Nr. 212 47. Jahrgang
2. Beilage des Vorwärts
Kurt Rudolf Neubert: Ein Wiedersehen
Man konnte sie jeden Abend in einer eleganten Tanzbar des Berliner Westens treffen. Das nette, adrette Figürden im schwarzen Kleid, eine weiße Schürze darüber und auf dem dunkelblonden Kopt
ein weißes Häubchen, dieses Figürchen mit einem großen Tablett beladen und zwischen Stühlen und Tischen wandelnd, diskret., 3igarren! Zigaretten! Zigarren! Zigaretten" anpreisend, war Anni. Borher war sie als Rontoristin, Kinderfräulein, Wirtschafterin tätig gewesen, sie war auch schon in die Fabrik gegangen.
Anni hatte ein Verhältnis mit Kar!, sie gingen schon drei Jahre zusammen, hatten sich unverändert lieb, nur heiraten konnten sie nicht. Karl war ein fleiner Angestellter, der vorläufig gar nicht daran denken fonnte, einen so bedeutungsvollen Schritt wie eine Heirat in die graue, ungewisse Zukunft zu wagen.
Er hatte zuletzt auch nichts mehr dagegen einzuwenden gehabt, als Anni nach langer Stellungslosigkeit die weiße Schürze über ihr Kleid band und den Zigarettenfasten anschaffte. Es war egal, wie man fein Brot verdiente, nur ehrlich mußte man es verdienen.
So schleppte sie nun ihren Kasten von acht Uhr abends bis drei Uhr nachts. Sie verdiente menig, aber es war doch etwas. Im Anfang verwirrte sie die Atmosphäre ihres neuen Berufes", es gab fleine Demütigungen, und es lockten fleine Abenteuer, aber ihre Treue blieb bei Karl. Sie brachte ihm manchmal einen fremden Duft mit aus jener Atmosphäre, in der sie nun von acht Uhr abends bis drei Uhr nachts lebte, als Zigarettenmädchen. Es war eine Sehnfucht nach Wohlleben, die sich in ihre Kleider gehangen hatte. Karl hatte dann eine Falte auf der Stirn..
Es gab bald Lage, wo Anni erst am späten Nachmittag das Bett verließ und mit Unbehagen an ihren Zigarettenfasten dachte. Eigentlich mußte sie sich doch sehr quälen. Der Berdienst war gering. Und die Nachtarbeit befam ihr gar nicht. Ach, wenn man Glüd hätte...
Wenn sie dann spät ihre fleinen Prozente berechnete und der Traggurt des Raftens ihre müden Schultern brüdte, dann sah sie mohl auf die nackten Schultern der Frauen dort an der Bar und hörte Stimmen rechnen von anderen Prozenten, viel größeren Barfrau! dachte sie und erschrat.
Gleich schob sie dieses Bild weit von sich. Gie löschte es gewisser= maßen mit dem Gedanken an Karl aus. Aber das Bild tauchte immer wieder auf. Sie sah sich an der Bar, ihre Schultern waren entblößt, ein Lächeln stand in ihrem Gesicht, das sie jezt noch nicht lächeln fonnte, und fie mechselte Hunderter...
Karl fühlte, daß sie sich mit etwas schleppte, aber fie mochte ihm nichts fagen. Sie wurden sich manchmal ganz frend, und dann fielen sie sich wieder um jo leidenschaftlicher in die Arme. Sie entrinnt dir!" dachte Karl nach solchen Aufwallungen. Mehr verdienen!" grübelte er. Mehr verdienen!"
Komm doch zu uns!" sagte eines Abends das Barmädchen Lotte zu Anni, die müde ihren Kasten auf den Tisch stellte und ihr Geld nachzählte ,,, willst du dich noch lange mit dem Kasten quälen?" Ich weiß nicht," sagte Anni geisterabweisend. Sie empfand einen Schmerz. Im Herzen und mehr noch an der Stelle, wo der Traggurt des Kastens sie drückte. Diese Stelle drückte von Woche zu Boche mehr, ihre Schultern zitterten immer müder, sehnsüchtiger... Nachts dachte sie über Lottes Worte nach. Wäre es so schlimm, wenn sie mal ein Jahr oder zwei zur Bar ginge, um mehr zu verSie dienen? Mußte man deshalb gleich so werden wie Lotte? fönnte mehr verdienen und das Leben wäre leichter, lustiger. Lustiger sein! dachte sie oft. Es war ja alles so schwer.
Wenn sie bei Karl war, erschrat sie, daß ihr solche Gedanken famen. Sie hatte Angst und war jetzt oft demütig.
Aber eines Tages, als sie für den Abend Bertretung in der Bar gefunden hatte und mit Karl einen Ausflugsort vor Berlin
besuchte, da sagte sie es ihm. Sie lagen irgendwo im Walde. Karl hatte vorsorglich eine Dede mitgenommen und Proviant in einem fleinen Koffer. Er bot ihr gerade ein Burstbrötchen an, als sie
zu reden begann.
,, Karl, sei mir nicht böse, ich denke oft, wenn wir so Pläne machen und rechnen und doch nicht wissen, wann wir heiraten werden.
Karl hielt immer noch das Brötchen in der Hand. Als sie vom Nichtheiratenfönnen anfing, legte er sich lang hin und streckte die Hände unter den Kopf. Jetzt fommt etwas," dachte er, jetzt..
Seine jähe Bewegung hatte Anni verwirrt. Sie atmete tief: Mut! Ich meine, daß ich mehr verdienen muß, Karl. Ich könnte es auch, ich hab' es mir lange überlegt, jezt muß ich mit dir darüber sprechen.
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,, Und?" fragte Karl Leise.
Sie hatte erst lange Umwege machen, ihm alles ausführlich erklären, ihn gewissermaßen schonend vorbereiten wollen. Jeßt, mo er neben ihr lag, die Arme unter dem Kopf und die Augen irgendwo in den Baumwipfeln, als sähe er nur einem Eichhörnchen zu, jetzt fand sie die Worte nicht, sie hatte nur das Verlangen, sich an ihn zu pressen, ihn zu küssen, aber da fagte sie plötzlich aus diesem Verlangen heraus:„ Ich will zur Bar, Karl"
Schweigen neben ihr. Sprachloses Grauen, ,, Karl!"
Karl schwieg noch immer.
Da begann sie zu reden. Die Worte strömten ihr jetzt nur so zu: Sie würde mehr verdienen, sie fönnten zusammen bleiben, er dachte doch nicht etwa, daß sie... daß sie...
"
Donnerstag, 8. Mai 1930
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Tagen und die Gedanken sind leicht und froh. Ich bin auch nicht sehr bekümmert meiner Lage wegen. Die Gebanten hüpfen und tanzen nur so dahin. Wenn man tein Geld hat, fann man feins verlieren... Ist die Tasche leer, hat man leichter zu tragen. Die Gedanken haben eine eigene Melodie und meine Füße gehen danach, ein wenig tänzelnd, und dazu singt es weiter in mir. 1½ Jahre, abre was alles dazwischen liegt, da hatte ich auch dieses herrliche Gefühl der vollkommensten Wachheit. Damals war's an einem trüben Tag, Ende August oder Anfang September. Es regnete nicht gerade, aber es rieselte den ganzen Tag. Ich war von Hause davongelaufen und saß nun da, beinahe ohne Geld, fast wie heute, ja.
Ja einmal, ach das ist schon lange her, nein nicht einmal nur
Irgendwohin war ich gegangen, um mich wegen einer Berdienstmöglichkeit zu erkundigen, erfolglos. Ich follte nun zu Freunden, mich mit ihnen zu beraten.
Mein Weg geht über den Naschmarkt.( Es war in Wien .) In den Buden ist herrliches Obst ausgestellt. Ich bleibe bei jeder zweiten, dritten Bude stehen und betrachte immer wieder sehnsüchtig riesige Pfirsiche und gelbe Birnen zu Bergen geschichtet, jedes Stück in einer schützenden Zelle aus Papier liegend.
In einer Querstraße stehen große Abfallfästen Burschen und Frauen stehen um sie herum. Ein Riese tommt aus einer der Obstbuden heraus und schüttet davor den Inhalt einer Kiste aus. Pfirsiche, oh, Pfirsiche." Sie haben alle braune Flecken, sind ein menig angefault, aber sie sind doch so, daß ich gerne davon möchte. Die Burschen und Frauen bücken sich nach ihnen rasch, rasch. Ich fiehe da und sehe zu. Ich mochte mir auch gerne ein oder zwei nehmen, aber ich schäme mich etwas. Ein Bursche, der neben mir steht, gibt mir plötzlich einen leichten Stoß. Sier", sagt er und hält mir zwei herrliche große Pfirsiche hin. Ich nehme sie einfach und sage nur ,, bante".
Im nächsten Moment beiße ich schon hinein, und der Saft ,, Karl!" schrie sie auf. Ich hab' dich noch nie betrogen!" tropft mir von den Fingern. Dann gehe ich weiter durch die Karl richtete sich auf. Sein Gesicht sah wie nach einer langen Straßen am Markt. Ich spüre die feuchte Luft und den leichten Nacht aus, wie nach einem Besuch beim Sechstagerennen oder bei Regen anders als vorher und die Straßen, die naß und schmuzig einem Boglampf, zerrädert, zerfämpft, müde- „ Es tommt, wie's tommen muß," meinte er refigniert ,,, ich habe Aermosten der Armen. Mein ruhiges Leben ohne Bagnis aber voll find. Einen Moment lang war ich arm und demütig wie die Sicherheit und Schwere liegt weit weg. Mir ist wunderbar leicht meine Hände ein wenig feucht macht. Alles, was um mich ist, was und froh. Ich liebe den leichten Regen, der meine Wangen und ich sonst taum sehe, was mir fremd ist, weckt in mir Liebe und Zärtlichkeit.
...
es manchmal geahnt... Aber. menn du meinst... daß.. du.. dort dein Glüd machst, Anni, dann... geh..!" wirst du mir vertrauen?" fragte fie, sich ängstlich über ihn neigend.
,, Das ist alles aus, Anni."
Sie hatte Tränen in den Augen und beschwor thn: ,, Aber du tuft mir Unrecht, Karl!"
Er lächelte, und er machte eine thr fremde Geste, er tippte lose über ihr vermeintes Gesicht: ,, Barmädel!"
Nun war Anni Bandame. Sie lernte Lottes Lächeln und scharfe Liköre vertragen. Auch andere scharfe Sachen. ,, Rein äußer lich!" dachte sie im Anfang, es fommt nichts an mich heran." Sie
hatte die ehrlichste Absicht. Kein Mensch durfte daran zweifeln. Auch Karl nicht. Aber der war verschollen. Sie trug es und hoffte auf später. Die neue Tätigkeit half ihr darüber hinweg. Es war alles so anders. Es gab Situationen, die sie früher nicht getannt hatte. Sie mußte etwas sein, das sie früher nie gewesen war, ein stets lächelnder, sprungbereiter Mensch, der auf Beute lauerte. Sie mußte dabei noch aufpassen, daß sie nicht selber Beute wurde. Sie mußte sich auf die Männer stürzen und sie loden:„ Einen CherryCobbler vielleicht?" Sie mußte mit den Augen loden und mit den Schultern. Sie mußte ihre Beine gebrauchen und schlüpfrige Redens. arten. Sie trant mit Schauspielern, Banfleuten, Rechtsanwälten, Industriellen, Reifenden, Kaufleuten, größeren und fleineren. Sie faß auf ihren Knien und nahm Einladungen entgegen für später. Und dann entwischte sie mit großer Mühe durch irgendeinen Nebenausgang. Bisher gab es immer noch einen Nebenausgang, eine ( Schluß folgt.) Ausrede.
Ich werde bei meinen Freunden sagen, daß ich voll Hoffnung und guten Muts bin. Aber sonderbar, schon auf der Treppe beginnt dieses Gefühl schwächer und schwächer zu werden. Oben fann ich nichts von dem sagen, was mich noch vor wenigen Minuten sa beglückte.
den bes
Biel rascher als jede andere Materie dringen Gedanken vor. Sie kommen und verdrängen andere, die uns eben noch erfreuten und mit Glüd erfüllten... Sie überfallen mich aus den Berwandtenbildern an den Wänden, sie tommen aus fümmerten Gesichtern meiner Freunde, die ihre feste Meinung haben:„ Man gehört zu seiner Familie nach Hause." Mit der Luft, die ich atme, nehme ich sie in mich auf.
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Aber dann, dann tommt trotz alledem eines Tages der Sprung hinaus aus der ruhigen Sicherheit... Und jetzt auf der Straße vor dem Theater ist es mir wieder eingefallen. Ja, damals, das war der Anfang...
Erziehung zum Leben
André Maurois : Sich erneuern eine Ehe, bie in fich eingefponnen lebt, in ihre Liebe eingeſchloſſen, feinen Schriften nur sehr selten Stellung genommen hat. Freud
André Maurois , der berühmte französische Dichter, Verfasser eines glänzenden Buches über Disraeli und des Romans Wandlungen der Liebe", der auch in Deutschland Aufsehen erregte, befindet sich feit einigen Tagen in Berlin . Wir geben unseren Lesern hier eine kleine Probe seiner Runft als Plauderer.
Die Gründe, aus denen eine Frau schon bei der ersten Begegnung gefällt, find geheimnisvoll und verschieden. Manchymal ist es ihre Schönheit, manchmal ihr Geist, manchmal ihre Häßlichkeit. Dft bleiben die Zuschauer, die von außen her die Geburt einer großen Liebe sehen, erstaunt. Warum," fragen fie ,,, sie hat nichts Bemerkenswertes. Er ist hundertmal mehr wert als fie. Wie fesselt sie ihn?" Das liegt daran, daß in der Liebe die Begleitumstände noch wichtiger find als die Personen. Ein Frühlings abend, ein gut geschnittenes Kleid, der Klang einer Stimme, eine Gefte fönnen für zwei Leben entscheidend sein.
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Aber einen Abend gefallen ist nichts. Es muß von Dauer sein. Doch das Gesetz von der Abnutzung der Erregungen ist ein strenges und startes Gesetz. Es ist möglich, daß man das Gesicht, das einem als das schönste erschien, nach drei Jahren, fünf Jahren, zehn Jahren mit Gleichgültigkeit betrachtet, vielleicht sogar mit Langeweile. Wie schön ist Ihre Frau!", sagen die Fremden zu einem Ehemann. Ja," antwortet er mit einer stolzen Gleich gültigkeit, aber er selbst sieht nicht mehr, daß sie schön ist. Sogar die Intelligenz hört auf, uns zu überraschen. Jedes Wesen hat seine Reichtümer, seinen Geheimschaz, den es während eines ganzen Lebens aufgehäuft hat. Zu Beginn einer Liebe gibt es ihn mit prachtvoller und unvorsichtiger Großzügigkeit aus. Schließ. lich sind alle Erinnerungen erzählt, alle Gedanken ausgedrückt, alle Kenntniffe ausgebreitet. Ein großartiges Feuerwert wird von einem leidenschaftlichen Feuerwerfer abgebrannt, der nicht sieht, daß seine Magazine schon leer sind. Nach soviel Glanz überraschen Lange= weile und Stillschweigen noch mehr. Mann und Frau sind noch voll guten Willens und wünschen noch zu gefallen, aber sie stellen alle beide mit Ueberraschung fest, daß sie sich nichts Großes mehr zu sagen haben. Ohne Zweifel bleibt noch das tägliche Leben, die Neuigkeiten des Hauses, die Kinder, die Bücher, die man gelesen, die bösen Zungen, die man gehört hat, die Zeitungen. Aber der Geist lebt von Tag zu Tag nur noch von dem, was er einnimmt; das Rapital ist verschwunden. Mühseliges, gefährliches Leben. Nun tommt der Fremde vorüber, das neue Wesen, so reich an unbe Pannten Möglichkeiten. Wie soll man anfämpfen gegen seinen Zauber?
Das Rezept ist zugleich einfach auszusprechen und schwierig auszuführen. Man muß sich um jeden Preis erneuern. Keine Frau, so schön, so glänzend fie auch sein mag, fann für immer gefallen, menn fie unbeweglich ist. Wenn sie vermeiden will, daß eine andere
an ihre Stelle tritt, so muß fie selbst diese andere werden. Uleber ist das Urteil schon gesprochen. Bei den Ehepaaren, die zu sehr für sich allein find, schießt die Langeweile hervor wie Pilze auf einem feuchten Anger. Das Heilmittel besteht darin, selbst bei der leidenschaftlichsten Liebe eine gewisse geheime Unabhängigkeit des Geistes und persönliche Handlungsfreiheit zu bewahren.
Wenn Mann und Frau immer die gleichen Leute, die gleichen Dinge sehen, wenn die Frau in ihrer geistigen Nahrung völlig von ihrem Manne abhängt, was fönnen sie sich dann gegenseitig bieten? Ich habe viele glückliche Ehen gesehen, wo Mann und Frau arbeiteten, jeder an seiner Stelle, und sich am Abend darin gefielen, Berichte anzuhören und zu geben. Das ist die eine Methode. In den Ehen, in denen beide Teile feiner Beschäftigung nachgehen, muß man den Mut aufbringen, sich manchmal zu trennen. Eheferien find ebenso notwendig wie Schulferien. Der Gatte, der das leere Haus fennen gelernt hat, die Troftlosigkeit einsamer Abende, fommt schließlich dahin, die Rückkehr derjenigen zu wünschen, auf deren Abreise er sich gefreut hatte.
Uebrigens ist es nicht immer nötig, daß die Abreise tatsächlich ist. Es gibt vorgetäuschtes Entweichen und eingebildete Reifen. Die Frau soll dann aus ihrer Lektüre oder ihren Träumen die Erinnerung an eine neue Welt mitzubringen wissen. Sie soll lernen, mit Worten zu malen, was sie gesehen hat. Dann wird sie die Freude haben, die Augen, die seit langer Zeit zerstreut und gleichgültig geworden waren, plöglich wieder mit einer Regung von Aufmertfamfeit auf sich geheftet zu finden. Sie wird dann den größten Feind der Liebe besiegt haben: die Gewohnheit. Sich erneuern, das ist das erste Gebot der schwierigen Kunst zu gefallen.
( Autorisierte Ueberfegung aus dem Französischen von Rudolf Enigl.)
In seinem neuen, bedeutenden Wert ,, Das Unbehagen in der Kultur ", das hier schon gewürdigt wurde, läßt der Entdecker der Psychoanalyse an einer sehr bemerkenswerten Stelle seine Ansicht über moderne Erziehungsprobleme erkennen, die um so wertvoller erscheint, als. Freud bisher zu altuellen pädagogischen Fragen in tommt in seinem Buch bekanntlich zu dem Resultat, daß als eine der häufigsten Ursachen nervöser Störungen und der allgemeinen Glücks einbuße in der Welt ein unbewußtes Schuldgefühl anzusehen ist, das er als Angst vor dem lleber- Sch", vor den allzu mächtigen Widerständen von außen erklärt, die durch das Fortschreiten der Kultur nur noch vermehrt werden. Freud erhebt nun den Vorwurf gegen die noch heute übliche Erziehung, daß sie darin sündigt, weil fie die Jugend nicht auf den Lebenstampf vorbereitet, dessen Objekt sie zu werden bestimmt ist. Indem sie die Jugend mit jo un richtiger psychologischer Orientierung ins Leben entläßt, benimmt fich die Erziehung nicht anders, als wenn man Leute, die auf eine Bolarexpedition gehen, mit Sommertleidern und Karten für die oberitalienischen Seen ausrüsten würde." Freud verlangt, daß man die Jugend schon frühzeitig auf den Lebenstampf vorbereiten müsse. man gautelt der Jugend in der Schule statt dessen eine Welt von sittlichen Werten vor, lehrt sie, an diese zu glauben und entläßt fie ungewappnet als weltfremde Idealisten, in der Hoffnung, so die Menschen zu beffern.
Freud mendet sich damit scharf gegen eine in der Tat auch heute noch starte Strömung einer idealistischen, dem Leben ab gewandten Erziehung, wie sie etwa dem Lehrplan des humanistischen Gymnasiums entspricht und verlangt ganz im Sinne der sozial demokratischen Forderungen eine bewußte Erziehung zum Leben, die besonders in den wirtschaftlich so schwierigen Zeiten der Gegenwart notwendig ist. Ihr Ziel muß eine verstärtte Unterweisung in praktischer und anschaulicher Arbeit( Berfunterricht) sein. Auch in der sittlichen Ausbildung darf es teine Schönfärberei, teine Berfälschung der Wirklichkeit geben. Schon frühzeitig muß die Erziehung fähig machen für den Kampf aller gegen alle, den das Leben notwendig mit sich bringt. In demselben Wert tabelt Freud es übrigens Schule dem Menschen ver heimlicht, fpielen wird.
Dagmar Sperk: Der Anfang mi, elche überragende Rolle bie Gegualität in feinem Leben
Ich stehe auf der Straße vor dem Theater. Jetzt weiß ich es endlich: ich werde auf meine Beschäftigung noch einen bis zwei Monate warten müssen. Ich habe keine Wohnung und in meiner Tasche fast fein Geld. Noch fünf oder sechs Nächte im Schlafraum
eines Massenquartiers, dann
Die Straße ist etwas feucht, besonders im Schatten, aber der Himmel ist blau und diese bezaubernde Märzsome, die ich wenig, mur ganz wenig burch meine Kleider spüre. Der Wind streicht mir um die Wangen und spielt mit meinen Haaren und das alles erfüllt mich so mit Entzüden wie Zärtlichkeit von sehr geliebter Hand. Das ist ein herrlicher Tag. Ich fühle alles wie durch eine ganz feine, dünne Haut. Meine Sinne find wunderbar wach, mie sie's sonst nicht sind. So spüre ich Sonne und Wind nicht an allen
Dr. Willy Blumenthal.
Der Ausfah in Deutschland . Die furchtbare Krankheit des Aus fates ist glücklicherweise bei uns auf ganz wenige Fälle beschränkt. Nach einer Uebersicht über das Jahre 1929, die in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift" mitgeteilt wird, gab es Ende 1929 im Deutschen Reich nur acht in Behandlung befindliche Ausfahtrante, davon drei in Hamburg , zwei in Preußen, in Lippe und Lübeck je einen. Die Zahl hat sich gegen 1928 um eine Berson verringert. Bei einem in Remscheid anfäffigen Kaufmann, der im Tropengene Jungsheim zu Tübingen 1919 zum erstenmal wegen Aussag aufge. nommen und im Jahre 1923 als symptomenfrei entlassen worden war, wurden 1929 wieder Erscheinungen festgestellt. Nach wieder. holter Behandlung in Tübingen tonnte er am Ende des Berichts jahres als anstedungsfrei in seine Heimat zurüctehren.