7tr. 67* 47. Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
Gonniag, 9. Febrnor 1930
Vor kaum zwei Stmiden h<u sich der vergangene Tag, betrauert van den einen und verwünschl von den anderen, auf dem harten l* Haster Berlins zur Ruhe gabeltet. Zu jener Ruh«, die für eine Viermillionenstadt zum leeren Wonfpiel geworden ist, denn während ihm noch hundert Jazzkapellen zum Wiegenlied aufspielen, meldet der jung« Tag schon sein Konrmen an: druckfrische Zeitungen flattern an jede Wohnnngstür, fleißige Besen stauben das vor- schmutzte Kleid der Strotzen aus und in die entlegenste Seitengasse rumpelt Karren um Karren, den Frühstücksti-sch der Großstadt zu decken. Oer Zug des Schweigens. Vu Lichter des kleinen Borstodibahichofs brauchen erst gar nicht angezündet zu werden, wenn in der vierten Morgen stund« dos schwerfällige cholztar geöffnet und jeder Torflügel an di« Wand gekettet wird, um zweiundzwanzig Stunden long einem nie oersiegenden Mmschenstrom den Weg frei zu geben, denn die Lichter brennen schon seit de» gestrigen Stunden der Wenddämmerung. Mit seinem Licht nimmt sich dieser Bahnsteig allerdings im in« noch wie eine Oase aus. die eingab ertet zwischen Mietskasernen und Fabrikhäfen liegt. Rechen im Frühnebel ölig schillernder Straßenlaternen bezeichnen spärlich den Weg, der durch das Laby. rinch der Häuserblocks zu chr führt. Da und dart leuchten im milden Rot der Petroleumlampen Viereck« an den pechschwarzen Häuser- wanden aus: man blickt in Küchanfenster, mo sich Männer waschen, Frauen aw Herd hantieren und zwischendurch strampelnde Kinder wieder zudecken. Tropsenweis und vereinzelt kommen die ersten Fähige Üe und suchen mit verichlosenen Augen das Dunkel nach dem Aufblitzen der Zuglichter des ersten Uollriogs in Richtung Skralau-Rummeisburg ah. Um 4 Uhr und 13 Minuten läuft der am Bahnhof-Wedding ein. um einen Platz braucht keinem bonge fein und ehe man es recht gewahr wurde, sind die roten-Schluß- lampen des letzten Wagens hüuer. einer Gieisbiegung verschwunden. Zc näher die Uhr ans sieben rückt, desto kürzer werden die Strecken. die die einzelnen Reisende» mitfahren, und da es eben erst vier geschlagen hat. sind wir im Zuge derjenigen, die den längsten Weg zu ihrer ArbeUsstätie haben. In keinem Abteil wird auch nur ein einziges Wort gesprocheu. obwohl manch« schon Jahr und Jahr den gleichen Weg miteinander machen, zwei Dritteln sind die Augen zugesallen, nur ein Dreißigjähriger wischt mit dem Aermel seines immer noch lebenden Soldatenmantels die Fensterscheibe ab und starrt auf den hellen Schein, den der Zug aus dem Nebengleis mit sich führt. Noch ein paar Minuten, und der erste Pollring dieses Morgens geHort der Vergangenheit an: der eigentliche Frühverkehr beginnt.
Hastig«erden die Türen auseinandergeschoben, ein schwarzes Loch hat sich ausgeton und di« eisig« Kölle des Januarmorgens prallt mit der stickigen Wärme des überfüllten Waggons zusammen. aber im Bruchteil cwer Sekunde hoben sich beide geeinigt: die warme Luft wirbelt oben hinaus und verdichler sich zu einer weißen Dampftoolke. die kalte Luft schlägt unten hinein und kriecht den Fahrgästen in die Hosenbeine. Aus dem undurchdringlichen Dunkel tauchen zwei Gestalten auf und drängen in das Wteil. doch so sehr sie sich umsehen, es ist kein SIhpwh mehr da. sie sind von den Pankowern, die noch Tempelhof und von den Reinickendorfern, die nach Niederschönewcide fahren, schon aus dem Gesundbrunnen be> schlagnahmt worden.� So bleibt keine andere Wahl, als im Stehen
Verbrannte Mitgliedsbücher der KpO. „Alis" Komplizen verhastet. Der Polizeipräsident teilt mit: Im weitere» Berfmis der Ermittlungen zu dem Usberfall aus den Studenten Wessel wurden dem Pelchüldigten Höhler die Peröffentlichungei» in der .Molen Fahne" vorgelegt. Höhlcr Hut darauf seine bisherigen Angaben erheblich erweitert, was dazu führte, daß am gestrigen Tage der Funktionär der Roten Hilfe, Hermann Schmidt, seine Ehefrau Luis« sowie sein« Tochter Käthe Schmidt fest- genommen wurden. Nach den Angaben Höhlers ist er zunächst mit seinem MIktäl«„Erwin" in die Wohnung de» Schmidt in der Rosenlhaler Straße geflüchtet, mo sofort d!« sämtlichen Papier «. unter anderem auch die Parteimilglieüsbücher und die Ausweise .der Sturmabteilung sowohl von„Ali" alz euch von„Erwin" zer- rissen und verbrannt wurden. Durch Vermittlung der Käthe Schmidt wurden„Cbrtvm" und„Ali" am nächsten Tage mit dem Auto des Sander und des Will abgeholt und nach Glienick « gebracht. Die Einleitung des Weitertransports nach Prag ist durch den Partei- angestellten und Funktionär der Roten Hilfe, Gottwald M e u tz. vvrgeboniwejf tsordeu. Meuß ist flüchtig Und konnte bisher nicht ergriffen werden.'Da sämtliche Festgenommenen geständig sind,''werkieb sie im Lall sc des heutigen Tages dem Der- nchmungsrichlcr zugeführt.
Hastbefehle des Vernehmungsrichters. Der Rernehmungsrichtcr beim Polizeipräsidium hat wegen des Verdachts der Begünstigung h a s t b e s c h l gegen die Verleger Wilhelm Sonder und Theodor will au» Frohnau , gegen Viktor D r e w n I ß k i vnd den Angestellten der Roten Hilfe Hermann Schmidt und besten Ehefrau Luise, sowie seine Tochter Käthe ertasten, da Fluchtverdacht und ver- dunke luvgsgcsohr begründet erscheint.
noch schnell ein Nickerchen zu machen, cm schönes Nickerchen ist das, die linke Hand an der Messingstange, die rechte Hand hält die Stullentasche. Der«ine versucht zu rauchen, aber nach wenigen Zügen fallen ihm die Augen zu und das Pfeifchen mit dem ab- gebrochenen und wieder angeflickten Mundstück erlischt. Da haben es die auf den Bänken bester, die kömien nicht nur die Augen schließen, sondern dürfen auch den Kopf nach vorn sinken lassen. ohne fürchten zu müssen, von der Bank zu kegeln. Em kleiner Dicker, der die Hände nicht wie die anderen gefaltet, sondern einzeln auf die prallen Schenkel gelegt hat, ist sogar an seilten Nebenmann gefallen und ruht mit dem Kops an desten Schulter. Weil das geschehen ist, kann der wieder den rechten Arn, nicht richtig bewegen und keine neue Seite der Sportbeilage des gestrigen Aliendblatts, zu desten Lektüre er erst heut« morgen kommt, auf- schlagen und da die dichten Reihen der vor ihm stehenden Männer ohnedies das Licht ver-dunreln, gibt er das ganze Lesen auf und steckt das Blatt wieder in die Mantellasche. Dann sitzt«wer in der Ecke, der staunt inuner, wenn der Zug über eine Weich« fährt und dos elektrische Licht verlöscht, dann guckt er an die Deck« und paßt auf. wenn die kleinen Notlampen für zwei Sekunden in ihre,» motten Schein ausglühen. Aber der Spaß dauert nicht lang«. sofort wird es wieder hell und indem sein Blick das Gepäcknetz ab- sucht, überlegt er wohl, ob er sich noch am Freitag abend die Hagre ichneiden laßt ader erst Somwbend mittag und daß Adolf«in Qualfchkops ist, so viel Geld für die alte Laube auszugeben oder daß er jedesmal seiner Frau zu sogen vergißt, er will keine Mettwurst mehr aus die Stull«, sie soll doch einmal Leberwurst taufen. Fahrplanrötsel.
■ So rollt Bahnhof auf Bahnhof ' oorbdi, niemand schaut zsim Fenster hinaus und achtet auf die. Stationsnomen. Trotzdem das gar nicht so einfach ist, frühmorgens— die Uhr zeigt gerade 6 Uhr 5 Minuten— mit dem Vollring um Berlin zu fahren. Denn auf dem Bahnhof Schönhauser Allee da war unser Zug noch ein au?- gewachsener Vollring, der, wie es sich gehört, über Stralau-Rummeis- burg nach dem Potsdamer Ringbahnhos sährt, aber in Treptow hat man sich scheinbar eines anderen besonnen und ihn nach Pape- straße dirigiert. Aus das Kommando„Alles aussteigen!" klettern wir also in Papestraße aus diesem halbierten Vollring, halsen schnell nach den Gebäuden des Bezirkskannnankms seligen Angedenkens Ausschau und steigen in einen Südring über Stadtbahn. Wer das stimmt auch wieder nicht ganz, denn in Halens«« ist der
Mitiw Axetwfa
Eine Gestalt eilte von der Straße ins Haus hinein. Es war der neue Baron in Rock und Zylinder. Er rannte hier- hin und dorchin und inspizierte die nerschiedenen Tätigkeiten seiner Angestellten. Durchs Speisezimmer stapsend, visitierte er die Speisekammer und fragte atemlos, ob dies und jenes geschickt worden sei, kostete die Weine, die in Korbflaschen angekommen waren, erteilte Befehle und zog sie wieder zurück, brüllle die Dienstboten an, stürzte wieder aus dem Haus und warf sich in den bereitstehenden Wagen, um davon- zurasea und sich zu überzeugen, ob das bestellte Feuerwerk auch rechtzeitig fertig sein werde. Dann kam eine Prozession von Männern mit Ehampagner- kisten und Kisten mit Port- und Bordeauxweinen, mit Bier- fässern. unzähligen Körben voll Lebensmittel und ebenso vielen Konservenbüchsen. Truthähne und junge Ferkel, ein Viertel Kalb und Hunderte von Eiern landeten in Mirandas Haus, und jedes Fensterbrett war mit Pfannen und Töpfen noll Kompott. Puddings und Gebäck gefüllt, die man zum Abkühlen an die Lust gestellt hatte. Aber die Hausbewohner konnten chr Interesse nicht un- geteilt diesen Vorbereitungen widmen, denn in der Nähe gingen wichtigere Dinge vor. Domingos war während der Nacht verschwunden, und ein treuer junger Mann stand jetzt hinter Ioao Romaos Ladentisch. Als der ehrenwerte Wirt über den Vorfall befragt wurde. runzelte er die Stirn und meinte:„Was habe ich denn über« Haupt damit zu tun? Er ist fort, ich weiß nicht, wohin. Glaubt chr etwa, ich werde hinter chm herjagen und chn am Schlaf' rtchen zurückschleppen''" „Aber Sie haben doch gesagt. Sic bürgen für chn", erinnerte chn die alte Marcianna, die in diesen vierundzwanzig Stunden um zehn Jahre gealtert schien. .Iber der Halunke ist mir doch ausgerückt. Was kann ich da tun? Ihr müßt Geduld haben." -La. dann werde ich mich wohl mit dem Geld zufneden Sebsv müssen." „Mit Geld— mit was für Geld, bist du betrunken?" „Mit den, Geld, das Sie versprochen haben. Sie Geier.
Einer taugt ebensowenig wie der ander«. Aber ich werd's euch schon zeigen." „Mach jetzt mal, daß du fortkommst und laß mich endlich in Ruhe." lind Ioao Romao drehte ihr den Rücken zu und sprach mit Bortoleza, die hinzugekommen war. „Wart nur, du Schnst", schrie die Alle und hob drohend die Hand,„Gott wird mich und meine Tochter rächen." Aber der Hauswirt blieb gegen ihre Drohungen gleich- gültig und ging davon. Die anderen Weiber waren nicht mehr so aufgeregtuvie am Tag zuvor. Die Sache war bereits von gestern und hatte daher den Reiz der Neuheit verloren. Marciamta ging mit ihrer Tochter auf die Polizei, kehrte aber enlmutigt zurück. Man hatte ihr gesagt, daß nichts zu tun sei, che man den Schuldigen nicht gesaßt hätte. Die beiden waren den ganzen Tag aus den Beinen, liefen zu ver- schiedenen öffentlichen Aemtern. zum Staatsanwalt und zum Advokaten, die sich aber alle kaum mit ihnen abgaben, als sie merkten, wie wenig die alte Frau für einen Prozeß gegen den erst aufzufindenden Dan Juan zahlen konnte. Als sie, von Müdigkeit und Hitze erschöpft, nach Hause kamen, hatten die Nachbarn schon beinah chr Tagewerk be» end'gi Die Händler, die in Sao Romao wohnten, kehrten nacheinander mit leeren Körben oder mit den Ueberresten der Früchte, di« sie nicht hotten verkaufen können, heim. Mar- cianna war so wütend, daß sie nichts sagte, bis sie Flarinda wieder geschlagen hatte, worauf sie Tür vnd Fenster aufriß. zwei Eimer Wasser holte und sie wie eine Besessene über den Boden goß. -„Hol' einen Besen!" kreischte sie.„Hilf mir diesen Schweinestall säubern. Mir schemt, ich krieg die Wohnung nie mehr rein. Wenn die Fenster eine Stunde geschlossen sind, stinkt? zum Gotterbarmen. Mach schnell, sonst kriegen wir noch alle die Pest." lind als sie merkte, daß Florinda weinte:„Ach, jetzt tut's dir leid und du heulst— schade nur. daß du das nicht vorher unter den Mangobäumen gewußt hast." Die Tocktter schluchzt«. „üatts Maul, nichtswürdige Person, hast du verstanden? Halts Maul!" Flortnda weinte lauter. „Also du willst weinen, ja? Ra, dann sollst du wenig- stens e'nen Grund zum Weinen haben." Die Alte rannte in die Küche, host««inen Hofzknüypel und schlug damit auf Florinda los, die nach dem ersten Schlag in den Hof hinunter zum Tor hinaus auf die Straße floh und verschwand. Niemand konnte sie aufholten, und von den
Wannen her erhob sich ein Geschrei wie von Hühnern auf der Stange. Marcianna lief ans Portal, suchte und rief in heller Ausregung. Dann, als sie begriff, daß ihre Tochter sie verlassen hatte, streckte sie die Arme gen Himmel, starrte ins Leere und fing an zu weinen. Die Tränen liefen ihr verrunzeltes Gesicht herunter und schienen die Wut, die in chr getobt hatte, forfzumoschen: jetzt war sie nur noch eine bejammernswerte, gebrochene alte Frau, eine ihres einzigen Kindes beraubte, tiefgebeugte Mutter. „Aber wo kann sie nur sein?" schluchzte sie.„Wo ist sie nur hin?"' „Ja, Sic haben sie doch fest gestern ununterbrochen ge- schlagen" erwiderte Rita.„Jetzt ist sie Ihnen fortgerannt. und sie hat recht getan. Das Mädel ist doch aus Fleisch und Blut und nicht aus Eisen." „Ah, meine Tochter!" „Ja. ja, jetzt ist sie Ihre Tochter. �„Schade daß S'e da» vergessen haben, als Sie sie prügelten." Kein Mensch schien viel Mitleid mit Marcianna zu baben. außer der alten Negerin, die hinging und sich, ohne ein Wort zu sprechen, aber mit traurigen Blicken aus ihre untröstliche Freundin, neben sie vor die Tür setzte.?lus ein- mal aber riß sich Marcianna aus ihrer dumpfen Betäubung heraus, sprang auf und rannte mit hocherhobenen Armen und fliegendem. Schwarzhaar ins Hmterzimmer von Ioao Romaos Lokal. „Dieser verdammte Portugiese ist an allem schuld. Sei verflucht, du Dieb! Wenn du nicht für meine Tochter ein- stehst, werde ich dein Haus in Brand letzten." „Ein düsteres Lächeln spielte einen Augenblick auf dem Gesicht der Hexe, als sie diese letzten Worte hörte. Der Budiker erschien auf der Schwelle und b-lahl Mar- cianna, Numnier zwölf zu räumen..Vnd ein bißchen plöft- lich. verstanden? Ich habe es satt, dich hier länger herum- schreien zu hören. Mach, daß du rauskommst. oder ich hol die Wache und laß deine Sachen herauswerfen. Heut nacht darfst du noch bleiben, aber morgen— raus!" Er war den ganzen Tag schlechter Laune gewesen. Mehr als einmal hatte er Bertoleza ungeduldig angeschrien, nur weil sie ihn irgend etwas wegen der Arbeit gefragt hatte. Noch nie hatte ihn jemand so reizbar und unbeherrscht gesehen: er schien gar nicht derselbe zu sein den alle als ruhig, fach» lich und kaltblütig kannten. Und keiner, der ihn kannte, wäre auf die Idee gekommen, daß der Grund seiner schlechten Laune in der Tatsache lag, daß Mirairda Baron ge- worden war.(Fortsetzung folgt.l