7tr, 5&5* 46. Jahrgang
± Beilage des Vorwärts
Sonnabend, 44. Dezember 4 929
Lageplan der Siemens* Bahn.
Gestern fand für Vertreter der Bchördcn, der Reichsbahn und Oer Prisse eine Besichtigungsfahrt auf der neuen Zweigbahn Iungfarnheid«— Gartenfeld statt. Wie wir bereits im „Absild" mitteilten, findet; die Inbetriebnahme der neuen Arbeiterlinie am 18. Dezember statt. Der An- und Abtransport der Belegschaft der Siemens. Werke — üb« 60 000 Personen— bedeutet eine derartige Spitzenbelastung d« Verkehrsmittel, daß trotz der in der Nachkriegszeit vorgenommenen Verbesserung der Straßen und Straßendahn- anlagen unerträgliche Beförderungsverhältnisse besonders im Winter entstanden waren. Eine erhebliche Derbesserui� durch- w« teren Ausbau dir vorhandenen Verkehrsmittel war nicht meist möglich. Die von den Siemens-Werken in eigener Regie im Einver- nehmen mit der Reichsbahn erbaute Bahn zweigt in direkter nord- «estlicher Richtung aus dem Bahnhof Iungfernheidc des Nordnngs ab. lieber die weitere Linienführung der Bahn, deren Ciseakonftruttionen überall einen freundlichen blauen Anstrich auf- weisen, haben wir bereits kurz berichtet. Noch Norden abschwen- kend, erreicht die Bahn nach einer zweiten lleberkreuzung der Spree an der Grenze der Bezirksämter Charlottenburg und Spandau das Gelände der Siemens-Werke. Hier ist eine große Brücke mit zwei Oeffmingen von 52 und 70 Meter Spannweite geschlagen worden, die den geplanten Durchstich von der Spree zum Westhafen für die Weiterführung des Mittellandkanals nach
Berlin und der damit hier notwendig«' Anlage einer großen Schleuse und der Verlegung des F'.ußlaufes Rechnung trägt. Ein 800 Meter langer eiserner Brückenzug führt über da» Werksgelände und die Straß«, hinweg zu d« geplanten Hauptverkehrsstraße, dem Holtzdarnm, der die Seestratz« mit der lltonnendammallee m Siemensstadt verbinden soll. In diesen Viakrnkt ist der Bahnhof„W ernerwerk* eingebaut. Der nächst« Bahnhof —„S i« m e n s st a d t'— liegt über dem Rohrdomm und besitzt ebenso wie„Wenwrwerk" zwei Ausgänge, ckon den-" dT westliche in gleicher Weis« für den Berufsverkehr aus dem in im- mittelbarer Nähe gelegenen Hauptverwaltungsgebäiide, dem Schalt- werk mit dein Hochhaus Und dem Dynamowerk eingerichtet ist. Nach dem Verlassen dieses Bahnhofs senken sich die Gleise allmählich, UM- fahren einen großen Abstellbahnhof, auf dam die für die Ver- dichtung des Berufsverkehrs erforderlichen Züge aus- und wieder cingosetzt werden und der durch aus zwei je 50 Meter hohen Masten aufgestellte Scheinwerfer beleuchtet wird, und münden in Straßenhöhe im Endbahnhof Gartenfeld. Den erforderlichen T r i e b st r o m der etwa 4,7 Kilometer langen Bahn liefert ein am Bahnhof Sicmcnsstadt erbautes Gleichrichterwerk nach Um- wandümg des vom Hauptscholtmerk Halensce kommenden hoch- gespannten Drehstroms. Die Fertigstellung der neuen Linie, die insgesamt einen K o st e n- aufwand von rnnd 14 Millionen Mark erforderte, wird von den
Siemens-Arbeitern und Angestellten sehr begrüßt. Die er- holungsbedürftige Bevölkerung des Nordwestens wird die neue elektrische Bahn dazu benutzen können, auf schnellstem Wege zu dem schönen städtischen Volkspark Jungfernhcide zu gelangen. Schalldach plötzlich gestorben. Bei der Vernehmung tot zusammengebrochen. Der volksparteiliche Stadtverordnete und Leiter der Berliner Anschaffungsgesellschaft, Lbermagistratsrat S ch a l l d a ch, ist gestern nachmittag bei einer Vernetz- mung durch den Difziplinarkommissar Dr. Tnpolski von einem Herzschlag betroffen worden. Ober- magistratsrat Schalldach, gegen den im Zusammenhang mit der Sklarek-Affare ein Disziplinarverfahren einge- leitet worden war, war am gestrigen Freitag abermals von Lberregiernngsrat Dr. Tapolski zur Vernehmung geladen worden. Gegen 18 Uhr, als die Vernehmung nur etwa drei Minuten im Gange war und Obermngistratsrat Schalldach sich zu einigen Fragen geäußert hatte, sank erplöhlich, von einem Herzschlaggetroffe«, leblos«m. Im Oberpräsidium und im Amtszimmer des Oberregierungs- rats Dr. Tapolski rief der jähe Tod des Obermagistratsrats eine begreifliche Cregung hervor. Man benachrichtigte einen Arzt, der nur noch den Tod konstatieren konnte, und vmn Ober- Präsidium aus wurde dann der Magistrat von dem bedauerlichen Vorfall in Kenntnis gesetzt. Obermagistratsrat Schalldach befand sich im Alter von etwa 50 Jahren. Wie Dr. Tapolski erklärt, bot die gestrige Vernehmung keinerlei Anlaß für«ine besondere Erregung des Obermagistratsrats Schalldach. Der Geladene hatte sich, da man am Ansang der Vernehmung war, erst in einigen kurzen Sätzen zu den zur Erörterung stehenden Punkten geäußert, als er plötzlich mit der Hand nach der Brust griff und vom Stuhl sank, lieber den Stand des bisherigen llntersiichungsverfahrens erklärte Dr. Tapolski nicht in der Lage zu fein, sich äußern zu können-, er betonte ab«, daß gegen Obermagistratsrat Schalldach keinerlei persönliche Vorwürfe in der Richtung bestanden hätten, daß er etwa, wie andere in die Stlarek-Afsäre verwickelte Personen, Gelder angenommen Hab«. Nach einer WTV.-Meldung soll das Disziplinarverfahren gegen Schalldach bereits vor der Niederschlagung gestanden haben, da sich herausgestellt haben soll, daß an Schalldach die 1000 Mark, die man ihm anfangs als Bestechungsgelder zur Last legte auf Be> schluß des Aufsichtsrats mit Wissen de» Ob erb ärger- meisters Böß gezahlt morden waren. Nächste Siadtverordnetenfitzung am IS. Dezember. Der Altersvorsteher der Stadtverordnetenversammlung, Genosse Tempel, hat die nächste Sitzung der Stadtverordnetenverfomm- lung auf Donnerstag, den 19. Dezember, einberufen. Auf der Tagesordnung steht zunächst die Wahl des Stadt- ver ordneten Vorstehers und dreier Stellvertreter, dann die Wahl der sechs Beisitzer und ihrer Stellvertreter. Es folgen die Wahlen für die ständigen Ausschüsse usw. Anschließend enthalt die Tagesordnung die der Stadtverordnetenversammlung zugegangenen neuen Vorlagen und zum Schluß 2 3 Anträge, die die Fraktionen der Versammlung neu gestellt haben.
Die Ziehung der Arbeiterwohlsahrls-Lollerie ist in der nächsten Woche am 18. und 19. Dezember. Lose sind in der Buchhandlung Dietz, Lindenstraße 3, und in den Verkauf»- stellen der Konstmig«wssenischast, Oranienplatz und Reinickendorfer Straße zu I>abeii.
Sie saßen nach dem Abendessen unter den prachtvollen Kronleuchter am Tisch. Sie sprachen nichts, sie waren einzeln für sich beschäftigt. Nicht etwa als ob er arbeitete, cr las höchstens ein belletristisches Buch— zu arbeiten pflegte er nie- mals hier, sie wußte eigentlich nie, was ihn innerlich beschäfti- gen mochte. In früherer Zeit, als er mit ihr stritt, war sie sein Gegner gewesen, kurz: seine Frau. Aber nun saß cr da, in den Sessel gelehnt und den Kops gebeugt; vom Kriege her war der Scheitel kahl, vom Tragen des Helms. Das Kind lag im Bett. Nein, das war ihr durchaus nicht recht, daß er sich so verschloß. Wäre�cs wenigstens Trotz gewesen und irgendein Angriff in diesem Schweigen! Aber er war höflich und freund- lich und lebte sein Leben eben allein, ohne sie. So ging es also auch, er bewies es ihr ja. Sie seufzte. Sosort sah er sekundlich zu ihr hinüber.„Bald beginnt der Winter und bringt Abwechslung mit sich. Dann kommen aus Hohenau deine Verwandten und du bist nicht mehr so allein." Er las weiter. Aber mit großen Augen starrte sie ihn an. Das sagte er also so einfach, so offen: Und du bist nicht mehr so allein... Als ob dies Leben, das sie hier führte, selbst- verständlich und eine Notwendigkeit wäre! Nein, sie konnte nicht umhin, sie mußte ihn fragen... „Erwartest du nicht mit Ungeduld deine Eltern?" gab er etwas verwundert zur Antwort. „Ich halle das nicht mehr aus," rief sie heftig. „Ich bitte dich, wirf mir nicht vor, daß ich schuldig b'n— ich weiß, daß ich's bin." „Du?" fragte sie ungläubig. „Ja. ja," sagte er,„ich habe unter der ersten Haut noch eine zweite und dritte erwartet; und unsichtbar, versteckt, aber darum nicht weniger realisierbar, habe ich ein Wesen in dir vermutet, das zu meinem gehörte. Wen trifft also die Schuld? Mich allein. Aber Verzeihung, ich wollte davon nicht reden." „Du hast ja wenigstens dem Kind," sägte sie lächelnd, und
war etwas fahl,„in dem Kinde kannst du ja das Wesen lieben, das zu deinem gehört." „Mein Kind," sagte er leise, er betont das„mein", und diese Vetonnung ist wie eine Frage. „Ja deines: denn mir wird es nie gehören." Er sieht sie an.„Dann wird es keinem von uns gehören. Daß es mir nicht gehören soll, dafür wird gesorgt." Sie schweigt und wird rot. Seine Stimme ist klar, dabei leise und kalt; auch sein Gesicht, auf das Buch gerichtet, ist kalt und klar wie von Stein. „Das Kind hat die braunen Augen," sagt sie,„die Augen von dir." „Und es hört die Lieder, die ich verachte, und du ernährst es mit deiner Milch. Während ich Arbeit verrichte für seine Zukunft— auch die Zukunft meines Kindes schützt meine Ar- beit, wenn sie die folgenden Generationen schützt— indes hört mein.Kind, was fein Vater verachtet." „Das Kind ist noch klein und ich singe die Lieder, weil ich sie immer gesungen habe." „Ja, so..." Es klingt müde, als habe er sich wieder auf den Vorsatz besonnen. Er liest. „Ich glaube," sagt sie, halb gereizt und halb zur Ver- jöhnung gewillt,„meine Jugend, meine Erziehung, mein ganzes Leben sollt' ich vergessen, um alles noch einmal sehen «zu lernen, von dir?" Er schweigt. Dann entschließt er sich und gibt ihr doch eine Antwort. „Von der Zeit solltest du lernen wie ich. Aber du scheinst zu denken, es handele sich um eine Vormachtsfrage, wer nach dem anderen sich zu richten habe, du oder ich. Du empfindest nicht, daß, wer nicht mit dem lebendigen Leben sich wandelt, schon rettungslos in der Agonie liegt." „So laß mich doch wie ich bin, wenn es keine Vormachts- frage ist." „Ja, ich lasse dich ja, wie du bist." Er liest werter. Sie schweigt. Dann: „Üebrigens— hat sich denn das Leben gewandelt? Als ich letzthin in Hohenau war, und das friedlich geordnete Leben dort sah. da verstand ich so gut. daß es nur daran hängt, ob alles in sicheren Bahnen läuft. Das ist eben das Unglück deiner Anschauung, daß sie keine Ueberlieferung kennt. Bei uns auf Hohenau lernen die Kinder von den Eltern, wem sie Respekt und Gehorsam schulden. Sie bleiben bei ihren alten Sitten, ja, bei ihren allen Liedern; dabei tut jeder seine Arbeit und findet jeder sein Brot und alle bleiben vor Erschütterungen und Wunden bewahrt. Was du„mit dem lebendigen Leben
sich wandeln" nennst, das ist am Ende doch nie etwas anderes gewesen, als ein Nachlaufen hinter dem Rattenfänger, die Dummheit reißt die Dummen ins Unglück, die Klu-gen werden init hmeingerissen, und die verblendeten Mitläufer danken am Ende dem Himmel, wenn sie noch mit heiler Haut zu den alten Zuständen zurückkehren dürfen." Er schweigt. Dann sagt er:„Hohenau ist nicht die Well. Das soziale Glück oder Elend der Menschen dort ist in die Hand eines einzigen Menschen gegeben. Ist er gut, der Herr, so ist alles gut. Hohenau ist ein Gemeinwesen, aber ein kleines. La kann ein Herr noch sein Land überblicken, er kann durch die Fenster den Leuten in die Stuben sehen, und wenn er gut ist—" „Und wäre er nicht gut— übrigens, was du unter ,gut' verstehst—" „Ja, was verstehst du denn darunter?" „Es wäre weit besser für die Leute selber, sie ertrügen ihren Herrn, auch wenn er nicht„gut" ist, als daß sie sich alle Jahre einmal empörten. Ich weiß wirklich nicht, ob mein Vater in deinem Sinne denn gut ist.. „Ja. ich weiß es auch nicht. Ich kenne Hohenau nicht." „Aber die Leute befinden sich olle dort wohl, zufrieden und gesund— und dabei kann es sein, daß mein Vater nicht „gut" ist. Ein Herr kann überhaupt nicht„gut" sein!" ruft sie aus. „Oder, es kann ja auch sein", sagte er ruhig,„daß sie in Hohenau »och schlafen." „So laß sie doch schlafen", ruft sie heftig,„warum weckst du sie denn?" „Nicht so laut", sagt er lächelnd,„du weckst sie— aus Angst, sie könnten erwachen— selber noch auf." „Ich sage dir nur, sie sind glücklich dabei." „Es gibt verschiedene Arten von Glück. Auch Hunde können ein Glück empfinden." „Die Leute auf Hohenau tragen ihre Pflicht mit Freude und Stolz. Das sind keine Hunde." „Um so besser", sagte cr;„laß uns doch von Hohenau nicht mehr reden, ich kenne es ebensowenig wie du etwa Berlin ." Sie ist stumm, und da sie ihn ansieht, fährt cr fort:„Du findest dich in ewigen Straßen zurecht, du bist auf einigen Gesellschaften gewesen, aber daß du von Herz und Gehirn dieser Stadt, von dem neuen Puls dieser Gegenwart eine Ahnung erlebt hast— möchtest du das behaupten?" „Mir sagt mein Instinkt— dies neue ist Wahnsiun." (Fortsetzung folgt.)