Beilage
Montag, 25. November 1929
Ertaiser Wilhelm hat einmal die Universitätsprofessoren, die jetzt in der Republik unter dem Schuße der akademischen Lehrfreiheit fich in Angriffen gegen die Staatsform nicht genug tun können, seine ,, wissenschaftliche Garde" genannt. Er verlangte von ihnen in geistigen Dingen die gleiche Treue und Gefolgschaft wie, von seiner Armee. Die ungünstigen Folgen solcher Einstellung der höchsten Spize und der Ministerien auf die Auswahl der Professoren und ouf ihre Forschungsarbeiten konnte nicht ausbleiben und so gediehen in den Naturwissenschaften wohl einzelne Gebiete der reinen theoretischen Forschung, aber die, Wissenschaft von den Beziehungen der Volksgefundheit zur sozialen Umwelt, der enge Zusammenhang zwischen Krankheitsentstehung und Berlauf und der wirtschaftlichen Lage der breiten Massen wurde als heißes Eisen" gemieden und fonnte wissenschaftlich nicht erforscht werden.
Ein Arzt und Privatgelehrter, der auf die staatsgefährlichen Zusammenhänge trotz aller Anfeindungen der offiziellen Gelehrtenschaft hingewiesen hat, ist Alfred Grotjahn , der heute fein 60. Lebensjahr vollendet!
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Grotjahn wurde als Sohn eines Arztes in Wolfenbüttel ge: boren und studierte in Berlin . Er gehört zu den wenigen Akademikern, die sich noch unter dem Sozialistengeset zum Sozialismus befannt haben. Neben seiner ärztlichen Tätigkeit als Berliner Kaffenarzt trieb er zunächst soziologische und volkswirtschaftliche Studien, da er erkannte, daß die Bekämpfung der Volksseuchen nicht allein durch Desinfektionsmittel und Abtötung Der Krankheitsteime möglich ist. sondern daß Zunahme, Verbreitung und Schwinden der Boltskrankheiten eng verflochten ist mit der Beschaffenheit der Wohnungen, der Höhe der Löhne und anderen fozialen Fragen. Er schrieb sein grundlegendes Buch„ Soziale Pathologie und schuf dadurch den modernen Begriff der [ ozialen Hygiene und gab ihm neuen Inhalt.
Die sozialhygienische Wissenschaft ist ein schönes Beispiel, wie der Gedankenkreis der sozialistischen Ideologie auch auf scheinbar fernstehende Wissenschaftsgebiete befruchtend und neu gestaltend gewirft hat. Was Marg und Bebel als Sozialfritifer forderten, wies Grotjahn auf dem Gebiete der medizinischen Wissenschaft nach und wurde so der Theoretiker auf vielen Gebieten der Sozialver ficherung. Sein erst türzlich( gemeinsam mit Goldmann) vom Internationalen Arbettsamt herausgegebenes Wert Die deutsche Sozialversicherung im Lichte der sozialen Hygiene" hat über das von der Sozialversicherung. Geschaffene. Rechnung gelegt und weist in die Zukunft, indem es die sozialhygienischen Aufgaben der Arbeits gemeinschaften der Versicherungsträger umreißt und fortspinnt..
Es würde zu weif führen, auf die zahlreichen Arbeiten Grotjahns über Wandlungen der Boltsernährung", über„ Die Heilstättenbewegung und über Einzelfragen aus der kommunalen Gefundheitsfürsorge, deren Entstehen und Ausbau er nachhaltig gefördert hat, einzugehen. Seine allen Arbeiten gemeinsame Grundtendenz ist die Abkehr von der rein mechanistischen bakteriologischen Auffassung. So beweist er 3. B. schlüssig, daß der Rüdgang der
Tuberkulose nicht den Heilstätten in erster Linie zu danken ist, sondern der Arbeiterbewegung und der von ihr erreichten Hebung der allgemeinen sozialen Lage der Ar= beiterflaffe. Nicht unerwähnt soll ein Gebiet bleiben, das durchaus nicht den Hauptteil feines Schaffens ausmacht, aber ihn in der weiten Deffentlichkeit und besonders in Parteifreisen manchen Anfeindungen ausgesetzt hat und vielfach Ablehnung erfährt. Es ist dies feine Stellung zur Geburtenbeschränkung und zur Bevölkerungspolitift und sein praktischer Vorschlag, durch eine neue Sozialversicherung, die Eltern und Mutterschaftsversicherung", einen Lastenausgleich zwischen den Junggesellen, kinderlosen und finderarmen Familien einerseits und den finderreichen Familien andererseits herbeizuführen.
Der Abend
Shalausgabe des Vorwärts
Es starb ein Emigrant
Dem Gedächtnis Siegmund Kunfis
Bieber ein Opfer der Emigration. Wieder einer, der aus feiner Heimat verjagt und von seinen Proletarierbrüdern meg geriffen wurde. Die wilde Jagd nach den Fadelträgern der soziali. stischen oder freidenkerischen Ideen machte viele tausend Menschen heimatlos. Tausende von Italienern und mehrere zehntausend Russen leben in der Emigration. Aber dieser Terror, ter
fie megjagte, ift eine eindeutige und aufrichtige Tyrannei. Der ungarische Terror dagegen, der von allen Nachkriegsreaktionen sicherlich der jesuitischste und scheinheiligste ist und der im Ausland
Glüd zu wünschen. Denn die Arbeiterbewegung sieht in dem Sozialhygienifer Grotjahn den Bahnbrecher der Bissenschaft, die gezeugt ist aus der Vereinigung ihrer Ideologie mit den naturwissenschaftlichen Ergebnissen der Hygiene!
Gas frißt die Stadt
Bon Hardy Worm
Dr. M.-Br.
Grau liegt der Himmel über der Stadt. Bind tommt und bringt Regen. Und der Wind trommelt gegen Fensterscheiben und Bretterzäune, heult in langezogenen Tönen wie einer, dem der Tod die Hand aufs Haupt legte.
Auf den Straßen stehen die Menschen. Aneinandergepreßt, fröſteind, mit fiebrigen Augen. Stehen vor roten und weißen Betteln, die an vernarbten Häuserwänden kleben, an Plakatfäulen, von Zetteln, die der Regen durchnäßt und der Sturm zerfeßt. Und jeder Zettel, jeder Feßen schreit es hinaus, jeder Lautsprecher brüllt
es hinaus in die Welt:
Mobilmachung!
Krieg! Das Wort friecht die Treppen empor, in die Bohnungen, in die Keller. Krieg! Das Wort schleicht die Straßen entlang, ist ein Tambour, der auf das Kalbfell haut. Krieg! Krieg Krieg! In großen, grauen Gebäuden flopfen Telegraphenapparate. Durch den Aether jagen elektrische Ströme. Aus den Fabriken rollen graue Ungetüme. Auf den Flugpläßen gewittern die Propeller. Nacht sinkt über die Stadt. Aber die Nacht hat tausend Augen. Scheinwerfer tasten über die Himmelsflur.
Durch die Hauptstraßen ergießt sich ein Strom von Menschen. Träge dahinflutend und wieder zurüd. Schritt faßt die Maffe: lints, rechts, lints, rechts. Und singt.
Aus Kaffeehäusern flutet Musit, unruhig, haftend, betäubend. Rauch wogt um summende Lampen. Unter Hüten erblüht das verheißende Lächeln der Frauen.
rasen große, geschlossene Lastautos über den glänzenden Asphalt. Und draußen flutet und stampft und schäumt die Masse. Draußen Große geheimnisvolle Autos fahren in die Nacht. Fahren in die Nacht mit abgeblendeten Lichtern.
Der Morgen.
In großen, grauen Gebäuden tlopfen noch immer die Telegraphen.
Durch den Aether jagen noch immer elettrische Ströme. Auf den Flugplägen gemittern noch immer die Propeller. wölbt sich der Himmel über den Straßen. Aber golden und warm steht die Sonne über der Stadt. Blau wölbt sich der Himmel über den Straßen.
Grotjahn war als Kezer vom Wissenschaftsbetrieb und der Unterstützung, die eine Universitätsstellung und die mit diefer verbundenen Forschungsmöglichkeiten gibt, ausgeschlossen. Seine Beistungen hat er als Privatgelehrter, der wissenschaftlich fruchtbarer war als die meisten Professoren in Amt und Würden, neben der ärztlichen Braris in arbeitsreichen Nächten zustande, gebracht. Erst spät wurde ihm eine gewisse Anerkennung zuteil dadurch, daß er fich kurz vor dem Kriege als Privatdezent gegen größte Widerstände der Berliner Professorenschaft an der Berliner Universität habilifieren konnte. Während des Krieges 1915 bis 1918 mar er als Abteilungsvorsteher im Medizinalamt der Stadt Berlin in der Lage, zahlreiche Unzulänglichkeiten des Ge sundheitswesens im wilhelminischen Berlin aufzudecken, die er nach der Revolution von 1918 bis 1920 als ärztlicher Direktor des Heilstättenantes der Stadt Berlin abstellen konnte. 1920 bis 1924 gehörte er dem Reichstage an. 1920 erlebte er die große Freude, daß für ihn ein Lehrstuhl und Ordinariat der Sozial hygiene an der Universität Berlin errichtet wurde. Leider ist dieser erste sozialhygienische Lehrstuhl für dieses zur Ausbildung der fünftigen Mediziner, deren Tätigkeit in weit überwiegendem Umfange der Sozialversicherung zugute tommen soll, so wichtige Gebiet bis jetzt der einzige geblieben. Die zahlreichen Borstöße der fozialdemokratischen Fraktionen in Preußen und den anderen Länderparlamenten und die Eingaben der Gewerkschaften haben es bisher noch nicht vermocht, in den übrigen deutschen Universitätsstädten die Sozialhygiene zum Lehr- und Prüfungsfach für die Me. Donnernd, in Schwärmen verlassen die Flieger die Stadt. dizinstudenten zu machen. Gratjahns Lehrtätigkeit hat reiche Wohin? Gegen den Feind. Es ist Krieg! Früchte getragen. In zahlreichen Städten wirten seine Schüler als Stadt- und Fürsorgeärzte, als Vertrauensärzte der Krankenkassen Alle Straßen sind leer. Alle Blaze find tot. Alarmsignale und in vielen anderen Arbeitsgebieten, die durch den Ausbau des peitschen die Menschen in die Keller hinab, wo sie nebeneinander öffentlichen Gesundheitswesens und der Einrichtungen der Sozialhocken, behelmt mit der Maste. versicherung gefchaffen wurden. Jin Namen seiner dankharen Bruder, mer bist du? Schüler aus allen Tellen Deutschlands feien Grotjahn zu feinem Man weiß es nicht. 60. Geburtstage herzliche Glückwünsche dargebracht. Wie alt bist du? Man sieht es nicht.
Rich weniger hat die Arbeiterklasse Ursache, diesem Manne, Der auf der Höhe seines Schaffens steht, 31 feinem Geburtstage
Mittag. Da brüllen mit einem Male sämtliche Lautsprecher. Da heulen alle Sirenen. Da raffeln die Trommeln. Krieg!
Stöhnende Rotationsmaschinen speien Bapier. Extrablätter! Tausend Hämmer schmieden die Eisen. Tausend Lügen verpesten die Seelen. Riesengeschüße richten ihre Rohre gegen den Himmel. und vor den Toren der Stadt fressen sich Menschen in die Erde, tief in die Erde. Die Erde ist gut.
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Sind alle gleich. Sind alle häßlich. Sind alles Masten. Und
immer wichtigtuerisch als Ausdruck des konsolidiertesten und vera faffungstreuesten Staates erscheinen will, richtet hier in Mitteleuropa durch mehr als zehn Jahre die furchtbarsten Berwüstungen in der Kultur und unter Kulturmenschen an.
Am Freitag wurde in Wien Dr. Siegmund Kunfi begraben. Er war sicherlich einer der reinsten idealistisch veranlagten und mit glühendem Geist und Herz kämpfenden Revolutionäre.
Alles hat er für sein Ideal, die Befreiung des Proletariats, geopfert und mit seiner hervorragenden Kultur und Intelligenz dafür gekämpft. Natürlich mußte er, um sein Leben zu retten, geheim in der Nacht nach dem Ausland flüchten. Seit zehn Jahren lebte er in Wien als einer der besten Redakteure der Wiener Arbeiter 3eitung". Dort hat er seinen Kampf weitergeführt gegen die ungarische Reaktion, vor feiner Mühe hat er sich gescheut, um auch dem Ausland ein wahres Bild der ungarisch feudalistischen Reaktion zu enthüllen. Aber für seine politische Aktivität war dieses Tätigkeitsfeld zu eng und zu flein.
Biele Jahre hindurch war er ein unentbehrliches Mitglied der ungarischen sozialdemokratischen Parteileitung und 1918 wurde er von König Karl zum Kultusminister ernannt. Während der Räteregierung hat er dieses Ressort eine Zeitlang behalten, aber dann, enttäuscht durch den Kommunismus, niedergelegt. Troß seiner Aktivität in der Emigration war sichtbar, daß er, wie ein mächtiger Baum, der aus seiner heimatlichen Erde herausgerissen wurde, nicht mehr zu sich kommen fonnte. Er hat wie viele Taufende seiner Leidensgenossen gehofft, daß seine bittere Heimat= losigkeit nach zehn Jahren beendet sein werde. Wie diese Tausende, erfuhr er eines Tages, daß die Amnestie nur für zwei bis drei Beute galt. Diese Enttäuschung hat seiner zerrütteten und zermürbten Seele die letzte Kraft geraubt, er starb, und mit ihm iſt einer der besten und unvergeßlichsten Führer der ungarischen Sozialdemokratischen Partei für immer verstummt. Aber sein Tod ist eine lebendige Anflage gegen das jetzige ungarische System. Er wird das ungarische Proletariat anfeuern, im Kampf um Recht und Freiheit auszuharren.
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Michael Biro.
wenn einer stirbt man tennt ihn nicht. Und wenn einer schreit man hört ihn nicht. Hört nur die Paukenschläge des eigenen Herzens.
Aber nicht alle sind in den Kellern. In Stubenkäfigen hoden die Greise und Krüppel, in Stubenterfern hoden die Gebärenden und Kranken.
Durch die leeren Straßen trabt ein Pferd.
Bor den Toren der Stadt bellen die Geschütze. Dumpfheulend faufen Granaten in die Luft. Der Feind ist da.
Woher? Aus dem Blau des himmels taucht er hernieder mi schwarzen Schwingen und dem Donner der Schrauben. Es knallen Rateten. Granaten schlagen nach ihm.
Plöglich: mitten ins Herz der Stadt fiel die erste Bombe..
Glassplitter überschütten die Straße.
Da speit die Erde die Menschen aus. Aus Häusern und Kellern
Die
stürzen sie. Menschen, brüllende, taumelnde Menschen. Ein Mann rast gegen eine Mauer und fällt zu Boden. Eine Frau bricht jammernd ins Knie, blutigen Schaum vor dem Mund. Straße ist übersät mit Masken, die Straße ist übersät mit Menschen, die sich in Krämpfen winden. 3wei paden sich an der Kehle, Mord gier im Blick. Männer bluten ihre Lunge aus, Frauen würgt
Todestrampf.
Wo ist der Feind? Der Feind ist überall. Er triecht durch die Mauerfugen, er schlüpft durch die Schlüssellöcher, durch die Masten bringt er und durch die Haut, frißt Muskeln, Lunge und Herz.
Er frißt die Stadt.
Aus allen Straßen dröhnt der Todeshusten. Die Bäume vers lieren das Laub. Die Vögel fallen tot aus der Luft. Sträucher verwelten. Fische sterben.
Der Mann, der vorhin noch schrieb, Ich bin gesund". liegt zusammengetrümmt, die Beine, ans Kinn gezogen, auf dem Boden. Die Mutter, die vorhin erst einem Kinde das Leben gab, liegt aufgedunsen neben dem Bett, das Neugeborene mit dem Leibe
deckend. ›
sie,
Das Kind, das eben noch spielte, verröchelt.
Auf dem Fluß schwimmen die Leichen. Auf den Straßen liegen in den Häusern.
Bestwolle über der Stadt. Und Schweigen.
Menschenkinder aus aller Welt
Jedes Kind sehnt sich danach, Abenteuer zu erleben. Es tommt auf seine Phantasie, auf sein Temperament, auf die Entwicklung feines Geistes an, wo und wie es diese Abenteuer, dieses Neue. Wunderbare erhofft. In einem bestimmten Alter hat die Sehnsucht nach dem Abenteuer wohl bei der Mehrzahl der Kinder eine Richtung. Es ist das Verlangen in die Ferne, das in den Entwicklungsjahren im Kinde oft so mächtig wird. Die Kinder stürzen sich auf Reisebücher. Nun hat Anna Siemsen der Jugend ein Buch geschenkt, das mit diesem Erlebnistrieb rechnet, und das doch so ganz anders ist als die übliche Jugendliteratur Denn dieses Buch Menschen und Menschenkinder aus aller Welt" ( Urania Berlagsgesellschaft Jena) ist nicht für die Jugend" ge ( Urania Verlagsgesellschaft Jena) ist nicht für die Jugend" geschrieben; es ist nur für sie zusammengestellt aus Berfen befter Schriftsteller. Jack London , Marim Gorfi, der von Romain Rolland entdeckte Grieche Panait Istrati und viele andere sind in diesem Buch vertreten, das die Welt und ihre Menschen der Jugend in wahrhaftigen Bildern vorführt.
Auch ein Stück findlichen Abenteuerverlangens spiegelt sich in dem Buch„ Die rote Kinderrepublir", das im Arbeiterjugendverlag erschienen ist. Aber das ist ein Buch reiner Freude, ein luftiges Kinderbilderbuch für die Sechs- und Zwölfjährigen. Die Kinder aus dem sommerlichen Zeltlager der Roten Falken haben es geschrieben; illustriert ist es mit zahlreichen Photographien, die ebenso wie die Beiträge den übermütigen Frohsinn wiederspiegeln, der in diesem proletarischen Kinderparadies Seekamp herrschte.
Tes.