Nr. 593• 46. Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
Oonnerstag. 49. Dezember 4929
Aufräumen hinter dem Alex
Im Zusammenhang mit dem Bau de? Untergrundbahn Alexonderplotz-. Lichtenberg wird nicht nur der Alexanderplay vollständig um- gestalte?, sondern auch da« uord» ostwärts von ihm sich er» streckende Straßengebiet einschneidend geändert. Die vom Alexanderplatz zur Großen Frank- furter Straße hinführende neue Durchbruchstraße. die den Unter- grundbahntunnel aufnimmt, schafft auch für den Straßenverkehr ein« er- wünschte Bresche. Für den Stadtteil. dessen zurückgeblieben« Entwicklung jetzt einen kräs igen Anstoß empfängt, ist in absehbarer Zeit zu erwarten, daß man unter seinen veraltet«» Ge- bäuden stark ausräumen wird. Was für Häuser dort sich noch erholten konnten, zeigt das Haus an der Ecke der Landsberger und der Kurzen Straße, von dem wir ein Bild bringen. Die Kurze Straß« entstand im Jahr« 1690, als östlich der damals schon zum Teil bebauten Landsberg «? Straße die Bebauung fortzuschreiten begann. Aber das setzt noch stehend« Haus Eck« Landsberger und Kurze Straß«, da» dem» nächst abgerissen wird, dürfte schwerlich bis in die Zeit um ISSO zurückreichen. Als Querstraße der Landsberger Straße wurd« dl« neu« Straß« durch Gärten hindurchgelegt. Den Namen Kurz« Straße, den man ihr damals gab, hat st« bi« auf den heutigen Tag behalten. Dagegen mußte die Baumgasse und die Sandgoste, die beiden der Landsberger Straße parallel laufenden und von der Kurzen Straße j
geschnittenen Weg«, die damals gleichfall» bebaut wurden, in neuerer Zeit sich umtaufen lassen in Elisabethstraße(ISA, noch der Gattin de» Kronprinzen und späteren Königs Friedrich Wilhelm IV. ) und in Kaiserstraße(ISIS, zu„Ehren" des Kaisers von Rußland , des Bundesgenossen Preußens in den Freiheitskriegen). Heut« wird bei Straßenumbenennungen über„Mangel an geschichtlichem Sinn" geschrien.
Drei Gefangnisbeamie verhastet. UnregelmSßiz leiten im llntersuchvngsge ängniS Moabit . Gestern wurden drei Zuflizoberwochlmeister. die im Unterfuchungsgcsäugni» Moabit tätig sind, fest- genommen. Es wird ihnen vorgeworfen, sich seil längerer Zeit gröblich gegen die Dienstvorschriften ver- gangen zu haben. Seit anderthalb Jahren saß in Moabit ein Konsortium von drei Betrügern in Untersuchungshaft E » scheint ihnen gelungen zu sein, mit den beaufsichtigenden Justizoderwachtmeistern in«in derartig freundschaftliches Berhöllnis zu kommen, daß dies« ihnen entgegen den Vorschriften alle möglichen Freiheiten ge- statteten. Einem von ihnen sollen die verhafteten Ausgeh, c r lau buk» ohne Beaufsichtigung verschafft haben, so daß es dem Schevwdler mögllch war. neu« Betrügereien amzu- führen, durch dt« o«rlchi«dene Geschäftsleute geschädigt wurden. Außerdem ist den Uakerfuchungsgefaugenen durch die Rachläfsigkei! der Beamten der Abschluß von Renawekleu ermöglicht worden, ja. e, soll im Uatersuchuugsgefäogni, geradezu eine Renawettzcntrale bestanden haben, bei der auch die festgenommeneu Beamten Ein- sähe machten. Weiterhin sind den Gefangenen mu Hllfe der setzt verhasteten Aufseher wiederholt Palet « unter Umgehung de: vor»
geschriebenen Kontrolle zugeleitet worden, Di« drei verhafteten Beamten werden zurzeit von der Krimlnalpvlizel vernommen. Sie werden'heute dem vernehmungsrichter im Palizeiprästdimn zugeführt werden. Bei der Unt«?tuchung der Vorfälle, die Kriminalkommisiar Walter Müller anstellt«, hat stch noch etwas andere» heraus- gestellt. An den Zellen der ilntersuchungsgefangenen befinden sich Schlösser, die dem Mcdell 1905 angehören. Es hat sich gezeigt, daß j diese Schlösser, wenn sie nur einmal geschlosien werden, ohne groß«' Mühe von außen mit Hilfe einer Gabel zu öffnen sind. Den Kai- faktoren— es sind dies Gefangene, die von der Aufsichtsbehörde mft Hilssaufträgen zur Entlastung der Beamten betraut werden— war es so möglich, mit einem«infachen Draht die Schlösier der Zellen zu öffnen und den Gefangenen Gelegenheit zu gegen- sei ti gen Besuchen und vertraulichen Aussprachen zu geben.
Das Ltrteil im Totschlagsprozeß. Da» Landgericht III verurtellt« den LSjähngen Marian Przybulfki. de? am 27. Juni dieses Jahre» die Obsthöndlerin Johanna Sänger in ihrem Laden Schönstraße 91 in Weißen» fee während eines Raub Überfalles mit einem Stein den Schädel zertrümmerte, wegen schweren Raubes mit Todeeerfolg und schweren Diebstahls zu zwölf Jahren drei Monaten Zuchthau».
Die Angeklagten Sch. und M, wurden wegen schweren Diebstahls zu fech» bzw. zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Ueber die Höh« der Strafe für den 22jährigen Przybulski soll in diesem Augenblick nicht gerechtet werden. Der Bater de» jungen Menschen, der während des Sachverständigengutachtens herz erschütternd schluchzte, konnte einem von ganzem Herzen leid tu» Dr. Dyrenfurch sogt« aber mit Recht: die sozial« Entwurzelung des Angeklagten begann in dem Augenblick, als die Mutte? ihn wegen seiner Arbeitslosigkeit aus dem Haufe jagte. Wer die Zuchthäuser im Bezirk Brandenburg , wie sie heute leider noch sind, kennt, und wer die Gerichtsverhandlung miterlebt hat. wird für diesen fungen Menschen beim preußischen Justizministerium mit gutem Tc- wissen eine Umwandlung der Zuchthausstrafe in eine Gefängnisstrofe befürworten. Winterbeihilfe für Notleidende. Heute haben die Stadtverordneten zn beschließen lleber die noch iv der allea Skadkverordnelenversammluug beantragt« Gewährung einer besonderen Winlerbelhilse für Rokleidendc soll tu der neuen Skadtverordneteuversammlnng heule entschieden werden. Die Anträge der Sozialdemokraten und der Kommunisten' wurden damals, wie die Gefchäflsordnvng es vorschreibt, dem Aus- fchuß für Angelegenheiten der Erwerbslosen überwiesen. Der Ausschuß beschloß im November, den Ankrag der Sozial- demokralen zur Anaahme zu empfehlen. Dieser Antrag lanlel: Die Stadtverordnetenversammlung ersucht den Magistrat. Mittel bereitzustelle« für die Gewährung von Minterbel- Hilfen la höhe der vorjährigen für alle llaterflühung«. empsönger einschließlich Erwerbslose. In der heutigen Stadtverordnetensitzung wird der Ausschuß über seine Verhandlungen berichten, und die Versammlung wird dann nach einer zweiten Beratung zu beschließen haben. Zu Beginn der Sitzung muß aber die neue Stadtoerordnetenversamm' lung sich erst konstituieren und ihren Vorstand wählen, was be< Zettelwahl nicht wenig Zeit in Anspruch nimmt, Das Schlußkapitel der Langkopp-Affäre. Der Farmer Heinrich Longkopp ist vom Reichsentschäöi- gungsamt mft seinen sämtlichen Schadenersatzansprüchen abgewiesen worden, e» wird von chm auch die Zurückzahlung der bereits erhaltenen Entschädigungsbeträge von Insgesamt 9009 M. verlangt. Gleichzeitig wird Langlopp erössnet, daß gegen ihn der tz 16 des Kriegsschadenschlußgesetzes, der anläßlich der Landkopp-Uffär« in da» Gesetz aufgenommen worden ist. in Anwendung gebracht werden wird. Die Gründe berufen sich auf das Urteil des Schöffengerichts Schöneberg , durch da» Langkopp zu 5 Monaten Gefängnis mit Bewährungsfrist verurteilt worden ist. Durch dieses infolge Zurück- nahm« der Berufungen rechtskräftig gewordene Urteil des Schöffengerichts sei der Tatbestand des Zwanges und der un- lauteren Mittel, die§ 16 voraussetzt, erfüllt. Langkopp Hab« am 2. März 1928 dem stellvertretenden Präsidenten, Geheimrat B«ch>n,! mit Erschießen gedroht und ferner die Drohung ausgestoßen, daß er da» Reichsentschädigungsamt in die Lust sprenge« werde, wenn ihm nicht sofort 100900 Mark ousgezahlt würben Daraus ergäbe stch schon ollein für Langkopp die Verpflichtung, all« bisher empf<m- genen Entschädigungsleistungen zurückzuerstatten. Gegen die Langkopp angedrohten Zwangsmaßnahmen hat Rechtsanwalt Dr. Frey ein Gesuch an da» Entschädigungsamt gerichtet,«>s besonderen Billigkeitsgründen Langkopp die Rückerstat- tungspslicht der 9000 Mark zu erlassen.
An einem Sonntag, vor Msttagszeit. kommt er wieder am Gut von Prerows vorbei. Er ist auf dem RückriU nach Hause begriffen. Da begegnet ihm wieder Kunos Schwester mit den Waldtierschritten und rehhaften Augen. Cr steigt vom Pferd, sie begleitet ihn, sie plaudert fort; er und das Pferd sind ihre guten Freunde, nur etwa» schweigsam sind diese Freunde. So kommen sie aufs Gebiet des Grafen von Küster, zuerst zwischen Feldern, dann über Weiden : hinter Häufern und Hütten beginnt der Park. „Da wohnt der Melker", sagt Kuno» Schwester. Sie gehen an einer Hütte vorbei. „Ja", sagt Hans, und sieht gar nicht hin; er ist in Ge- danken wahrscheinlich wo anders. „Das Kind", sagt das Mädchen,„ist noch immer da." „Welches Kind", sagt Hans, und sieht sie nun an. „Das sie damals fanden." . Wo fanden?" fragt Hans. Sie deutet zum Park.„Da. am Herrenhaus." Hans ist stehen geblieben, sein Schwarzer steht still. Da hält auch das Mädchen und sieht chn an. „Welches Kind denn", sagt Hans- nun wieder. „Den Findling, der da an der Treppe lag. in dem wollenen Tuch." „So. ja", sagt Hans. ,.ia. der Findling, ia. ia... „Was ist denn?" fragt das Mädchen schüchtern; Hans tut Schritte rückwärts urid hält sich am Zaumzeug. „Es ist he'ß, ich bin durstig, ich reite nach Haus." Er tut den Fuß in den Bügel und will hinauf, aber er steht Nicht fest auf dem Bein. „Das Pferd", sagt er.„zittert. Was hat denn da»..- ja. und wann war das doch gleich, als man damals das Kind, diesen Findling... fand.. „Zwei Wochen später bist du gekommen .. So— ja. Zwei Wochen?— ja." Mit einemmal sitzt er im Sattel.„Adjüs." Er reitet. Sie sieht ihm noch nach. Aber da— wird sein Pferd ihm nicht scheu? Es Wringt in mächtigen Sätzen zur Seite, dann wieder gradau»,
dann wendet es um, greift gewaltig aus und sprengt im Bogen. Da merkt sie. er tut das aus Spaß, nur für sie. Und sie freut sich, sieht zu: bis das Pferd verschwindet, hinter einer Baumgruppe verschwindet das Pferd. Sie sieht lächelnd zu und geht ihres Weges- Hans kommt bei den Melkersleuten herein. In einer Kiste, die eine Wiege bedeutet, sieht er ein Kind. Es ist Sonntag. Die Melkersleut« sitzen am Tisch. In den Stuben hier, heißt es. giebt's Ungeziefer. Der junze Herr Graf hat das vieusicht veraessen. Die Melkersleute hören zu essen auf. Sie halten die Löffel noch steif in den Händen. «Guten Tag", sagt Hans,„ich Hab Durst: bitte Wasser." Di« Frau springt schon auf, auch die Tochter springt auf. Niemand kommt auf den Gedanken, zu fragen, warum Herr von Küster wohl nicht weiter geritten ist, knapp einen Kilo» meter. um im Schloß zu trinken? Bor der Hütt« das Pferd sieht herein. Hans trinkt und setzt ab.„Was ist das?" Und er trinkt, deutet dabei mit dem Fuß nach der Kiste.„Richtig, ich weiß schon, der Findling, was?— Ist das der Findling?" „Ia". sagt der Melker,„dat is der Findling. Herr Graf." „Wie alt ist er denn?" fragt Hans, und er trinkt. „Oder", hastig,„am Ende ein Mädchen?" „Ein Junge, Herr Graf. Und wo alt dat i»— na, Modder, dat können wir selber»ich sagen. Wat meinst du wol— wo alt fall hei nu wol sin?" .Laßt mal sehen", sagt Hans,„es lag auf der Trepp«, auf Hohenau, was?" „Ia. am Schloß", sagt die Frau und geht an die Kiste. Da« Kind liegt unter einem grauwollnen Tuch. ..Und die Mutter—?" fragt Hans. Der Melker lacht:„Nie gemeldet. Herr Graf. — Wir haben ihn nach dem Herrn Grafen genannt." Die Frau hat da» Kind aus der Kiste gehoben. Es be- ginnt zu schreien, denn es hat geschlafen. Sie trägt es ihm hin...Ja, wir nennen ihn Hans." Er hält es in Händen. unter oen Achseln, das drückt die kleinen Schultern nach oben, da» Kind sieht ihn an und es schreit nicht mehr. „Es mag den Herrn Grafen , sagt die Tochter, mtt» freut stch oeswegen. „Dat s'n bullen Kirl". sagt der Melker ertlärend,.Lei lacht blout immer, hei lackst uns wat ut." „Ia", sagt die Frau,„er lacht immerzu, er ist bestimmt lachend auf die West gekommen." ,J)ans", sagt Hans. Dann fährt er zusammen.„Dies Kind", sagt Hans,„dies Kind soll— legt es wteder in fem« Wiege." Cr hält es der Melkersfrau hin.„Adiüs."— Bon draußen ruft er zurück:„Bielen Dank für da» Wasser:"
Aber als er nach Hohenau zurückkam, gab es da auf einmal an allen Enden Bewegung. Und das kam daher, daß Irene reisen wollte: sie wollte mit ihrem Kind nach Berlin . Die Plötzlichkeit ihres Entschlusses tonnte allen nur höchst verwunderlich sein. War es so, daß ein Einfall mit hr spielte sind sie mit sich fortriß? Bor allem die Gräfin and diese Slbreise laut zu beklagen, denn nun würde es um te her still werden wie früher, st« würde des Umgangs mit ihrer Tochter und, was viel schlimmer noch war, mit dem Enkel beraubt sein. Dieser Enkel war ein strotzender Kerl. er konnte schon tüchtige Schreie ausstoßen: aber dann konnte er wieder ganz stille, ja. geheimnisvoll still sein, und dem Großen nur in die Augen sehen, der eben mit ihm spielte, und es sah dann aus, als dächte er etwas überaus Wichtiges, das er aber verschweigen wollte. Es gab außer der Gräfin noch ander« Menschen. Menschen, die vielmehr für jede Mi- nute des Tages ihre überaus dringenden Geschäfte kannten — die aber für solch zärtliches lustiges Spiel mit dem Kleinen vieles im Stich gelassen hätten. Da war zum Beispiel der aste de Eastrv in Berlin , und was in Hohenau die Groß» mutier weinen machte, das war für ihn Aussicht auf kost» bare Stunden. Auf die Bitten ihrer Mutter hatte Iren« nur immer die Antwort, sie wüßte jetzt deutlich den ihr zuge» wiesenen Platz In der West, und dort wollte sie sein. Es war, als hätte sie völlig den Crimd vergessen, der sie von senem Platz hatte fliehen lassen, und als hätten die trüben Er- innerungen, welche die Gräfin in ihr wachrief, keine Kraft über sie. Dabei sagte sie nicht, ob sie nun onders von Albert dachte als vorher; sie sagt« nur, sie müsse zurück. Und so reiste sie mit dem Kind« ab. Hans ritt umher, langsamen Schritt. Er kam an die Hütte der Melkersleute, hiell an und blieb lauschend im Sattel vorgebeugt. Er sah diesmal nicht einmal in die Scheiben hinein. Heute war er eben nicht durstig, und so ritt er vorbei. Aber am Nachmittag sah er, vom Herrenhaus aus, feine Mutter allein durch den Park spazieren. Er geht langsam die Treppe zum Garten hinunter, aber unten be- sinnt er sich und kehrt um. Bor Monaten hat er einmal begonnen, das Schloß, vom Teich«ms gesehen, zu malen. Die» Bild trägt er au« seinem Zimmer in» Freie.— Spkter steht er am Teich und malt. „Du malst", sagt die Gräfin und steht neben ihm und sieht zu. „Nur um die Zeil totzuschlagen", sagt Hans,„was soll man sonst tun...?" Seine Mutter seufzt. Vielleicht steigt in ihr«in« Bewegung auf: sebenfall» will st« weitergehen. (Fsrtsstzimg MtzM