Beilage
Donnerstag, 19. Dezember 1929.
Der Abend
Shidausgabe am Vorvȧre
Die Erziehung wird erforscht
Ein internationales Inftitut für Erziehungswiffenschaft
Der Individualismus als Besensmertmal wissenschaftlicher| notwendig fein werden. Zunächst hat man damit begonnen, einziehungswissenschaften gerade in Braunschweig entstanden ist, da Arbeit wird bald einer vergangenen Geschichtsphase angehören und Gebiet, das sich in einem Kreis von etwa 200 kilometer hier schon im Jahre 1927 die Bolksschullehrerbildung an die Hochmit ihm wird jenes ungesunde Uebermaß an ipetu.ativer Grund- Durchmesser um die Stadt Braunschweig erstrect, schule verlegt wurde, wo sie in vorbildlicher Weise durchgeführt wird. haltung in den Kulturwissenschaften verschwinden. Die Zukunft durch eine Kommission von Pädagogen, Psychologen, Medizinern, Dieser erste Schritt war schon ein deutlicher Beweis für den Geist, gehört der bewußt gewollten und gut organisierten Rollettivarbeit. Geologen und Sozialwissenschaftlern untersuchen zu lassen. Jedes der in bezug auf Pädagogif in diesem Land herrscht. Braunschweig Die vielen kleinen wissenschaftlichen Arbeitsstätten, die gewöhnlich Dorf, jede kleinste Ansiedlung wird berücksichtigt. Später soll die begnügt sich übrigens nicht allein mit der Boltsschullehrerbildung: die nur aus einem Leiter und wenigen Hilfskräften bestehen, müssen Untersuchungszone systematisch erweitert werden, so daß einmal eine Berufsschullehrerbildung ist damit schon in Verbindung sich- ähnlich wie die technischen und kaufmännischen Kleinbetriebe Art pädagogische Landtarte von Deutschland ent- gebracht und das letzte zu erstrebende Ziel ist die einheitliche zu Trusts verbinden, um ihre Aufgaben mit größeren Mitteln, Lehrerbildung. Hiermit ist die ideale Grundlage für die zahlreicheren Hilfskräften und leistungsfähigeren Spezialisten nach wahre Einheitsschule geschaffen. größeren Plänen als bisher durchzuführen. Neue Arbeitsstätten der wissenschaftlichen Forschung dürfen nur errichtet werden, wenn sie Großbetriebe darstellen, in denen eine Hierarchie von Gelehrten und wissenschaftlichen Hilfskräften tätig sein kann.
Solcher Erkenntnis verdankt das von der sozialdemokratischen Regierung des Landes Braunschweig ins Leben gerufene internationale Forschungsinstitut für Erziehungswissenschaffen seine Entstehung. Es handelt sich um die Gründung einer wissenschaftlichen Arbeitsstätte, die die Augen der Welt auf sich ziehen wird. Denn dieses Forschungsinstitut ist in Europa einzigartig. Es steht unter der Leitung von Prof. Dr. Riefel, dem Ordinarius für Erziehungswissenschaft an der Technischen Hochschule zu Braunschweig . Untergebracht ist es in einem der sehens würdigsten Gebäudekomplege der Stadt. Ein großer Empirebau wird von zwei Nebengebäuden. flantiert, und hinter ihm erstreckt sich ein weiter Part in englischem Stil. Fraglos, ein würdiger Rahmen für ein Institut, das sich als höchstes Ziel gesteckt hat, allgemein wichtige Aufgaben auf erziehungswissenschaftlichem Gebiet nicht bloß im eigenen nationalen Kulturkreis, sondern im Hinblid auf die Erziehungs- und Schulformen der ganzen Welt zu lösen. Der sehr große Stab der Mitarbeiter setzt sich vorwiegend aus akademisch gebildeten Kräften zusammen. Ausländer sind berufen worden, um hier die pädagogischen Probleme ihrer Länder zu bearbeiten. So wird ein Chinese eine Untersuchung leber das pädagogische Gedantengut in den altchinesischen Schriften" durch führen, und ein Inder ist mit der Untersuchung ,, leber die Erziehungsziele und schulpolitischen Forderungen der GhandiBewegung beauftragt worden. Besonders eng gestaltet sich die Zu fammenarbeit mit den französischen Lehrern. Das Referat Frankreichs des Forschungsinstituts beteiligt sich an einer von der französischen Lehrerorganisation in Angriff genommenen Enquete über die Einstellung der französischen Jugend zur Idee des Bölkerbundes und der französisch- deutschen Zusammenarbeit. Eine ähn liche Enquete foll auch in Deutschland unter Mitarbeit des Forschungsinstituts durchgeführt werden. Ferner find folgende wichtigen Aufgaben schon in Angriff genommen:
Eine Untersuchung über die Behandlung der neuesten Geschichte in den Schulen der größeren Kulturstaaten. Eine Untersuchung über Jugendgerichtsbarkeit und Jugendstrafvollzug in England.
stehen wird, auf der man an Stelle der Höhenschichten und Fluß läufe die Intelligenzstufen und Konstitutionstypen aufgezeichnet finden wird. Das Institut, das sich bei diesen Untersuchungen auf die Mitarbeit der gesamten deutschen Lehrerschaft stügt Profeffor Rietel ist Mitglied der erziehungswissenschaftlichen Hauptstelle des deutschen Lehrervereins-, sucht durch seine Länderreferate auch die Lehrer der Deutschland benachbarten Staaten zur Inangriffnahme ähnlicher Forschungen zu bewegen.
Es ist tein bloßer Zufall, daß das Forschungsinstitut für Er
Man schreibt uns:
Es ist bemerkenswert, daß der Ausbildung der Berufsschul lehrer und Boltsschullehrer eine andere Bildungsidee als bisher zugrunde gelegt ist: Die fünftigen Lehrer sollen die Lebenswelt des werftätigen Voltes tennen und in ihrer Bildungsarbeit beachten. Eine Durchbrechung des Bildungsprivilegs foll in Braunschweig möglich gemacht werden: An der Technischen Hochschule in Braunschweig wurde die erste Professur für Schulreform" errichtet, die dem früheren Berliner Stadtschulrat Paulsen übertragen wurde; seine Pläne über die Umgestaltung des braunschweigischen Schulwesens im sozialen Sinne haben großes Auffehen erregt. Der Neuköllner Rektor Jenssen wirkt an der Technischen Hochschule Braunschweig als Professor für praktische Pädagogif. Dem früheren Leiter der Bolkshochschule Berlin Dr. Geiger wurde eine Profeffur für Soziologie übertragen.
Den frönenden Abschluß dieser Schulreform bildete die Grünbung des internationalen Forschungsinstitutes für Erziehungswissen schaften. Der sozialdemokratische Kultusminister Sievers, der braunschweigische Landtag, die von einer sozialdemokratischen Mehrheit geführte Stadtverordnetenversammlung und nicht zuletzt auch die Technische Hochschule Braunschweig find Träger dieses großzügig aufgebauten Kulturwerts. Der mehr als 15 000 Mitglieder zählende Deutsche Lehrerverein unterstützt das Institut mit großen Geldbeträgen und hat seinen ersten Vorsitzenden in den Borstand der Stiftung, auf der das Institut aufgebaut ist, delegiert
Möge das, was Braunschweig für die Erziehung fünftiger Generationen schuf, ein Beispiel und eine Empfehlung für zielM. L. bewußte sozialdemokratische Kulturpolitik werden.
So war es früher!
Auch eine Antwort an Frau Meyer
Liebe Frau Mener, Sie schimpfen auf die heutige Jugend, Ste fagen, sie sei ungezogen, entbehr: jeder Sitte, Zucht und Ordnung. Eine Untersuchung über die von der Großindustrie ge- Frau Meyer, haben Sie denn vergessen, daß Sie auch mal fchaffenen Bildungseinrichtungen für Arbeit. nehmer in den europäischen Großstaaten( Dintainftitutung waren? Ich bin ein Berliner Junge und schon dreißig Jahre aus der Schule, daraus können Sie ersehen, wie alt ich unund dergleichen). gefähr bin. Sie schreien nach Abhilfe und meinen, der Prügelstock und die Bibel wären das Allheilmittel. Beides habe ich leider in ausgedehntem Maße an mir felber in meiner Kindheit zu spüren betommen, aber glauben Sie, Frau Meyer, wir waren damals Engel? Soll ich Ihnen von meiner Kindheit erzählen?
Eine Untersuchung über das Fürsorgewesen in Italien . Außerdem werden Schulbücher gesammelt und auf ihren Inhalt hin geprüft, d. h. inwiefern besonders Geschichts- und Lesebücher Einfluß in politischer bzw. meltanschaulicher Weise auszuüben
fuchen. Die wichtigsten pädagogischen Zeitschriften des In- und Auslandes werden gehalten und Tageszeitungen auf ihre pädago. gisch michtigen Auffäße und Notizen hin durchgelesen. Parlaments berichte und ministerielle. Verfügungen, die sich auf Erziehungsund Schulfragen beziehen, werden gesammelt und bearbeitet.
Das Forschungsinstitut gliedert sich in zwei Abteilungen, in eine für Länderreferate und eine für Sachreferate. In der erstgenannten Abteilung sind folgende Referate bereits eingerichtet
worden:
3. England und Dominions.
4. Bereinigte Staaten.
5. Spanien und Lateinamerika .
6. Nordische Länder.
7. Rußland.
9. Balfanländer.
Die beiden Abteilungen arbeiten naturgemäß Hand in Hand. In der Abteilung für Länderreferate werden in der Hauptsache die Schulprogramme der wichtigsten Kulturstaaten geprüft, während sich die Abteilung für Sachreferate mit den einzelnen Schultypen beschäftigt.
Aufbauend auf der Ergebnissen der modernen Jugendpsychologie und der psychophysischen Konstitutionsforschung hat das Braunfchweiger Institut mit der Durchführung einer Untersuchung begonnen, durch die die Bedeutung von Boden, Klima, Wirtschaftsform, Verkehrsverhältnissen und sozialer Lebensform für die pädagogische Analyse der Persönlichkeitsstruktur und des Intelligenzgrades erwiesen werden soll. In der Leitung des Forschungsinstituts rechnet man damit, daß für diese Untersuchung viele Jahrzehnte
Bater, der auch gedient hatte, starb sehr früh. Ich war taum fieben Jahre alt und Mutter mußte, um uns drei zu ernähren, von morgens früh bis in die späte Nacht sitzen und Mäntel nähen. Dabei verdiente sie taum das farge Brot. Als ich zehn Jahre alt war, unterstützte ich Mutter und ging morgens um 4% Uhr in eine Bäckerei Frühstück austragen", wie man früher sagte. Was das heißt, im Winter bei Wind und Wetter Trepp auf Trepp ab mit einer fleinen Petroleumlaterne in der Hand, Frau Meyer, ich glaube, das haben Sie nicht kennen gelernt und werden es wohl schwer begreifen.
Unausgeschlafen und unaufmertfam ging es dann in die Schule und die Lehrer, die dafür kein Berständnis hatten, griffen zum Stnd: bei jeder Kleinigkeit setzte es Prügel, manchmal so reichlich, daß sich Mutter erbarmte und mir im Hosenboden einen dicken Flick einsetzte, der die Wucht der Hiebe abschwächte, Prügeln war ja damals die Hauptsache in der Schule. Eine befondere Unfitte der Lehrer war es, mit dem Stock auf dem Rücker. durch die Bankreihen zu gehen, ganz glöglich irgendeine Frage stellen und beim Richtbeantworten faufte der Stod unbarmherzig auf den Rücken. War das schön, Frau Meyer? Ist das die richtige Erziehung?
War die Schule aus und das tärgliche Mittagsmahl eingenommen, ging es auf die zweite Stelle zum Zeitungsaus tragen. Dann wurden die Schularbeiten gemacht, und Muttern mußten noch Nähnadeln eingefädelt werden. Blieb vann noch Zeit, ging es auf die Straße. Haben wir da getoll und getobt! In unserer Nähe war eine Seifenfabrit. Dort, in den großen Fett- und Teerfässern haber, wir 3ed und Bersted gespielt. Mir sahen wie, die Mohren aus, ein Lärmen und ein Geschrei haben wir vollführt, das war eine Luft! Dann ging's auf die Höfe, die Treppen und Hausflure, immer mit dem nötigen Spettafel. Und die Portierfrau mit dem Austlopfer immer hinterdrein! Eine Freude war es uns, die Alte zu ärgern: jawohl, damals, Frau Mener trotz Prügel und Bibel! Auch Fensterscheiben gingen manchmal dabei in Trünmer. Du lieber Gott fein Mensch hat je erfahren, wer es war. Dann wurden Klinken geputzt". Wissen Sie, was das ist, Frau Meyer? Die Klinken der Ladentüren wurden heruntergedrückt die Lucentür weit aufgerissen, irgend etwas hineingeschrien und fort war die ganze Bande: ausgerückt. Oder wir haben ein Portemonnaie an einem dünnen schwarzen Faden befestigt und es dann auf den ja, Kuchen, Bürgersteig gelegt. Ram einer und wollte es aufheben dann haben wir es schnell weggezogen und die ganze Blafe hat gelacht. Ja ja, Frau Meyer, wir waren damals auch„ rüdig", wie der Berliner fagt. Man kann nicht sagen, die heutige Jugend ist schlechter.
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Jst nicht heute vieles beffer? Bo gibt es noch Kinderarbeit. Wo wird noch geprügelt? Die heutige Jugend hat es besser und mir wollen wünschen, daß es noch viel besser wird, daß sie nicht die traurige Kindheit und Jugend durchzumachen braucht, die die meisten Proletarierfinder damals durchmachen mußten.
Ein Erziehungsbuch
Es ist noch nicht lange her, da galt es als unfittlich und anstößig, über das Segualproblem öffentlich zu diskutieren. Die Literatur über die feruelle Frage war spärlich vertreten und brang taum in die Deffentlichkeit( und wenn sie es tat, murde sie mit jener furchtsamen Geheimnisträmerei von Hand zu Hand gegeben, die durch den Anreiz des Unerlaubten auf Jugendliche und nicht nur auf Jugendliche ver derblich wirten mußte). Heute ist das anders, wenn auch die Konfisfation der Werke Hodanns zeigte, daß gemisse Instanzen sich noch immer nicht von ihrer Zipfelmüze trennen können. In Zeitschriften und Tageszeitungen wird das Problem mit erfreulichem Mut disku iert. Weite Kreise der Elternschaft beschäftigen sich ernsthaft mit dem Problem der Aufklärung. Selbst in der Schule ist das Sexualproblem nicht mehr so tabu wie früher. Man beginnt eine falsche Scham, eine gerade vom Erziehungsstandpuntt gefährliche Prüderie zu überwinden.
Die Serualforschung ist durch diesen Durchbruch in die Deffentlich leit auf das glücklichste befruchtet worden. Sie ist im Verein mit der psychoanalytischen Wissenschaft ein gut Stück weiter gekommen. Die Gefahr lag nahe, daß ein gewisser wissenschaftlicher Uebereifer, wie das bei jungen Wissenschaftszweigen häufig der Fall ist, das Problem der Sexualität zu sehr in den Mittelpunkt aller Lebenserscheinungen stellte. In dem im Univerfitasverlag erschienenen Werk ,, Segualerziehung, der Weg durch Natürlichkeit zur neuen Moral" von Magnus Hirschfeld und Ewald Bohm ist dieser Fehler im allgemeinen vermieden worden. Das Wert gibt eigentlich mehr als der Titel verspricht. Es ist teine trodene Ab handlung über die sexuelle Frage und die Frage der sexuellen Aufflärung, sondern in seinem ersten Teil ein Lebenswegweiser für Eltern, Erzieher und die Jugend, in dem alle Fragen einer gefunden und frohen Lebensgestaltung durchgesprochen werden. Erst der zweite Teil behandelt die sexuelle Erziehung im befonderen.
Dabei ist die Sprache flar verständlich und den notwendigen wissenschaftlichen Fachausbrüden ist eine Erklärung beigegeben, so daß die Schrift auch für die breite Masse lesbar ist. Sie ist es um so mehr, als sie sich bei aller Gelehrtheit doch von ieder trockenen Gelehrsamkeit fernhält. Die Sprache erinnert ar jene englischen Philosophen, denen daran lag, über die abstrakte Ertenntris hinaus eine Gesinnung zu vermitteln und jedem einzelnen den Willen zur freudigen Lebensbejahung mit auf den Weg zu geben. So ist es auch hier: eine starte Gesinnung spricht aus diesen Blättern und überträgt sich auf den Lefer. Indem gesagt wird. wie die Jugend zu erziehen ist, wird gleichzeitig gefagt, welche Richtung jener einzelne seinem Leben gehen soll: aus dem Erzieher ist ein Erzogener geworden, wenn man das Buch aus der Hand legt. Man fann es jedem Bater, jeder Mutter und jedem Erziehungsberechtigten auf den Weihnachtstisch wünschen. Vor allem aber sollten es jene Eltern lesen, die bisher ihren Kindern gegenüber die falsche Scheu vor der Aufklärung nicht überwinden konnten. Das Buch wird fie umstimmen und ihnen ein Helfer sein. h. 1.