Einzelbild herunterladen
 

Beilage

Mittwoch, 18. Juni 1930

Der Abend

Spalausgabe des Vorwärts

Phantastische Lügner

-

Betrachtungen zum Fall Kürten  / Von Hans Hyan  

-

zu verschleiern, zu leugnen und sein Triebleben in Abrede zu stellen. Ob das nun ein Lehrer ist, der mit seinen Zöglingen Un­zucht treibt, oder ein Mordsadist, den seine Erotik durch einen Blut­immer und überall war nach meinen Erfahrungen sumpf schleppt- der gleiche Hang zur Lüge, zum Leugnen, zur Verschleierung mächtig.

-

Unser heutiges Gerichtsverfahren basiert im wesentlichen auf| Menschen, denen das ungewohnte Erlebnis wie Alkohol zu Kopfe| den Cant, an die Lehre von der Notwendigkeit, alles Erotische den Tatbestandsmerkmalen, soweit solche ersichtlich sind, und auf dem Zeugenapparat. Ich will mich nicht in Ers örterungen über die Heiligkeit des Eides und seine Wertung im Volksbewußtsein verlieren. Hier möchte ich nur zeigen, daß seibst die glaube und eideswürdigsten Zeugen nicht selten gar nichts weiter als pathologische Lügner sind Menschen, die lügen, ohne es zu wollen und wahrscheinlich, ohne es zu wissen und daß auch aus diesem Grunde unser heutiges Gerichtsverfahren überständig und erneuerungsbedürftig ist. Die an Pseudologia phantaftica leidenden Menschen sind für den Laien durchaus nicht als patholo­gische Lügner zu erkennen. Auch dem Psychiater werden sie erst in längerer Bekanntschaft oder bei dauernder Beobachtung evident. Wie in aller Welt soll der von psychologischem und psychopathologi= schem Wissen heute noch ganz unbeschwerte Richter die Qualität folcher Zeugen erkennen?

Eine achtjährige Zeugin

Das achtjährige Töchterchen Frieda des Hand­werksmeisters St. besuchte eine Berliner   Gemeindeschule. Eines Tages verlangte der Vater sofortige Aufklärung über einen uner­hörten Vorfall, der sich in der Schule zugetragen haben sollte. Nach Der Erzählung seiner Tochter habe sich der Klassenlehrer mit der Handarbeitslehrerin auf der Schultreppe getüßt, ja, er habe thr auch unter die Röcke gegriffen. Auch vor dem Rektor blieb Frieda St. bei ihrer Beschuldigung. Die Kleine ergänzte ihre Aussage noch dahin, daß sie heimlich zugesehen hätte, wie Herr Lehrer X. und Fräulein V. sich während der ganzen Freiviertelstunde auf der offenen Treppe beluftigten. Der offenbar gescheite und auch sehr geschickte Rektor fragte nun den Vater über andere Dinge aus, die Friedchen zu Hause erzählt hatte. Da tam z. B. zutage, die Hand­arbeitslehrerin hätte die ganze Klasse im Klassenzimmer mit Kuchen und Schokolade bewirtet, ferner wäre in der Schule ein zwei Meter langes Krokodil gezeigt worden, das in einer Badewanne in einer Klasse herumschwimme, viele von Friedas Mitschülerinnen hätten Läuse, die die Größe einer anständigen Wanze noch überschritten, und noch manche andere Wahrheit" von derselben Qualität. Frieda erwies sich nach der Untersuchung durch einen Facharzt als ein Schulfall pathologischen Lügens.

"

Der Fall Haarmann

Im Prozeß gegen den homoferuellen Massenmörder Haarmann traten zwei Fürsorgezöglinge K. und B. mit der Behauptung auf, daß Haarmann sie in sadistischer Absicht gefesselt habe. Besonders der Zögling K. machte einen durchaus günstigen Eindruck und schilderte mit äußerster Genauigkeit, wie er, schon an Armen und Beinen gefesselt, nur noch die rechte Hand frei hatte; wie er verzweifelt die Lampe padte und sie durch die Fenster­scheibe zu werfen drohte, worauf Haarmann ihn entfesselte. Aber dieser Eindruck verflog schnell, als der Leiter der Anstalt erklärte, daß R., ein erwiesen pathologischer Lügner, der Zeit nach, die er seiner Zeugenaussage unterlegte, für ein solches Ver­brechen des Haarmann durchaus nicht in Frage fomme. Der zweite Zeuge B., schon äußerlich als Psychopath zu erkennen, reproduzierte die Aussagen des K. vollkommen, beherrschte aber die Situation so wenig, daß man ohne weiteres die schlecht erfundene Lüge her­aushörte. Trotzdem wurden diese beiden gänzlich unglaubwürdigen Zeugen vereidigt mit der Begründung, der Richter habe feines­megs die Glaubwürdigkeit zu prüfen; das Gesetz verlange nur die Feststellung, daß die Zeugen nicht schon einmal ihre Eidespflicht verlegt hätten. Eine von den vielen vollkommen sinnlosen Eres gesen unserer Strafrichter.

Was ein Schaffner aussagte

Im Januar 1912 wurden an einem bitterfalten Bormittag der Juwelier Schulze, dessen Frau und seine Tochter in der Alten Jakobstraße in grauenvoller Weise ermordet. Ich habe auf diesem Gebiete viel Schreckliches gesehen, aber nie wieder der­art zugerichtete Menschenbilder, denen der Mörder mit einem flauen­artig gebogenen Stahlstück die Schädel förmlich zertrümmert hatte. Gleich nach der Tat meldete sich ein Autobusschaffner, der folgender= maßen aussagte: Ich fuhr durch die Sebastianstraße, als drei Männer auf den Autobus zuliefen. Sie blieben auf der Plattform, stellten sich an die linke Seite, einer gab mir 20 Pf., ich sagte, der Breis wäre nur 10 Pf. Mir fiel sofort auf, daß die beiden Groscher stücke blutig waren, ebenso die Hand. Ich sah ihn genau an, der Mann wurde über und über rot. Auch der zweite Fahrgast gab mir einen blutigen Groschen, auch der hatte blutige Hände, ebenso der dritte. Auch an den Stiefeln. sah ich große Blutspritzer. Ich habe fein Recht, Passagiere festzustellen, obmohl das ganz gut wäre. Bahnbeamte haben es und fönnen daher Verfügungen treffen. ( Diese Stelle der Aussage ist sehr wichtig. Sie deutet auf die Sucht, sich zu übersteigern und auf ein frankhaftes Geltungsbedürfnis hin.) Die drei Männer schäte ich, auf 23-25 Jahre." Der Schaff­ner erzählte dann weiter, mie die drei miteinander gesprochen hätten und am Görlizer Bahnhof von seinem Wagen abgesprungen

wären.

Der Polizei gelang es, dem Mann wenige Tage später brei Berdächtige gegenüberzustellen. Sie gaben an, sie seien allerdings an biejem Tage alle brei nach Treptow   hinaus zum Rodeln gefahren, aber nicht mit dem Autobus, sondern mit dem Pferde omnibus. Den Schaffner dieses Behikels ermittelte man und er bestätigte die Angaben der drei jungen Leute ebenso wie ein Speise wirt in Treptow  , bei dem sie gegessen hatten. Das war ihr Glüd, denn der Autobusfchaffner blieb fortgefeßt mit der größten Beharr­lichkeit bei seiner Aussage: Diese drei harmlosen Menschen wären blutbejledt, bleich und verstört mit seinem Wagen zum Bahnhof gefahren.

Ich habe den Mann aufgesucht, mit ihm, auch mit seiner Frau gesprochen. Er machte einen feineswegs auffälligen Eindrud, er frant nicht, tat als Beamter pünktlich seine Pflicht und war doch ein Illusionist, einer jener autofuggeftiven, leicht beeinflußbaren

steigt, die nun in einer Art seelischen Rausches weiter denken und handeln: deren hemmungslose Psyche die von außen überkommenen Eindrücke aus anfangs formlosen Gebilden zu einer schärfer ton­turierten Wirklichkeit heraufzüchten, da in ihr Reiz und Reaktion so heftig und schnell sich folgend ineinanderspielen, daß die Möglich­teiten der Kontrolle durch den Verstand ganz entschwinden. Der vielleicht noch gehegte Zweifel an der eigenen Zuverlässigkeit und Wahrhaftigkeit wird durch das sensationelle Bedürfnis, mit der ver­meintlichen Wissenschaft in den Vordergrund zu treten, immer mehr ausgelöscht, und jener seltsame Zustand, den jeder Flunkerer schon an sich beobachtet hat, tritt bei dem pathologischen Lügner gesteigert in die Erscheinung. Er glaubt selber fest und aufrichtig dnseine Phantasien; je mehr angreifende Zweifel sich da­gegen erheben, desto unnachgiebiger verteidigt er sie und wird, so­fern es nicht gelingt, ihn durch Gegenzeugen zu widerlegen, zu einem für den Angeklagten furchtbaren Schwurzeugen. Die Kriminalge­schichte ist reich an eklatanten Fällen, in denen Menschen auf lange Zeit ihre Freiheit, ja ihr Leben verloren, weil ein Zeuge die Schwur­hand gegen sie aufhob, der, ohne es zu wollen und zu wissen, einen falschen Eid leiſtete.

Wie steht's mit Kürten?

Wir stehen in diesen Tagen vor einem Kriminalfall, der an furchtbarer Graufigkeit nur etwa von den Massenmordtaten eines Denke oder Haarmann erreicht wird, und wir haben hier, wenn man den bisherigen behördlichen Feststellungen Glauben schenken will, den vollkommen einzigartigen Fall eines von vornherein geständigen Massenmörders vor uns. Peter Kürten   in Düsseldorf   hat nach jeinen eigenen Angaben mehrere Dugend Menschen er. mordet, zu ermorden versucht, ungezählte Brandstiftungen, Ein­brüche, Bergewaltigungen und wer weiß sonst noch für Verbrechen begangen. Ich beschäftige mich seit 30 Jahren mit Kriminalistik, und da ich weiß, daß in dieser Materie ohne eine vergleichende Kriminalgeschichte überhaupt nichts anzufangen ist, so habe ich alles erreichbare Material entweder selbst gesammelt oder aber die Sammlungen anderer studiert und bei meinen Forschungsergebnissen berücksichtigt. Aus dieser Wissenschaft erkläre ich, daß mir nicht ein einziger Fall eines wirklichen Schwerverbrechers bekannt geworden ist, in dem der Täter ohne physischen und psych i ichen 3wang überhaupt ein Berbrechen gestanden hätte. Ganz besonders fleine Segualverbrecher.

Die Serualität refp. die Erotik ist durch die christliche Heilslehre zu einem Stiefkind der Ethik geworden, und nur das Sakrament der Ehe kann für die Kirche die eigentlich feststehende Unmoral der Geschlechtsbeziehungen decken. Diese seltsame Kasuistit, das Dogma von einer in jedem Fall mit Ausnahme der Got esmutter befledten Empfängnis hat sich so tief in die christlichen Herzen hineingegraben, daß selbst die verunjtaltete Seele des Mo­nomanen davon nicht unberührt bleiben konnte. Auch er glaubt an

-

Und hier in diesem Peter Kürten   steht zum ersten Male cin Mann vor uns, der, ein erwiesener Krimineller, zweifellos böje Dinge getan hat, der aber wie ein Mordheiland die Berbrechen einer ganzen Welt auf sich nehmen will. Kürten   ist ein aus. gesprochener Herostrat. Er sehnt sich danach, der exa schrockenen Welt zu zeigen, was ein einzelner Berbrecher an Untaten leisten kann. Kürtens Gesicht zeigt den Monomanen und Psycho­pathen düsterster Qualität. Er gehört zu jenen Melancholikern lezz­ten Grades, denen das Leben( der anderen!) ein Greuel ist, vci denen sehr wahrscheinlich die Erotit, die immer in das Zeugen Ver­derben einschließt, nur noch Tod und Vernichtung bedeutet.

Wir haben in den Religionen, die immer der Ausdruck psycho= pathischer Uebersteigerung gewesen sind, Kultbeispiele, die ganz auf derselben Linie laufen. Die Zigeuner verehren in ihrer Göttin Bohwane das finstere Prinzip des Todes und des Verderbens. Ganz ähnlich wie die Assassinen   ihrer Todesgöttin Eblis als dem legten Heil huldigten. Die indischen Thougs opfern einer ähnlichen Gottheit mit der hanjenen Schlinge, die um einen Men schenhals fliegt, und beinahe alle Kopfabschneider unter den afrikani­schen Stämmen, den Australiern ebenso wie auf dem indischen Ar. chipel bringen die abgeschlagenen und im Rauch des Tempels ge dörrten Köpfe als Opfer ihren Götzen dar.

An diese Dinge muß man denken, wenn man die Taten unserer Massenmörder und besonders der Sexualmörder begreifen will. Der stärkste Atavismus, also das Zurückgleiten in die Urinstinkte der Menschheit, bei denen die Liebe aus dem Tode wuchs, wie sie auch in den Tod mündete, wird in solchen Individuen der Jektzeit, in denen verderbliche Einflüsse Hemmung und ethische Erkenntnis zer störten, wiederum urlebendig. In ihren Köpfen ist die Wahrheit und Wirklichkeit einem Urwald gleich, durch den sich niemand hin­durchfindet und der kaum in einzelnen Lichtungen begreifbar und verständlich wird. Das Seltsame aber bei solchen eigentlichen doch Menschen unähnlichen Individuen ist ihre fabelhafte Sug geftipfraft. Nicht allein, daß sie die Frauen mühelos sich ges fügig machen, sie erreichen es auch, daß sie die Zeugen ihrer Taten so unter ihren Bann bringen, daß diese entweder zur Entlastung oder aber zur Belastung wahrheitswidrig mit einem verwunder­lichen Eifer bereit sind.

Diesem sich immer wiederholenden Umstand schreibe ich es zu, daß im Falle Kürten die fast sinnlose Menge von Einzeltaten von den Zeugen fast durchweg gestützt und befräftigt werden. Man darf gespannt sein, wie sich ein solches Schauerdrama vor Gericht unter dem zweifellos kontrollierenden Einfluß des Richters entrollen wird.

Krisen unter Wilhelm II.  

Eine neue Ehrenrettung Eulenburgs

Es gibt zur Zeit in Deutschland   eine ganze Schule von historischen Schriftstellern, als deren Ziel man die Ehrenrettung des Hauses Hohenzollern   ansehen kann. Die Regierung Wilhelms II. foll von den Flecken gereinigt werden, die ,, mißgünstige Menschen" ihr bei­gebracht haben. Als ein besonders peinliches Stück der wilhelminischen Zeit gilt die Vorherrschaft einer allmächtigen Hofclique, der dunklen Kamarilla um den Fürsten Eulenburg. Der eulenburgische Kreis ist dann durch den Angriff Magimilian Hardens ge­sprengt worden. Der ungeheure Standal, der durch die Harden­Eulenburg- Prozessé hervorgerufen wurde, hat ganz besonders dazu beigetragen, schon in der Borkriegszeit die moralische Autorität der Hohenzollernmonarchie zu untergraben.

Der Graf, später Fürst, Philipp Eulenburg   war in den ersten 18 Regierungsjahren Wilhelms II. unbestritten der intimste und mächtigste Freund des Kaisers. Als der Skandal über Eulen­burg hereinbrach, hat sein kaiserlicher Freund ihn ohne Bedenken fallen gelassen. Troßdem gehört zur Ehrenrettung Wilhelms 11. unbedingt auch die Ehrenrettung Eulenburgs. Wenn sich nachweisen ließe, daß Philipp Eulenburg   fein unwürdiger Höfling, sondern ein bedeutender Staatsmann und makelloser Mensch gewesen sei, dann hätte es unter Wilhelm II.   feine Kamarilla gegeben, der Eulenburg­Standal hätte einen Unschuldigen getroffen, und ein besonders häß­licher Fleck vom Ehrenschilde der alten deutschen   Monarchie wäre geilgt. Wie man sieht, eine Aufgabe, deren Lösung für dieje Histo­riferschule sich lohnt.

"

Als erster hat, gestützt auf die Erinnerungen und Dokumente des Fürsten Eulenburg selbst, der bekannte Geschichtsprofessor in Tübin­ gen  , Johannes Haller, die Verteidigung Eulenburgs über­nommen. Anschließend an die Arbeiten Hallers ist nun ein neues umfangreiches Buch erschienen: Philipp zu Eulenburg  , sein Leben und seine Zeit, von R. C. Muschler, Leipzig   1930, Ver­lag Grunow." Muschler hat eine Menge Material gufammengetragen, vor allem aus dem Familienarchiv der Eulenburgs. Auch wer seine Auffassung nicht teilt, muß zugeben, daß hier ein interessanter und charakteristischer Beitrag zur Geschichte Wilhelms II. vorliegt. Freilich ist Muschler von schwärmerischer Bewunderung für Eulenburg erfüllt, der als der flügste und beste Mann seiner Zeit er­scheint. Wilhelm II.   wird im allgemeinen freundlich behandelt, und nur, sofern er sich von Eulenburg trennte, getadelt. Mit wilden Schmähungen werden dagegen die Bersonen überschüttet, die nach Meinung Muschlers am Sturz Eulenburgs schuid waren, vor allem Maximilian Harden  , dann Holstein und Bülow. Eine solche Verteilung von Licht und Schatten ist viel zu naiv, um auf tritisch geftimmte Leser zu wirken.

Eulenburg hat zwar eine ganz große politische Rolle gespielt, aber er hat sich im Grunde für Bolitit nur wenig interessiert. Seine wirklichen Gaben lagen auf gesellschaftlichem Gebiet. Als Dichter und Komponist, glänzender Klavierspieter und unübertroffener Erzähler luftiger Geschichten, hat Eulenburg den Kaiser bezaubert. So war er 18 Jahre lang der einzige Mensch, von dem sich Wilhelm II.   noch etwas lenken ließ. Eulenburg als des Kaisers Busenfreund" fonnte sich sogar manche Warnung und Mahnung er lauben, bei der jeder andere in Ungnade gefallen wäre.

"

Die alte Reichsverfaffung gab Wilhelm II.   die Allmacht in Deutschland  . Aber bei seiner hemmungslosen und nervösen Art drohte alle paar Monate das Staatsschiff zu scheitern. Dann mußte Eulenburg eingreifen und den Kaiser am Klavier mit Bal­ladengesang besänftigen, bis die Staatsmaschine wieder weiter gehen fonnte. Darin erblickte Eulenburg selbst sein großes Verdienst um Deutschland  , und Historiker, die ihn jetzt rühmen, betonen das gleiche.

Muschler selbst empfindet nicht, welch eine furchtbare An­lage gegen das alte System in einem solchen Zustand liegt. Das Wertvolle an Muschlers Buch besteht gerade darin, daß es diese Verhältnisse beleuchtet. Welch ein Chaos war damals die deutsche Politit, wie sah es am Hofe aus, welche Intrigen und Gehässigkeiten, gemischt mit romantischer Schwärmerei! Wie verhältnismäßig harm­los erscheinen die parlamentarischen Krijen der deutschen Republik, gemessen an der pathologischen Dauertrise des Kaiser= tums unter Wilhelm II.   Die Eingeweihten erwarteten eigentlich jedes Jahr den Zusammenbruch, und das Wunder ist, daß er erst im 30. Regierungsjahr Wilhelms II. gefommen ist. Bei der ungeheuren Machtstellung, die Fürst Eulenburg   von 1888 bis 1906 bejessen hat, ist er von der Mitverantwortung für die entscheidenden Fehler der wilhelminischen Zeit nicht freizusprechen. In dieser Beziehung war Hardens Offenfive gegen Eulenburg berechtigt. Daran tann all die Schimpferei Muschlers nichts ändern.

Daß der politische Feldzug Hardens gegen den Hof Wilhelms II. dann in widerwärtige Sittlichkeits- und Meineidsprozesse auslief, daran war nicht Harden schuld, sondern das rückständige deutsche Strafgesetz. Eulenburgs Künstlertum war von dem Niveau der Siegesallee  . Trozdem wird man diesem Heldenfänger", den das Schicksal in die Politik verschlug und der an ihr zerbrach, das mensch­liche Mitleid nicht versagen können. Aber was war das für eine Verfassung Deutschlands  , bei der das Geschick des Landes daran hing, daß ein Eulenburg die Nerven des Kaisers wieder arbeitsfähig machte!

Arthur Rosenberg