Einzelbild herunterladen
 

BERLIN Sonnabend 15. Februar 1930

Der Abend

erfoetut taglio enter Sonntags. Sugleich Abendausgabe des Vorwärts Bezugspreis beide Ausgaben 85 Vf. pro Woche, 3,60 M. pro Monat. Redaktion und Erpedition; Berlin SW 68, Lindenstr. 3

Spalausgabe des Vorwärts

10 Pf.

Nr. 78

B 39 47. Jahrgang

" Anzeigenpreis: Die einfpaltige Nonpareillezeile 80 Vf. Reklamezeile 5 M. Ermäßigungen nach Tarif. Pofticheckkonto: Vorwärts- Verlag G. m. b. H Berlin Nr. 37 536. Fernsprecher: Donhoff 292 bis 297

SchachtverhöhntSozialrentner

Neue Taktlosigkeit des Reichsbankpräsidenten beim festlichen Gelage.

Bremen , 15 Februar.( Eigenbericht.)

-

Einem 385 Jahre alten Brauch entsprechend feiert alljährlich die Bremer Kaufmannschaft mit Vertretern der Bremer Kapitäne die sogenannte Schaffermahlzeit", die ur fprünglich zum Besten der feefahrenden Leute also zu Wohlfahrts 3 med en diente. Im Laufe der Zeit, namentlich in der Nachkriegszeit, hat sich daraus ein äußerst üppiges Fest der zahlungsfähigsten Bremer Kreise entwidelt, zu dem aus dem ganzen Reide sogenannte hoditehende" Persönlichkeiten her­angezogen werden. Die geftrige Schaffermahlzeit" im Bremer haus Seefahrt" fah unter anderem als Gäste den ehemaligen König Ferdinand von Bulgarien , Ministerialdirigent Brandenstein, vom Reichsvertehrsministerium, Dorpmüller von der Reichsbahn, Bücher von der AGG., Dr. Krupp von Bohlen und Halbach, den Chef der deutschen Flotte Bizeadmiral Oldekopp, ben Großindustriellen Gilberberg. Direttor 3 affermann und nicht zulegt den Reichsbantpräsiden­

ten Dr. Schacht!

Bei der Schaffermahlzeit wird nicht nur sehr feudal gegeffen und gezecht, sondern es werden auch Reden gehalten. Einer der geftrigen Redner war der Reichsbantpräsident Dr. Schacht, der sich in seiner Ansprache zu folgender Leistung perstieg:

In dem Mangel an Willen, der durch das deutsche Volt geht, empfinde ich die ganze große moralische Krise des deutschen Bolles. Dieser Wille fehlt dem Deutschen Reich heute an allen Eden und Enden; wir haben nirgends mehr das Gefühl in der Bevölkerung, daß der einzelne für sein Schicksal ver­antwortlich ist, das der einzelne fämpft und ringt und sich einsetzen muß, wenn er etwas im Leben erreichen will. Unser Ideal in Deutschland ist das Ideal des Sozialrentner, der mit dem Augenblid, wo er in die Wiege gelegt wird, sämtliche Betsorgungs­fcheine, einschließlich der Sterbefaffe mitbekommt. Wir fühlen uns nicht als Bürger des Staates, sondern wir fühlen uns als Wohl­fatsempfänger eines uns fremden flaatlichen Organismus, der irgend wo in der Luft schwebt."

Kein Wunder, daß Herr Schacht mit diesen Ausführungen den \ stürmischen Beifall der illustren Gesellschaft entfesselte.

Es gehört ein besonderer Geschmad und ein ungewöhnliches Maß von Taftlosigkeit dazu, bet einem jährlichen Gehalt DOI über einer Viertelmillion Mark und einer Millionen­fidherung für den Fall vorzeitigen Ausscheidens an gedeckter Tafel die Empfänger von Sozialrenten zu verhöhnen und dem deutschen Volle vorzuwerfen, daß es ihm am Willen zum Schaffen fehlt. Reichsbankpräsident Schacht scheint den Ehrgeiz zu haben, fich nicht nur durch politische, sondern auch durch rednerische Torheiten besonders hervorzutun. Das deutsche Bolt muß es sich aber ver­bitten, daß ein Mann in seiner Stellung öffentlich solchen Unsinn retet. Es hat Wilhelm II. nicht abgeschafft, um bei Hjalmar I. einen ähnlichen Rattenkönig von politischen und rednerischen Entgleisungen zu dulden!

Stürmische Reichsbanfversammlung.

Die bei Redaktionsschluß noch andauernde Generalver­sammlung der Anteilseigner der Reichsbank, die hauptsächlich über die Alenderung des Bankgesetzes und die neue Gewinnestellung zu befchließen hat, nahm bisher einen lebendigen, tellweise stürmischen Verlauf. Wegen des ungewöhnlich ftarten Andranges, besonders von kleinen Antellseignern, mußte eine Burohalle der Reichsbank geräumt und für die General­ve: jammlung hergerichtet werden. Der Gegensatz zwischen den kleine­ren und fleinsten Antelleeignern( 100 Mart geben bereits eine Stimme), die hauptsächlich der vom Betriebsanwalt Winter ge­führten Aufwertlergruppe für die roten Taufender ange­hören, und den großen Banfiers fowle anderen Großaktionären der Reichsbant, gibt der Bersammlung das Gepräge.

Reichsbankpräsident Dr. Schacht erläuterte den Berwaltungs­bericht der Reichsbanf für 1929 sowie die Renderungen des Bank. gefeßes und stellte die entsprechenden beiden Buntte der Tages. ordnung zur Diskussion.

Bei dieser Distusfion trat sofort bei allen Diskussionsrednern einhellig die Auffassung zutage, daß das gesamte Bermögen der Reichsbant den Anteilsetgnern gehöre. Es sei falsch, von einer Abfindung der Anteilseigner zu sprechen, denn wenn dem ( Fortlegung auf der 2. Gette.)

Strafantrag gegen Pletschkaitis.

Der Staatsanwalt fordert 7% Jahre Zuchthaus.

In den späten Abendstunden des ersten Berhandlungstages demonstrierten Insterburger Arbeiter vor dem Hotel, in dem litauische Beamte wohnen, die den Pletschkaitis Prozeß dienstlich beobachten. Rufe wurden laut: Nieder mit den litauischen Arbeitermordern! Es lebe die litauische Sozialbemofratle!" Ein herbeigerufenes Polizeikommando zerstreute die Demonstranten. Zu blutigen 3u blutigen 3wischenfällen ist es nicht gekommen.

"

Insterburg , 15. Februar.( Eigenbericht.) fratischen Partei wurden durch Propofateure 300 Stück der in Litauen verbotenen Emigrantenzeitung Pirmin" geschmuggelt. Hierauf wurde unter der Behauptung, es feien bort Waffen und Munition gefunden, Iitauische Sozia Itsten verhaftet, darunter auch Frau Pletschkaitis. Nach einigen Tagen entlassen, wurde sie dennoch längere Zeit täglich von Richter zu Richter zitiert und hierbei törperlich mißhandelt. Bolitische Beamte hätten dem Zeugen Zehler Mitteilungen über die Drangsalierungen gemacht zu dem offensicht lichen 3wed. Pletschfaitis über die litauische Grenze zu locken. Bis sich 1928 hat Pletschlaitis fidh attiv politisch betätigt. Dann hat er die

Die am Sonnabend früh fortgeführte Zeugenvernehmung ergibt, daß wahrscheinlich noch weitere Emigranten mit Pletschlaitis zu fammengemefen sind. Die 3dentität der unterfuchten mifden gefundenen Bomben ist nach den Beugenausfagen wahrscheinlich. Ein lückenloser Nachweis ist jedoch nicht mög lich. Bei der Bernehmung des Zeugen Behler Eydtkuhnen ver langt Pletsdylaitis mehrmals, daß die Deffentlichkeit ausgeschloffen wird, da er nur dann wichtige Fragen zu seiner Berteidigung stellen fann. Auch der Beuge Zehler vertritt entschieden die Forderung des Angeklagten, da er mit Rücksicht auf die Angehörigen in Litauen in voller Deffentlichkeit nicht aussagen fönne. Als der Vorsitzende und der Verteidiger unter Berufung auf die Prozeßordnung den Antrag ablehnen, bricht Pletschkaitis seelisch zusammen. Zehler be= fundet, daß er durch Briefe davon Renntnis hatte, daß Pletschkaitis sich nach seiner Familie fehne und zu ihr zurück wolle, jedoch habe Pletschkaitis niemals ein gewaltsames Bore gehen angekündigt.

Die faschistische Hölle.

Nach einer Berhandlungspause macht Beuge Zehler wichtige Befundungen über die litauischen Verhältnisse. Frau Pletsch taitis ist zur Ehescheidung gezwungen worden. In­folge Drangfalierungen mußte sie den Briefverfehr einstellen. Ihr zugesandtes Geld wurde von der politischen Polizei beschlagnahmt, dennoch mußte fie quitfieren. Sie sollte von einem heruntergemirt schafteten Grundstück den Lebensunterhalt der Familie bestreiten. Bäder und Kaufmann wagten faum, ihr Lebensmittel zu verkaufen, um nicht in den Berdacht antifaschistischer Gesinnung zu fommen. Im April 1929 arrangierte die litauische Regierung eine groß angelegte Sozialistenverfolgung. In das Gebäude der Sozialdemo­

Die befleckerte Robe.

GERMAN

Nee, Herr Jorns, die Robe ist für 100 Marf nicht wieder zu reinigen. Der Dreck geht durch und durch!"

Schutz der Sozialpolitik!

Sihung des Bundesausschusses des ADGD.

Um Montag, dem 17. Februar, wird der Bundesausschuh des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes zu einer Sihung zusammentreten. Auf der Tagesordnung stehen vorwiegend die Fragen der Finanzpolitik des Reichs und in Zusammenhang damit die Erörterung der neuen, auf einen Ab­bau der Sozialpolitit, besonders der Sozialversicherung, ge richteten Pläne des Reichsfinanzministers Moldenhauer.

Da die Verhandlungen über die Etatsgestaltung und über die erforderliche Bereitstellung von Mitteln für die Arbeits­losenversierung in diesen Tagen ihrer Entscheidung ent­gegengehen, kommt der Sitzung des Bundesausschusses eine erhöhte Bedeutung zu.

Absicht geäußert, der politischen Tätigkeit zu entsagen und seine Familie aus Litauen herauszuholen und auszuwandern.

Schon einmal wollte Pletschkaitis nach Litauen herübergehen, um bei Nacht und Nebel seine Familie herüberzuholen. Daran wurde er durch den Zeugen Zehler gehindert. Einige Zeit vor der Ver­haftung des Pletschkaitis hat Zehler einen dringenden Notruf aus Litauen erhalten. Emigranten holten hierauf eigens ihre Familien herüber, um fie in Sicherheit zu bringen.

Ungeheuerliche Strafanträge.

Justerburg, 15. Februar. Jm Pletschfaitis- Prozeß beantragte der Staatsanwalt nach einem längeren Plädoyer gegen Pletschtaitis eine Gesamt­firafe von sieben Jahren sechs Monaten Zuchthaus und gegen die übrigen Angeklagten je sechs Jahre sechs Mo­nate Zuchthaus (!), gegen alle Angeklagten fünf Jahre Ehrverluft, Stellung unter Polizeiaufsicht und Einziehung der Waffen und Sprengstoffe, und zwar wegen Verbrechens gegen das Sprengstoff­gefeh( Sprengstofftomploff), gegen das Schußwaffengeseh. das Gesetz über Kriegsgerät, gegen die Verordnung über Zurück­führung von Waffen des Heeresgutes in den Befih des Reichs und wegen Bergehens gegen die Pasvorschriften.

Doppelfelbstmord in Heinersdorf .

Heute mittag wurden der 55jährige Kaufmann Auguft Rußfeld und feine 43jährige Frau Mathilde im Schlaf­zimmer ihrer Wohnung in Pankow Heinersdorf . Kron­prinzenstraße 13, erfchoffen aufgefunden.

Rußfeld stammt aus der Rheingegend und unterhielt viele Jahre lang in Bonn am Rhein ein kaufmännisches Büro. Er war aber ständig vom Pech verfolgt und vor etwa einem halben Jahre ge­zwungen, feinen Betrieb in Bonn zu schließen. R. siedelte nun nach Berlin über, in der Hoffnung, sich hier eine neue Eristenz auf­bauen zu können. Alle Versuche ichlugen aber fehl, und so fahen die Eheleute keinen anderen Ausweg als den gemeinsamen Selbstmord. Beide hatten an ihre Angehörigen Abschiedsbriefe ge­richtet, in denen fie davon Mitteilung machten, daß fie wirt­fchaftlich völlig ruiniert seien.