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BERLIN  Mittwoch

18. Juni 1930

Der Abend

Erscheint täglich außer Sonntag&  

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Nr. 280

B 139

47. Jahrgang

66 anzeigenpreis: Die einfpaltige Nonpareillezcile

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Der Aerzteskandal von Lübeck  .

Ein Arzt als Ankläger gegen Aerzte.

Um 10 Uhr vormittags eröffnete heute Präsident Löbe den dritten Tag der Reichstagsdebatte über den Haushalt des Reichsinnenministerium s.

Abg. Dr. Mofes( Soz.)

sprach sogleich über die Lübeder Tragödie: Prof. Calmette hat gestern im Tempo" einen Brief veröffentlicht, worin er schreibt, daß in Lübed ein fürchterlicher Irrtum begangen worden sein müsse, und daß dort vermutlich seine Kulturen mit Kulturen der Tuberkulojeerreger bei Menschen verwechselt worden seien; er bedauert weiter, daß das fürchterliche Drama politisch ausgebeutet werde. Er verlangt, daß man das Ergebnis der fach verständigen Untersuchung abwarte. Wir müssen dem widersprechen. Es ist feine politische Ausbeutung, wenn in der Debatte über die innere Berwaltung diese Vorgänge erörtert werden. Das Bolt würde es nicht verstehen, wenn mir das Urteil über diese Katastrophe nur den Sachverständigen allein überlassen würden. Die wissen­schaftliche Seite wollen wir hier nicht prüfen, wohl aber die ethische, die moralische und die strafrechtliche.( Sehr richtig! links.)

Vierzig Opfer find bereits gefallen, ebenso viele wird der Lübecker   Säuglingstod in der nächsten Zeit noch fordern. Darüber fann tein 3weifel fein. Bei jeder Kinderfrant heit, ja bei jeder Erkältung eines der jetzt überlebenden Kinder verden ihre Mütter immer wieder zittern und zagen um das Leben ejer Kinder eine Tragödie ohne Ende. Ich fürchte auch, daß nach langen Wochen und Monaten das wissenschaftliche Urteil in cinem ,, non liquet"( nicht aufgeklärt) bestehen wird. Es ist fest gestellt, daß eine Prüfung des Calmette- Präparats an Tieren über­haupt nicht vorgenommen wurde, daß das Reichsgesund beitsamt erst 18 Tage nach Ausbruch des Kindersterbens benachrichtigt worden ist, daß das Reichsgesundheitsamt in lebereinstimmung mit dem Reichsgesundheitsrat den Länder. regierungen größte 3urüdhaltung gegenüber diesem Mitte! empfohlen hat; dabei wurde ausgesprochen, daß das Calmette­Verfahren noch im Stadium des Versuches ist, daß viele Forscher dieses System für irrtümlich halten. Es ist festgestellt, daß

nach Ausbruch des Sterbens Kinder noch weiter mit dem Calmette- Präparat gefüttert

worden sind, daß Eltern durch Verschweigen und durch Vorspiegelung faischer Tatsachen zur Erklärung ihres Einverständnisses gebracht worden sind, daß nach Ausbruch des Kindersterbens zum Schein die Fütterung weitergeführt worden ist, bis nichts mehr zu ver­heimlichen war. Nicht Rettung der Kinder, sondern Rettung der wissenschaftlichen und der eigentlichen Autorität war der erste G danke.( Hört, hört!) Das wichtigste Beweismaterial ist unmittel­bar nach der Tat vernichtet worden. Trotzdem hat der Ober­staatsanwalt in Lübeck   erst vor wenigen Tagen durch die Bresse mitteilen lassen, daß für ihn bis jetzt kein Grund zum Einschreiten bestehe, er wolle das Urteil der Sachverständigen abwarten. Ob die Staatsanwaltschaft auch abwarten würde, wenn ein Heilkundiger so verhängnisvolle Erfolge erzielt, ist mehr als zweifelhaft.( Sehr richtig! links.) Die Empörung der Lübecker  Bevölkerung ist außerordentlich groß, und es ist daneben auch be greiflich, daß in Lübeck   und auch in der Presse gefragt wird, ob diese Stellung der Staatsanwaltschaft etwa be= einflußt sei durch gemiffe gesellschaftliche Beziehun gen in Lübeck.  ( hört, hört! links.)

In einer Polemit gegen einen Artikel von mir hat ein Berliner  Professor gesagt, jeder Fortschritt müsse doch einmal an Menschen ausprobiert werden, das werde immer ein unvermeidliches Uebel sein. Ganz recht, es tommt nur darauf an, wer das gesundheit­liche Risiko dieser Versuche zu tragen hat. Wenn einer ein neues Flugzeug konstruiert, dann muß er sich bei den ersten Fahrten mit hineinsehen. Wäre er zu feige und verleite andere, für ihn dieses Risiko zu übernehmen und gäbe es eine Ratastrophe, so würde er bald im Zuchthaus fizen.

Nur der medizinische Fortschritt geht immer auf Kosten von Leben und Gesundheit anderer Menschen. Bir haben in Deutschland   über 40 000 Aerzte. Will diese Aerzte­schaft ein so umstrittenes Mittel gegen Tuberkulose anwenden, dann mögen sich einmal 2000 bis 3000 Aerzte finden, die ein solches Mittel an ihren eigenen Kindern und Kindestindern anwenden. Das Bolf rebelliert gegen den hohen Olymp, der verächtlich auf die Laien herabsieht. Es will die Rettung vor den Volkskrankheiten nicht durch fragwürdige Methoden, sondern durch soziale Hilfe.

In den ,, Aerztlichen Mitteilungen der wirtschaftlichen Organi sation der Aerzte, im ,, Deutschen Aerzteblatt  ", dem Organ der ärzt. ( Fortsetzung auf der 2. Seite.)

Straßenterror in Berlin   N.

Autobus von Unbekannten beschossen.

In der vergangenen Nacht gegen 12 Uhr spielte fich in der Greulich- Promenade( der früheren Schiller  - Promenade) in Reinidendorf- Ost ein unerhörter Borfall ab, bei dem vier Personen mehr oder weniger schwere Berlegungen davontrugen.

In der Greulich- Promenade befindet sich an der Ede der Appen­zeller Straße die Haltestelle für die kraftwagen der 21 utobuslinie 15. Um die angegebene Zeit hatte ein Autobus etwa 15 Personen aufgenommen, die, nach ihrer Unterhaltung zu schließen, der Nationalsozialistischen   Arbeiterpartei angehörten. Wenige Augenblicke nachdem sich der Kraftwagen in Bewegung gefeht hatte, wurden aus einer Gruppe von Leuten, die ebenfalls an der Haltestelle standen, a cht Revolverschüsse auf den noch in langsamer Fahrt befindlichen Autobus abgegeben und drei Steine geschleuderf. Infolge der Detonationen und

des klirrens der zertrümmerten Fensterscheiben bemächtigte sich der Fahrgäfte eine Panit. Sie sprangen von ihren Sitzen empor und bemerkten dabei, daß mehrere Personen zusammenge. brochen waren. Drei Fahrgäste hatten durch Schüsse schwere Ber­lehungen davongetragen, und zwar Herbert Anderssohn aus Hennigsdorf  , Rathenower Str. 16, einen Augenschuß, Rudolf Schneidereit aus Reinidendorf, Greulich- Promenade 84, einen Cungenfchuß, Edgar Schröder aus der Wendestraße 15 in Herms­ dorf   einen Armschuß.

Außerdem war ein Fräulein Hede Hohensee aus der Residenzstraße in Reinickendorf   durch einen Stein getroffen worden und hatte blutende Abschürfungen erlitten. Sämtliche Berletzten wurden nach dem Reinidendorfer Krankenhaus gebracht und erhielten dort die erste Hilfe. Die drei Schwerletzten mußten im Krankenhaus verbleiben, während Fräulein Hohensee nach Anlegung von Verbänden wieder entlassen werden konnte. Die Täter waren geflüchtet und konnten leider nicht ermittelt werden.

Im Freibad Wannsee wurden harmlose Badegäste von Nazi- Strolchen attackiert, hier wurden bei einem offenbaren Racheakt wieder ganz unbeteiligte, harmlose Bürger geschädigt. Die Täter entfamen ungehindert. In der Provinz sieht es nicht besser

aus. In Granjee terrorisierten die Hatentreuzler

am Sonntag auf offener Straße die Passanten und die Landjäger

Putschiftendämmerung.

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SCHOBER

DESTERREIO

Pabst fann nicht mehr, Frid will nicht mehr ... was bleibt da noch übrig?

unternahmen nichts gegen die Strolche. Sehen die verantwortlichen Organe des Staates denn nicht, wohin wir treiben, wenn das so weiter geht? Fühlt man nicht, daß die Autorität des Staates zum Teufel geht, wenn der ruhige Teil der Be­völkerung schußlos dem Treiben der Staatsfeinde ausgesetzt ist? Es ist gewiß richtig, daß man nicht hinter jedem Nazi einen Schupo stellen kann, aber vielleicht ist die Zeit nicht mehr fern, wo man jeden Nationalsozialisten, der sich in Uniform und Abzeichen öffent­lich zeigt, mit Handschellen zum Präsidium bringt. Die Autorität des Staates gewinnt auch nicht, wenn, wie es sich gerade jetzt wieder gezeigt hat, ein leberfall nach einem halben Jahr abgeurteilt wird. Es ist höchste 3eit, daß ich nell und gründlich eingegriffen wird.

Brennend vom Balfon gesprungen. Furchtbarer Tod eines Berliner   Postaififtenten.

Auf entsetzliche Weise ist heute früh gegen 8 Uhr der 57jährige Postaffiffent Paul Reichelt aus der Reuter­ftraße 54 in Neukölln ums Leben gekommen. Reichelt war in der Wohnstube, während seine Frau in der Rachbarschaft eine Besorgung zu machen hatte, mit Reinigungsa arbeiten beschäftigt, wozu er Benzin oder Terpentin verwendete. Wie man nun annimmt, hat R. dabet geraucht, so daß seine Kleider Feuer fingen. In seiner Angst hüllte sich der Unglückliche in eine Schlafdecke, ohne daß es ihm jedoch gelang, die Flammen zu er stiden. Bon furchtbaren Schmerzen gepeinig:, lief der Unglückliche auf den Balkon hinaus und stürzte sich von der Höhe des zweiten Stod wertes auf die Straße hinab. Mit schweren Brandverletzungen und schweren Knochenbrüchen wurde der Be­bauernswerte ins Urbanfrankenhaus gebracht, wo er bald nach seiner Einlieferung gestorben ist.

Von der Windschutzscheibe geköpft.

Furchtbares Autounglück in der Auvergne. Paris  , 18. Juni. sich in der Nähe von Moulins   in der Anvergne. Ein Autounglüd unter schauerlichen Begleitumständen ereignete fich in der Nähe von Moulins   in der Anvergne. daß die Splitter der Windschuhscheibe ihm den Kopf Ein Motorradfahrer raste so heftig gegen ein Auto,

Kopf flog über den unverletzt gebliebenen Chauffeur hinweg und fiel einer im Wagen fihenden Dame in den Schoß. Die Dame, die bei dem Zusammenstoß gleichfalls verletzt wurde, erlift einen schweren Nervenfchod.

vom Rumpfe trennten. Der blutige, furchtbar verstümmelte

***** Lynchjuftiz!

Ließ die Schwester den Bruder niederschlagen?

Der Kohlenhändler Karpstein wurde gestern abend in einem Lokal von drei Männern provoziert. Auf der Straße wurde er niedergeschlagen und so schwev verletzt, daß er mit einem Schädelbruch ins Urbans frankenhaus gebracht werden mußte.

Unter der Ueberschrift Bruder gegen Schwester" bes richteten wir heute morgen über den Prozeß gegen den Arbeiter Bentowsti, Er hatte die Schwester des Karpstein beim Zus sammentreffen in einer Kneipe so mißhandelt, daß der Frau eint Bein abgenommen werden mußte. Benkowski wurde zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Karpstein, der seit früher Jugend mit seiner Schwester im Streit lebte, war der An­ftiftung angeflagt, murde aber trotz aller Aussagen der Belastungs­zeugen freigesprochen. Man nimmt an, daß es sich bei dem gestrigen Ueberfall auf Karpstein, der sich in dem gleichen Lokal ab­spielte wie die Mißhandlung der Frau Tochtenhagen seinerzeit, umt einen Rache att der Schwester handelt. Frau Tochtenhagen liegt noch immer im Krankenhaus. Zwischen ihrem Mann und Karpstein: fam es schon vor Gericht zu heftigen Zusammenstößen, und es ist nicht ausgeschlossen, daß der Zorn über den Freispruch angesichts der für ihr Leben ruinierten Frau den Ehemann veranlaßte, zur Lynch justiz zu greifen und den lleberfall auf Karpstein zu in­szenieren. Andere Gründe für den Ueberfall laffen sich nicht finden. Die Polizei fahndet bisher ergebnislos nach den drei Männern, die den lleberfall auf Karpftein ausgeführt haben. Karp­stein selbst ist noch inmer ohne Besinnung.