Teilmeldungen für die übrigen 10 Stimmfreife. Teilmeldungen ffehen noch aus folgenden Stimmfreifen aus( die Zahl der Stimmberechtigten für das noch ausstehende Gebiet ist beigefügt): Ostpreußen ( 1 150 000), 2 erseburg( 40 000), Wefer- Ems ( 460 000), 3 estfalen Nord( 630 000), essen- Nassau ( 1 058 000), Oberbayern - Schwaben ( 33 000), Niederbayern ( 630 000), 23 ürttemberg( 22 000), Baden( 340 000), Medlenburg( 65 000).
2016 201
Hugenberg, der richtige Mann!
Wer sagt das?- Hugenberg!
Hugenberg hat die Beamten, die mit der Auszählung des Boltsbegehrens beschäftigt sind, in sinnloser Weise verleumdet und der Urkundenfälschung bezichtigt. Auf die Zurückweisung dieser Erbärmlichkeit durch den Vorwärts" antwortet jetzt Hugenbergs Tag":
,, Der geifernde Haß, der aus diesem dreisten Schrieb spricht, wird im Gegenteil die Deutschnationalen nur in ihrer Ueberzeugung bestärten,
daß der richtige Mann an ihrer Spitze steht. Was die offenkundigen Ehrabschneidereien angeht, deren sich der Borwärts" schuldig macht, so ist wiederholt erschöpfend erflärt worden, daß Dr. Hugenberg zwar am Tage der Dames- Abstimmung trant war, aber in einem ausführlichen Schreiben an den Parteiführer darlegte, daß er gegen die Annahme des Dawes Blanes sei. Dieser Tatbestand ist natürlich dem ,, Vorwärts" so gut befannt wie uns. Er macht nur teinen Gebrauch davon und verleumdet feige weiter.
Der Tag" verrät mit feinem Wort, warum wir Hugenberg einen Berleumder nannten, seine Leser würden ja sonst sofort bemerken, daß wir recht hatten. Dafür beschäftigt er sich mit einer anderen Angelegenheit, auf die einzugehen uns nicht weniger erwünscht ist.
21 Stadtverordneten Wahllisten.
Nicht weniger als 21 Listen find für die Berliner Stadtverordnefenwahlen am 17. November eingereicht worden. An zwölfter Stelle steht eine funkelnagelneue Partei, nämlich eine linksta ditale Antikorruptions- Partei. Sie hofft wahrscheinlich, ein Bäckerduhend Stimmen aus den Kreisen derer, die nie alle werden, zusammenzubekommen.
An erster Stelle steht die Sozialdemokratische Partei Deutschlands
Paris , 1. November. ( Eigenbericht.) Die französische Regierungskrife ift mit der Berufung Tardieus wieder an ihren Ausgangspunkt zurückgekehrt. Dem kabinett Briand- Tardieu folgt jetzt ein kabinett Tardieu- Briand. Es steht Wir hatten im Auguft d. I. öffentlich angefragt, warum roohl außer jedem 3 weifel, daß Tardieu, der schon seit Hugenberg an der Dawes Abstimmung vor fünf Jahren nicht teil- langen Monaten als fünftiger Ministerpräsident gilt, und der genommen habe. Darauf an wortete Hugenberg mit der Veröffentlicherlich schon eine Ministerliste fertig in der Tasche hat, zum lichung eines Briefes, den er am 26. August 1924 an ergt Erfolge fommen wird. Er hat am Donnerstag bereits die geschrieben hatte. In diesem Brief setzte Hugenberg auseinander, Zustimmung Briands, Cherrons, Maginots, Painlevés und Hennessys zu weiterer Mitarbeit erhalten. Tardieu hat am daß er bei den Verhandlungen der Fraktion über den Dames Plan Donnerstag abend vol Zuversicht erklärt, daß er bis Sonnabend gefehlt habe, weil er sich doch nicht zu den Mörglern gefellen wollte" und daß er auch zur Abstimmung nicht kom-| früh sein kabineti fig und fertig haben werde. men fönne, weil er mit einer Herzattacke zu Bett liege. Bald darauf hat aber Hugenberg seine schamlose Heze gegen alle, die für den Dames- Plan gestimmt hatten, also auch gegen die Hälfte seiner eigenen Fraktionskollegen begonnen. Besonders richtete sich diese Hetze gegen den verstorbenen Stresemann, der sich bei wich tigen Entscheidungen niemals mit einer Herzattacke" ins Bett gelegt hat. Wir haben das Verhalten Hugenbergs in der Frage des Dawes- Plans als eine Erbärmlichkeit gekennzeichnet und halten diese Kennzeichnung aufrecht.
Aber, das ist nicht das Entscheidende. Das Entscheidende st, daß Hugenberg seine Partei in eine Niederlage hineingeritten hat, wie es noch niemals zuvor ein Führer mit seiner Partei getan hat, und daß er, um sich zu entschuldigen, zu einer feigen Berleumdung seine Zuflucht genommen hat, indem er die Beamten, die mit der Auszählung seiner Niederlage beschäftigt sind, der Urkundenfälschung beschuldigte.
Angesichts dieses Standals, der auch vielen Deutschnationalen schwer auf die Nerven gefallen ist, läßt sich Hugenberg von feinem eigenen Blatt ein anderes täte es ja doch nicht! attestieren, daß er der richtige Mann an der Spize ist". Deswegen wird er aber doch von den Deutschnationalen fort gejagt werden, wie er es schon längst verdient hat!
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Die neue Mannschaft, wie auch die parlamentarische Mehrheit Tardieus dürften sich von der des zweiten Kabinetts und des Ferienkabinetts Briands nur sehr unwesentlich unterscheiden. Das einzige Resultat der Regierungskrise liegt wahrscheinlich darin, daß die neue Regierung noch schärfer nach rechts orientiert sein und die Linke, weil sie in ihren Bemühungen um die Kabinettsbildung erfolglos gewefen ist, mit schwerer Einbuße aus der Affäre hervorgehen wird.
Der polnische Reichstag
wurde bei seinem Zusammentritt am Donnerslag durch ein Massenaufgebot von Offizieren an der Arbeit verhindert. Unser Bild gibt einen Blick in den Sitzungsaal des Seim; der Marschall Pilsudski als Sprecher.
Ignaz Daszynski, der Präsident des polnischen Abgeordnetenhauses, und Joseph Pilsudski , der Kriegsminister und Halbdiktator Polens, die heute als die beiden Hauptgegner einander gegenüberstehen, sind alte Rampfgefährten und waren durch Jahrzehnte eng befreundet. Beide stehen in der ersten Hälfte der 60er Jahre, beide stammen aus altadeligen Familien. Daszynski wurde als Sohn eines österreichischen höheren Verwaltungsbeamten in Ostgalizien geboren, Pilsudski stammt aus Wilna , das als die Heimatstadt des größten polnischen Dichters Adam Mickiewicz eine Art Nationalheiligtum der Polen ist.
Beide schloffen fich in jungen Jahren der sozialistischen Bewegung an,
die im österreichischen Teilgebiet vor allem gegen die Vorherrschaft des polnischen Adels in der Verwaltung Galiziens gerichtet war, zumal diese Verwaltung parteiisch im Interesse des russischer Teilgebiet dagegen waren die polnischen Sozialisten Großgrundbefizes und der Reaktion mißbraucht wurde; im die Borkämpfer der Freiheitsbewegung, die die Abschüttelung der russischen Fremdherrschaft und die Wiedererrichtung eines freien, demokratischen und sozialen Polenstaates zum Ziel hatte. Naturgemäß war die Bewegung in Kongreßpolen illegal und der zaristische Druck, besonders nach der Niederlage der Revolution von 1905, rief terroristische Akte der Revolu tionäre hervor, bei denen sich Pilsudski hervortat. Vorher schon hatte er insgeheim den ,, Robotnik"( ,, Der Arbeiter") geschrieben und mitgedruckt, was die zaristische Polizei wiederholt erfuhr und verhindern konnte. Daszynski aber wurde vor 1897 in den Reichsrat nach Wien entsendet. Seine hinreißende Rednergabe machte ihn rasch zum volkstümlichsten Führer der gesamten Arbeiterschaft Altösterreichs. Auch Daszynski hat, als Student und Hauslehrer, Befanntschaft mit russischen Gefängnissen gemacht. da er in der Festung Kultus sieben Monate verbüßen mußte. As Pilsudski vor etwa 25 Jahren ein Asyl in Kratau fand meinte er bald, in Galizien herrsche ja eine Freiheit wie in Amerika ! Er fonnte dort vorbereiten, was im Weltkrieg als Polnische Legion " in Erscheinung trat und den geradezu legendären Ruhm begründet hat, der seinen Namen so lange umgab. Warschau , 31. Offober.( TU.) Die bereits gemeldete Unterredung zwischen Marschall Pil- publik Bolen. Er ist heute, im weißen Haar, der anerkannte Resudski und dem Sejmmarschall hatte folgenden Verlauf: Pilsudski trat in das Zimmer Daszynskis und fragte, ob der Sejmmarschall die Sigung eröffnen werde oder nicht. Darauf erwiderte Daszynski : Erst dann, wenn die Offiziere das Haus verlassen haben. Marschall Pilsuditi wollte nach dieser Antwort aus dem Zimmer gehen, wurde jedoch durch die Frage Daszynskis zurückgehalten, wer denn die Offiziere in den Sejm beordert habe? Pilsudski antwortete kurz und scharf:„ 3 ch," worauf er fofort auf das Schloß fuhr.
Pitsudsti und seine 100 Offiziere. Er fommandierte sie selbst in den Gejm.
Daszynski war der erste Ministerpräsident der Re publik Polen. Er ist heute, im weißen Haar, der anerkannte Repräsentant der polnischen Sozialdemokratie, die ihn nach ihrem Wahlsieg zum Sejmmarschall vorschlug. Sein würdiges und entschiedenes Auftreten am gestrigen Tag hat den putschlüſternen Offizieren die Gelegenheit genommen, ihr Mütchen an der Boltsvertretung zu fühlen. Desto größer iſt
die Wut der„ Sanatoren",
wie die Macher des Regierungsblocks ironisch genannt werden. Sie