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abran 1. Beilage des Vorwärts

Nr. 545 46. Jahrgang

Vom

C Mittwoch, 20. November 1929

emegericht zum Arbeitsnachweis

FM.

8

...

424

3 AT

halmer

So sieht die berüchtigte Stätte Gartenstraße 98 heute aus.

Man braucht nur nach dem schwärzesten Haus in der Gartenstraße zu suchen, dann findet man die Nummer 98 leicht. Ein Haus, dessen Vergangenheit noch um einige Nüancen düsterer ist als seine Farbe. Da steht der altersschwach gewordene Steinbaukasten und dämmert in unsere Tage hinein. Nur noch das Vorherhaus ist erhalten, der nach Heftaren zählende hof ist heute eine bizarre Spurlandschaft. Zwischen steilen Mietsfajernengiebeln wuchert Gras und meterhohes Unkraut, eine mindschiefe Reihe ausgewaschener Steine kündet, daß hier einmal ein Beg gewesen sein muß, aber die Reihe ist nicht sehr lang, Schutt­und Geröllhaufen decken sie bald zu. Im Hintergrund recken zwei, drei Bäume ihre Aeste über den schwarzgebrannten Sand und ganz rechts will selbst der Efeu nicht mehr der Sonne entgegen, rücklings baumeln seine Ranken über dem Erdboden. Das Ganze bewachen

zwei schwere Eisentore...

Das schwarze Kabinett in der Gartenstraße.

Das Haus Gartenstraße 98( früher trug es die Nr. 160), mar einst das Domizil der Eisengießerei von Rösemann u. Kühnemann. In der ersten Etage des Borderhauses, wo heute ein Buchbinder und ein Tapezierer wohnen, refidierte der Kom­merzienrat Fritz Kühnemann , die Seele des Vereins Berliner Eisen­gießereien. Dieser Kreis der Eifengießereien wurde ihm schnell zu eng und so schuf er den Verband Berliner Metallindustrieller. Und mit diesem das Schwarze Kabinett". Eine Einrichtung, bei Der heute noch den alten Kämpen von damals die Galle überläuft, so oft man davon spricht. Das Schwarze Kabinett" war der be­rüchtigte Arbeitsnachweis des Kühnemänner- Berbandes. Wo es Stockschläge auf den Magen gab, aber keine Arbeit. Wo Herr Frizz Kühnemann feine Mitglieder strikte davor warnte, Stellen burch etwa fich zufällig anbietende Leute zu besetzen". Wo Herr Friz Kühnemann sich ,, höft. gestattete, einer verehrl. Verbandsfirma anbei das neueste Agitatorenverzeichnis zu überreichen", um auf rechte Arbeiter für alle Zeiten brotlos zu machen. Wo er nach der

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プラ

Damals

Roman von

wanHeilbut

1.

Die Buben schossen nach dem Adler am Mast; die Mäd chen tanzten einen Reigen. Die Festwiese, von zertretenen, fterbenden Blumen und von Kuchen und Früchten in Körben duftend, wimmelte von den sommerroten Gesichtern. Der Lehrer Tannenbaum arbeitete sich aufgeregt durch die Menge, er schien dringend men zu suchen. Eine Fahne flatterte über den Platz, die weißen Kleider der Mädchen flogen, Lachen, Rufe, Jauchzen und Kreischen hin und her. Der Lehrer Tannenbaum tickte ein kleines Mädchen von hinten an ihre Schulter:

,, Hast du Esther Rubin nicht gesehen?"

Das kleine Mädchen wurde verwirrt, sie trug dem Tage zu Ehren, an dem die keine norddeutsche Stadt vierhundert Jahre alt ward, eine blauseidne Schärpe. Sofort drängten sich Kinder, ein Dutzend, um den Lehrer her. Der Lehrer Tannenbaum war sehr jung. Er hatte braunblondes Haar, das sich kräuselte.

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,, Esther Rubin geht mit Christine Gast dort hinten bort bei den Buben. Der Lehrer Tannenbaum arbeitete sich zurück. Er lachte; er trug in der Hand einen Strauß von Blumen, der nun ent feßlich abgerauft war. Auch die kleinen Mädchen lachten. Sie waren nicht seine Schülerinnen, denn der Lehrer Tannen­baum gab nur den jüdischen Kindern der kleinen Stadt Unter­richt. Esther Rubin, das wußten alle, mar bis vor einem Jahr bei ihm in der Klasse gewesen Nun war sie über die Schule hinausgewachsen, und der Lehrer Tannenbaum war nur in privatem Unterricht ihr Gesanglehrer noch.

Er traf im Gedränge auf Magda Rubin. ,, Wo ist deine Schwester, Magda?"

"

" Die jüngere oder die ältere?" fragte Magda geziert und versperrte ihm fast das Weiterkommen.

Ich werde sie schon finden, die jüngere," sagte der Lehrer, indem er sich weiter hindurcharbeitete. Leinen mit Fähnchen

"

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ersten Maifeier in Berlin | Herren im Hause", wenn beispielsweise bei einem Konflikt der folgenden Brief an die Polizei Deutsche Metallarbeiterverband auch nur den Versuch machte, zu schrieb: intervenieren, dann schnarrten die Trabanten Kühnemanns ins Telephon: Wir kennen feinen Deutschen Metallarbeiterverband", hängten den Hörer an und feigten sich eins.

" Durch einstimmigen Be­schluß unserer Generalver. fammlung veranlaßt, hat die Vertrauenskommission dem Kgl. Polizeipräsidium 3000 Mark überwiesen mit der Bitte, diese Summe denjenigen Be­amten zuzuführen, die aus Anlaß des 1. Mai über Ge­bühr angestrengt werden mußten und deren tafträffiger Unterstützung wir wertvolle Dienste verdanken."

Worauf der Kgl. Preußi­sche Bolizeipräsident, der Herr v. Richthofen , nichts Eiligeres

"

*

der

zu

Das ,, Schwarze Kabinett" der Kühnemänner ist längst in Staub und Asche versunken. Der berüchtigte Abkehrschein" aus Kriegszeit war der letzte Versuch der Unternehmer, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und nach ihrem Herzen vermitteln" zu können. Auch dies System ist gefallen. Der Arbeitslose unserer Tage geht zum paritätischen Nachweis seiner Fachgruppe und braucht sich feinen Stempel mehr von irgendeinem Femegericht 311 holen. Und wenn er früher ohne Arbeit nicht wußte, woher das tägliche Brot nehmen, dann hat er heute einen unverbrüchlichen Rechtsanspruch auf Unterstützung durch das Reich. Wir sind weit davon entfernt, den. Kummer und die Sorge eines jeden Berliner Erwerbslosen verkleinern zu wollen, aber ein Vergleich mit der Aera des Gottesgnadentums zeigt fimmfällig: die Republif ist nicht mehr der herzlose Obrigkeitsstaat, wo man für einen Arbeitslosen, wenn es hoch fam, allenfalls ein Achselzucken übrig hatte. Erst vor wenigen Wochen haben die Ewiggestrigen in wütenden An­griffen eine Bresche schlagen wollen in das große Hilfswerk für die Arbeitslosen. Daß dieser Plan gründlich danebengelang, ver danken die Arbeitslosen der Sozialdemokratie. deren Macht diesen Abwehrkampf siegreich bestehen ließ.

zu tun hatte, als dankend den Empfang dieser Handsalbe" zu bestätigen und mitzuteilen, daß er 83 Revieren, in deren Bereich man sich erlaubt hatte, den 1. Mai zu feiern, je 36,14 Mark überwiesen hat. Jede Woche wurde eine neue Liste wüfter Agitatoren" zurechtfabriziert und denunziert. Für nichts und wieder nichts wurden Arbeiter brotlos gemacht, geheht und verfemt, die Schlosser:.. sind wegen frechen Benehmens gegen ihren Meister von uns entlassen. Es wird gebeten, dieselben gegebenenfalls von jeder Beschäftigung auszuschließen, resp. eine solche nicht gewähren zu wollen," schrieb die Firma Ludwig Schwerer Ausbruch erwartet.-- Die Umgebung geräumt. Loewe . Oder folgender Wisch, der sich in den Aften des Schwarzen Kabinetts" in der Gartenstraße fand: Der Ar­beiter.... verstößt gegen die guten Sitten, indem er in Gegen­wart der Lehrlinge und anderer Arbeiter in einen Topf urinierte. und gegen den Meister außerdem erklärte, nicht früher als um 7 Uhr zur Arbeit kommen zu können." Derartige Infamien ge­nügten, um den betreffenden Arbeiter für alle Zeiten auf die

Schwarze Liste zu setzen.

Oder wenn die Kühnemänner vollkommen überschnappten und wegen irgendeines belanglosen Konflikts in einer Berliner Eisen­gießerei einfach defretierten: Ab heute sind alle Former, deren Namen mit den Buchstaben A, B, C und D beginnt, ausgesperrt. Dann bekamen die armen A, B, C, D- Former aus Berlin in ganz Deutschland keine Arbeit und manch einer von ihnen wurde gezwungen, seine drei Habfeligkeiten zusammenzupacken und aus­zuwandern. Das waren die Stockschläge auf den Magen, die es im Schwarzen Kabinett" in der Gartenstraße gab, nur keine Arbeit. Es tonnte dreist ein Arbeitsmann beim Umschauhalten" oder Ständelngehen" eine freie Stelle gefunden haben, ehe er den Kittel anziehen konnte, mußte er sich seinen Stempel vom ,, Schwarzen Kabinett" holen. Und um diesen Stempel für alle Zeiten nicht erhalten zu können, dafür genügte, einmal sein Geschäft in einem Nachttopf verrichtet zu haben. Auch der 1902 in der Gormannstraße von dem Vorsitzenden der Landesversicherungs­anstalt Berlin , Dr. Freund, mit tommunaler Unterstützung ins anstalt Berlin , Dr. Freund, mit fommunaler Unterstüßung ins Leben gerufene Arbeitsnachweis konnte das Femegericht der Kühne­männer nicht mattsetzen. Die Berliner Schlofbarone waren die

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Der Mont Pelé droht!

New York , 19. November.

Wie Associated Preß aus Fort de France auf Martinique meldef, ist von den Behörden die Räumung der gesamter Umgebung des Mont Pelé angeordnet worden, da sich neue An­zeichen eines schweren Ausbruches des Bulkans bemerkbar machen.

Erdbeben im öftlichen Nordamerika .

New York , 19. November.

Wie aus Halifax gemeldet wird, sind bei den bereits be richteten schweren Erdstößen, die im ganzen östlichen Küsten­gebiet des nordamerikanischen Kontinents registriert worden sind, die Kabel der Western Union Rabelgesellschaft gebrochen.' Im Hafen von Halifax ist während der Erdstöße eine Spring­flut aufgetreten. In wissenschaftlichen Kreisen vermutet man des­halb, daß der Mittelpunkt des ganzen Bebens im Atlantischen Ozean in der Gegend der kanadischen Küste liegt, und daß es dar­auf zurückzuführen ist, daß der Feisboden des Meeresgrundes ge­rissen ist.

Hamburg , 19. Novem

Am Montag abend wurde auf der hiesigen Hauptstation für Erdbebenforschungen ein sehr heftiges Erdbeben aus 4700. Kilometer Entfernung registriert. Die ersten Wellen trafen hier um 21 Uhr 39 Minuten 57 Sefunden ein.

Tages. Sie hörten die Musik und den Takt der Schritte.

schwankten im Winde, Girlanden hielten ein Schild umwunden:| Garten hinterm Haus, abseits von der Aufregung dieses Willkommen. Eine Mannschaft von Musikern in weißen Anzügen mit Tressen spielte einen Marsch auf Trommeln und Flöten. Der Lehrer Tannenbaum sprach mit sich selbst. Gleich darauf hatte er Esther gefunden. Sie war mit ihren sechzehn Jahren so groß, daß ihr schwarzes Haar und die weißwölbige Stirn über die Köpfe der Menge strahlten. Arm in Arm mit ihr ging Christine Gast.. Sie war mindestens siebenzehn.

Der Lehrer Tannenbaum übergab Esther die Blumen. Sie dankte ernsthaft und wurde rot. Christine aber machte fich unverhüllt lustig, ihre braunen Augen unter dem gold­blonden Haar lachten spöttisch, weil die Blumen so abgerauft waren. Sie ging noch immer mit Esther Arm in Arm.

,, Wann reisen Sie nach Hamburg , Chriftine?" fragte der Lehrer, und ein Ausdruck von Mißmut war auf seiner Stirn, so, als ob er die Abreise wünschte.

,, Bielleicht schon zur Abfahrt mit dem übernächsten Dampfer, der nach drüben geht," sagte Christine. Dann unter hielten die beiden Mädchen sich über die Reise nach Amerifa. Christines Stimme war von Erwartung bewegt. In Argen­ tinien hatten vor Jahren ihre Eltern sich angesiedelt, nun wünschten die Kolonisten ihre Tochter bei sich zu haben, und Christine nahm ihren Wunsch mit Begeisterung auf. Sie hatte fast ein Jahrzehnt lang bei ihrer unverheirateten Tante gewohnt, der sie wie zum eigenen Kinde geworden war.

Der Lehrer Tannenbaum taufte, wo sich nur Gelegen­heit bot. Süßigkeiten für die Mädchen. Er bot sie Christine gleichgültig an, aber Esther sah er dabei in die Augen. Als fie länger als eine halbe Stunde herumgeschlendert waren. wurde er traurig, grüßte mit etwas verzerrtem Gesicht und ging. Esther war davon ein wenig verwirrt, aber als er sich entfernt hatte, lachten fie alle beide über ihn. Denn aller Beiden Gedanken trachteten in die Ferne, und wer in dieser fleinen Stadt sich an sie hängen wollte. um sie an ihrem Flug | in die Weite zu hindern, fiel ihrem Gelächter anheim. Der Adler samt seiner Krone war inzwischen von der Spige heruntergeschossen worden. Es gab einen König unter den Knaben, und man führte ihm seine Königin zu. Die Mufiter in ihren weißen Anzügen mit Treffen fetzten sich an die Spitze des Juges , die Kinder in heller Kleidung folgten, eine lange Reihe von blumenaeschmückten Wanen zog hinter­her, und in den Straßen der Stadt, die der Festzug passierte, standen gestaut die Bürger und Frauen, und nichts entging ihren scharfen Blicken.

Der Viehhändler Jakob Rubin saß mit seiner Frau im

,, Jezt kommt Esther mit Christine Gast vorbei," sagte die Mutter, deren Scheitel zu ergrauen begann ,,, und Magda, sie sind wohl alle im Zug. Wollen wir nicht nach vorne gehen?" Sie gingen vor's Haus und sahen dem hellen Treiben zu. Um Esther braucht uns nicht bange zu sein," sagte der Water, aber Magda in solchem Trubel sich selbst zu über­lassen, das war sehr unrecht von uns." Denn er sah schon Magda, die Blicke umbligen ließ, mit Fähnchen und Blumen geputzt, vornean.

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Ich habe um sie nicht einmal soviel Sorge," sagte die Mutter ,,, als um Rosine . Sie ist in der Küche geblieben, wie immer. Sie ist unsere Aelteste, und sie bekommt gewiß zuletzt einen Mann. Vielleicht," setzte sie noch leiser hinzu ,,, über­haupt nicht."

,, Laß mir Rosine zufrieden, fie gibt auf sich selber acht. Wenn sie ohne Mann bleibt, so wird das bestimmt nicht von denselben Ursachen fommen, wie wenn das Magda passiert."

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Die Mutter seufzte. Sie hatte für Magda schon mehrere Male das Fenster heimlich aufsperren müffen, um ihr weit nach Mitternacht ins Bett zu verhelfen, den Schlüssel zur Haustür hielt dann der alte Rubin im Hut. Aber die Mutter troy allem, hing mit überwiegender Neigung an ihr. Die beiden Alten wintten oft zum Gruß, der Lehrer Tannenbaum tam tief grüßend vorbei. Die Straße war vom Anfang bis zum Ende von diesem Zuge voll, der vorbei­defilierte, und in der Ferne sahen die Eltern schon Esthers Stirn mit dem einfach gescheitelten Haar über der Menge. Aber plötzlich geschah irgendeine Veränderung in der Bewe­gung, es war, als ob einer an den anderen eine Nachricht weitergäbe, die jeden persönlich ins Stocken brachte. Die Leute von den Häusern her famen hinzu, ein Rufen erhob sich, die Musik schwieg still­

Der Erzherzog von Desterreich war ermordet!

Und als ob der Himmel selber die Festlichkeit nun nicht mehr gestatten wollte, erhob sich ein Wind, er wurde zum Sturm, Wolfen trieben über den Himmel. Alles zerstreute fich und der Regen sprang schäumend am Rande der Straßen.

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Der Krieg brach aus, und während das Ganze tadellos funktionierte, tam alles einzelne so vollkommen in Ber­wirrung, daß überhaupt niemand es merkte, wie zerrüttet alles einzelne war: Denn das einzelne starb schweigend unterm Gesetz des ganzen. ( Forts. folgt.)