Beilage Freitag, 4. Juli 1930
Der Abend
Shalausgabe des Vorwäre
,.old- timer"
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Bonkers- Westchester, Mitte Juni 1930. Dishes "-Waschen ist vieler armer Amerikawanderer Anfang; Geschirrwaschen, dazu gehören feine großen englischen Sprachtenntnisse. Dazu würde man nicht mal in Deutschland eine vierjährige Lehrzeit vorschreiben. Ich habe versucht, der Tradition der das sind jene Leute, die schon vor der Prohibition in den Staaten lebten treu zu bleiben. Allerdings habe ich nich: treu zu bleiben. Allerdings habe ich nich: Teller und Tassen in irgendeinem Restaurant, sondern Töpfe" in einer 3uder fabrit gewaschen und überhaupt alles getan, was ſozuſagen am Anfang der geraden Straße zum„ sugarking ( Zuckerfönig) getan werden muß. Draußen, auf dem Wege nach Albany, in Yonkers am Hudson.
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Glüd muß der Mensch haben. Vor drei Tagen hat man im stillhouse", der Destillationsabteilung, einen Topfwajcher abgelegt", weil er verdächtig war, in einem bescheidenen Winkel eine 3igarette geraucht zu haben. Der Abteilungsleiter gibt mir das als erste Barnung mit auf den Weg. Für meine Bergangen heit interessiert sich der Betrieb durchaus nicht: schon ganz und gar nicht, foweit sie etwa in 3eugnissen attestiert wäre. Der Clert vermerkt in seinem Fragebogen nur, daß ich aus Deutsch land tomme, 27 lange Jahre alt, sonst aber gesund bin. Er will missen, ob ich gut sehen und hören tann, wieviel ich wiege, mie groß ich bin, ob ich das erste Einwanderungspapier habe. Dann nimmt mich der Vorarbeiter unter seine Fittiche. Heini heißt er; und im übrigen verrät ein Schymiz" über der linken Wange sofort den deutschen Akademiker. Das Geld hat nicht ganz bis zum Abschluß des juristischen Studiums gelangt... In der Destillations. abteilung sind überhaupt nur deutschstämmige Arbeiter tätig. Die Gewinnung reinen Alkohols aus der Maische ist in Amerita heutzutage Bertrauenssache; und draußen um das isoliert gelegene stillhouse wandern ständig einige Prohibitionsbeamte herum.
„ Es ist harte Arbeit hier, ich habe bei meinem Anfang als Topfwäscher oft die Zähne zusammenbeißen müssen", sagt Heini. Aber ich lasse mir doch nicht Angst machen. Mir imponiert einstweilen
mur das wöchentliche Einkommen von durchschnittlich
36 Dollar. Mit 15 Dollar fann man bei bescheidenen Ansprüchen
auskommen. 1500 Dollar Sparmöglichkeit in zwei Jahren
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find
das nicht respektable erste Schritte auf dem Wege zum Zuckerfönig? Immerhin: etwas bedenklich erscheint mir doch die elf stündige Tages- und die dreizehnstündige Nachtarbeitszeit. Und als ich gar zum erstenmal einen der Arbeitsfäle betrete und mir die stickigen Maische- und Alkoholdünste entgegenziehen aus einigen
der 20 mir anvertrauten ,, Töpfchen", die je 100 000 Liter fassen und
burch zwei Stockwerke gehen, wird mir erst heiß und gleich darauf
übet. Der stillman tontrolliert seine Meßapparate. Du bist wohl Brauereifachmann?" vermute ich.„ Nein", lacht er, aber penfionierter österreichischer Offizier. Und was ich hier verdiene, ermöglicht meinem Sohne das Studium an der Sorbonne und in Berlin . Wenn er fertig ist, gehe ich zurüd in die Heimat." Alber für Plaudereien erhalte ich durchaus nicht meinen Lohn. Schon tommt Otto, der 24jährige Bayer. Er hat es bereits bis zum Maischmann gebracht, der den Zu- und Abfluß der Maische in die Destilliertöpfe zu kontrollieren hat. Er soll mich mit meiner Allerweltsputzarbeit vertraut machen. Seine Frau hat er aus Bayern mitgebracht. Sie arbeitet in einer Wäscherei. In einigen Jahren wollen sich die beiden das Geld zum Erwerb eines Geschäfts in der Heimat zusammensparen.„ Das kann man hier, aber leben nicht!", sagt Otto und schmunzelt im Borgefühl des guten bayerischen Bieres, das er schließlich nicht Zeit seines Lebens entbehren kann.
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Inzwischen haben einige ausdestillierte Kessel ihren wertlosen Restinhalt in den Hudson entleert. Mittels eines Flaschenzuges muß ich die fünf Meter im Durchmesser großen eisernen Deckel hoch winden. Dice, alkoholgeschwängerte Dampfschwaden entströmen dem firupfarbenen Brei, hüllen mich ein und verabfolgen mir ein nicht crbetenes russisch römisches Bad nebst leichter Narkose; nur daß selbstverständlich die Liegefur hinterher nicht gewährt wird. Ganz im Gegenteil: die Schattenseite der guten Bezahlung der amerikani schen Arbeiter ist das bekannte furchtbare Antreiber system. Der foreman haftet dafür, daß jede bezahlte Minute die Höchst Teistung des Arbeiters bringt und daß die für jeden Arbeitsgang genau ausgerechnete knappe Zeit eingehalten wird. Kaum habe ich die Deckel hoch, muß ich mit Hilfe dicer Gartenschläuche die zähe, flebrige Maischmasse von den Wänden und dem Boden der Töpfe abspritzen, ein gutes Muskeltraining, wenn nur die Hize und die betäubenden Düfte nicht wären. Den Boden der Kessel fann man nur sehen, wenn man elektrische Lampen hinunterläßt. Ab und zu muß man hineinsteigen in die„ Töpfchen", das Werk der Reinigung mit Bürste und Lappen vollenden. Dann ruft man ..empty", bringt sich in Sicherheit, und eine neue Maischflut ergießt sich in den Kochtopf.
Auch auf mich lauert eine neue, schöne Beschäftigung. Ich muß painten". In meinem Leben habe ich nichts mit Pinsel und Farbe zu tun gehabt. Hier werde ich in einer Minute zum Maler" ausgebildet; in der nächsten sitze ich schon auf einem der Töpfe und verfuche, ihm eine Silberfarbe aufzudrängen. Ich finde, daß das ölige Zeug viel mehr Neigung zeigt, sich auf meinen Händen, meinem overall und meinen Schuhen festzusetzen.
Der Ruf des foremans hindert mich zunächst an der weiteren Vergewaltigung eines ehrbaren Handwerks. Der Abfallfasten ist übervoll; Otto und ich befördern ihn ins Freie. Draußen sind 90 Grad Fahrenheit, fein Lüftchen zittert durch die Sonnenglut. Wer noch feinen Sommer in amerikanischen Städten erlebt hat, fann sich so etwas Niederdrückendes von feuchtschwüler Tropenatmosphäre gar nicht vorstellen. New York hat an jedem Sommertag mehrere Hizetote. Ich wundere mich nur, daß ich mich bei dieser Temperatur in meinem heißen Kesselhaus bei der ungewohnten förperlichen Arbeit noch nicht völlig verflüssigt habe, obwohl mir ununterbrochen über Gesicht und Körper die Schweißbäche rinnen.
Nun rüstet man mich mit Strohbesen, Eimer und Schaufel aus. Irgendein Präsident will im Laufe des Nachmittags besich tigen". Alle Mann sind dabei, das Haus auf den hohen Besuch norzubereiten. Ich„, cleane", so gut es meine schwachgewordenen Arme noch erlauben; vor allem die aus Abellräumen heraus geholten Schreibtische, die der Sache einen wichtigen Rahmen geben follen. Komplizierte Apparaturen, sonst nie gesehen, werden auf
gebaut. Man muß seinem Gast doch etwas bieten. Ich auch, aber unfreiwillig. In einem oberen Saale bin ich fleißig dabei, die 3er beulten, rostigen Feuereimer mit frischem Wasser zu füllen. Wohin mit dem alten? Keine Abflußrohre, feine Becken. Aber einen ausgedörrten Bretterfußboden. Also rauf mit der Erfrischung! Dann habe ich nur halbe Schrubberarbeit. Was hilft die zu späte Erschmuzigen Wassers tropfen nach unten; bei meinem Bech natürlich tenntnis: der Fußboden ist durchbrochen". Feine Ströme des unmittelbar neben dem erlauchten Besucher und seinen gefchäftigen Führern vorbei.„ What the hell!" tommt der Abteilungsleiter in schönstem Slang angeflucht... Ich flüchte mit meinen ölfarbenen
Händen an den Terpentintopf.
Ohne sonderliches Entzüden aber brennend empfinde ich, daß Eiſentetten und rostige Eisenstangen und was dergleichen seit der legten Besichtigung sich zusammengefunden hatte, meine Hände gewaltig lädiert haben. Es ist schon hoch im Nachmittag und noch
| teine Zeit zum Lunchen gewesen. Eine halbe Stunde Bause, sogar eine mitbezahlte, steht mir aber zu in der elfstündigen Schicht. Schnell hinaus ins Freie, etwas essen und eine Zigarette rauchen! Fehlanzeige. Hinaus darf auch während der Bause niemand, eben, weil sie mitbezahlt wird. Da padt mich die Wut. Schmutzüberdeckt, matt, an Körper und Geist zerschunden Buderfönig fuchen wolle; vielleicht eine fleine Einheirat oder ähn erkläre ich Heini, daß ich mir lieber einen leichteren Start zum liche bequemere jobs.
Als ich Otto meine 5½ Dollar Tagesverdienst zeige, sagt er:
„ Dabei hatten wir Dich doch heute so schonend behandelt!" ,, once
but never again"( Einmal und nicht wieder) erwidere ich dankend und wandere in meinem schmuzigen Ehrenkleid davon. ,,' d you get a nice job?"( Haben Sie eine nette Arbeit gehabt?), empfängt mich dieser niederträchtige Mensch von Hotelportier...
Herbert Hartmann.
Wenn alte Leute erzählen.
Erinnerungen von Henni Lehmann
ein Jahr alt wurde. An ihrem hundertsten Geburtstag im Ich habe einmal eine alte Frau gefannt, die ein hundert und Jahre 1896 erschienen bei ihr zu offiziellem Glückwunsch Bürgermeister und Vertreter von E. E. Rat, einem ehrwürdigen Rat" der alten Seestadt Rostock , in der die alte Frau lebte. Ich hatte ganz unoffiziell mein blondhaariges vierjähriges Töchterchen zum Glüdwunsch mitgebracht. Die Herren erwähnten in ihren Ansprachen, was die Alte in jungen und späteren Jahren an geschichtlich Bedeu tendem miterlebt habe, sie hätte ihnen wohl, denn sie war geistig frisch und hatte ihre Erinnerungen bewahrt, antworten fönnen, daß sie den alten Blücher, den Mecklenburger, gekannt hätte, daß sie mit Frig Reuter zusammen gewesen war, bevor er seine. Festungshaft verbüßen mußte, und auch später, doch davon schwieg sie diesmal. fic, strich ihr mit der welken Hand über das helle Haar und sagte: ,, Als ich so alt war wie du, hatte ich eine Puppe, die hatte auch so blondes haar, aber damals waren die Puppen ganz anders wie heut", und dann erzählte sie ausführlich von der Puppe, die sie als junges Kind besessen und auch
Sie dankte den Herren ganz kurz, dann zog sie mein Töchterchen an
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einmal zu einem Geburtstag als Geschenk erhalten hatte am
gleichen Tage vor beinahe hundert Jahren. In dieser Erinnerung er
wachte ihr das Einst am stärksten zum Leben.
Zu andern Malen hat sie mir dann erzählt von dem alten Blücher, der immer seine Pfeife geraucht hätte, aber ,, nen ganz netten Kirl" gewesen wäre, und daß sie auf dem Lande einer Haustaufe beigewohnt habe, bei der Frizing Reuter", der damals schon ein berühmter Dichter war, Pate gestanden hatte. Er sollte das Kind halten, ließ sich dazu einen kleinen Tisch heranrücken, streifte die Rockärmel hoch, stützte die hemdärmeligen Arme auf, hielt die Hände flach, auf die man ihm das Kind legte, und sagte zu dem Pastor, der hinter den mit Blumen geschmückten Altartisch trat und anscheinend für den gefeierten Gast eine große weihevolle Rede vorbereitet hatte: Nu Pasting, maten's de Sach fort!" Alltagserlebnisse, die mehr ins Auge fielen für die Umwelt als die Großtaten. Vielleicht war dieser Umwelt auch erstaunlich, daß die berühmten Leute nicht ständig auf dem tragischen Koturn einher schritten. So hab ich mir den Dichter nicht gedacht", sang Johannes Trojan einmal sich selbst ironisierend.
Ein Beispiel hierfür ist auch, was mir ein alter Göttinger Professor, der aus der Familie Brentano stammte, erzählte, jeine Großmutter in Frankfurt a. M. sei immer höchst aufgeregt gewesen, wenn der„ Herr Geheime Hofrat von Goethe" zum Abendbrot erwartet murde, denn der sei recht verdrießlich geworden, menn einmal das Essen nicht so gut gemesen sei, und vor allen Dingen habe eine Flasche guten französischen Rotweins auf dem Tische nicht fehlen dürfen. Zunächst mar Goethe dann schweigsam, aber wenn er die Flasche Wein geleert hatte, wurde er gesprächig, und dann wurde es fein!".
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Mein Großvater.
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Mein eigener Großvater war geboren im Jahre 1797. Er erzählte mir als Fünfundachtzigjähriger, wie er einmal als Junge er war ein armer Junge gewesen sich ause nahmsweise eines fett geschmierten Schmalzbrotes mit Wurst erfreute, aber als er dies verzehren wollte, famen zwei zerlumpte hungernde französische Soldaten gelaufen, die ihm so leid taten, daß er ihnen sein kostbares Besitztum schenkte, mit dem sie weiter liefen. Das war im Jahre 1812. Es waren Flüchtlinge aus dem Heere Napoleons des Ersten. Mein Großvater lebte nicht allzu weit von der russischen Grenze. Die Erinnerung dieses großen Mitleids haftete als Abglanz der Weltgeschichte in seiner Seele. Doch häufiger und mit Vorliebe erzählte er von den 99 Windmühlen seiner Baterstadt Rawitsch . Es waren immer 99 und konnten nie 100 werden, denn wenn eine Hundertste errichtet wurde, dann brannte eine der andern ab oder wurde durch Sturm zerstört. Das hatte er selbst zu drei Maten erlebt, und alle Leute glaubten so fest daran, daß eine hundertste Mühle einer anderen der neunundneunzig Unheil bringen müsse, daß mun feiner mehr wagte, eine neue Mühle zu bauen. Der Großvater lächelte ein wenig, wenn er das erzählte, als spotte er über den Aberglauben, denn er war stolz darauf, mit der Zeit mitzugehen, er war immer ein Aufgeklärter" gewesen und hatte schon als ganz junger Mensch Schiller gelesen, was für diesen Ostwinkel Deutschlands wohl etwas ungewöhnliches mar, aber wenn er auch lächelte beim Erzählen, ein Restchen jenes Glaubens haftete doch noch aus Jugendjahren fest, hatte er doch selbst drei Mühlen brennen sehen!
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Sehr gern vergleichen alte Leute die äußere Lebensgestaltung ihrer Jugend mit der der Gegenwart. Da ist jetzt vieles fo anders geworden, besonders in bezug auf technische Errungenschaften, Verfehrsmittel und anderes. Das Früher, von dem die Alten erzählen, erscheint als interessantes Kuriosum, über das man lacht. Die Alten lachen mit, und doch, wenn sie davon erzählen, schwingt ein Ton von Behmut mit, Eigentlich war es früher doch
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schöner."- ,, Das Leben hatte damals mehr Romantit", hat mir mehr als einmal einer gesagt. Daran glaube ich freilich nicht. Die Romantit wohnt in jungen Augen und Herzen heut wie einst. Fragt unsere wandernde Jugend danach!
Alte Frauen beklagen fich.
Manchmal haftet die Seele der Alten so fest an dem, was in ihrer Jugend üblich war, daß sie die Umstellung durch die Zeit verwerfen. Dabei denke ich nicht etwa an die moralischen Werturteile über Degeneration und Berwilderung der heutigen Jugend:„ Wir hätten das nicht gedurft, als ich jung war." Mein Vater hätte jo etwas nie erlaubt!" und wie sonst bei denen, die die Jugend nicht verstehen, die
üblichen Klagelieder lauten, nein, ich denke an die technischen Errungenschaften, die vieles heut so viel leichter gestalten, als
es früher war, so viel neue Möglichkeiten schaffen. Und auch sie werden doch nicht gar so selten abgelehnt, es wird in dem Beralteten, Verlust zu beklagen ist. Eine sehr alte Frau fand die Verwas durch sie beseitigt wurde, ein schäßenswerter Besitz erblickt, dessen breitung der Nähmaschine so beklagenswert. Als ich jung war, habe ich alle Bettücher für meine Aussteuer mit der Hand genäht mit einem Hohlsaum rings herum, ganze 24 Stück. Somas fönnen sie heut gar nicht mehr!"
Eine sehr alte Fischerfrau auf der Ostseeinsel Hiddensee jaß von früh bis spät am Spinnrad und fand verwerflich, daß man fertige Wolle von fremden Schafen tause. Diese Frau war auch niemals von der Insel herunter gekommen, nur ein einziges Mal war sie mit einem Segelboot an der Westküste des benachbarten Rügen gewesen, in Schaperode. Aber das Reisen hätte doch keinen 3wed, meinte sie, und daß nun der Dampfer nach Stralsund ginge und die Leute hinüberführe in die Stadt, sei ein Unsinn. Sie ginge nicht in die Stadt, da sei es gefährlich. Da gäbe es so Diele Pferdewagen...
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Als ich als junges Mädel zum ersten Male eine Tanzgesellschaft besuchte, erzählte meine Großmutter, die einer wohlhabenden wie Du!"( Ich sollte in einer Droschke zweiter Güte vom Osten in Familie in Hannover entstammte: Ich hab's nicht so bequem gehabt den Westen Berlins fahren). Ich sollte zu meiner Schwester Lisette, die in Berlin verheiratet war, zu einem Hausball tommen, da mußte ich im Wagen von Hannover nach Berlin fahren; damals war es aber fünftlicher, das Haar zu frisieren als heut, mo Ihr es so in einem Dutt am Hinterkopf zusammentudert, und da mußte es mir meine Frisörin in Hannover machen, che ich abfuhr. Da durfte ich den Kopf nicht anlegen im Wagen, sondern mußte mir eine Rolle in den Nacken schieben, damit das Haar nicht drückte. Acht Tage bin ich gefahren so. Aber sonst war der Wagen bequem. Es waren Taschen drin für unser Essen und Bücher und Schreibgerät"
Aber noch vor zwei Jahren erzählte mir eine Neunzigjährige in München , wie sie als Mädchen mit den Eltern von München nach Wiesbaden reiste. Sie kauften einen Wagen, fuhren damit nach Augsburg , wo die Eisenbahn begann, wurden dort mitsamt dem Wagen in die Bahn geladen, fuhren den Hauptteil des Weges mit der Bahn bis zu deren Endstation, um wieder im Wagen das letzte Stück bis Wiesbaden zurückzulegen. So ging auch die Rückreise vor sich. Nach der Heimkehr wurden Pferde und Wagen wieder verkauft. In Rostock berichtete mir eine alte Freundin von der Empörung ihres Vaters über den Bau der ersten Eisenbahn( nach Berlin oder Hamburg , ich entsinne mich nicht mehr genau), und der Vater hatte ein großes Schreiben veröffentlicht, in dem er dringend warnte vor diesem Unternehmen, das die Rostocker Geschäfte ruinieren würde, da nun alles in die Großstadt fahren würde, um einzufaufen.
Meine eigenen Erinnerungen beginnen etwa ein viertel bis ein halbes Jahrhundert später als die jener Münchener Freundin meiner Mutter, aber es wird den Berlinern von heut auch wie ein Märchen flingen, wenn ich ihnen erzähle, daß ich als Kind im Jahre 1872 meine Großmutter besuchte, die auf Sommerwohnung" gezogen war in eine frei liegende Gärtnerei in der Berliner Straße in Charlottenburg , daß ich auf Hyazinthen- und Tulpenfeldern spielte im Osten in den großen Gärtnereien von Bouché in der Blumenstraße und von Limprecht, über Zäune fletterte auf die großen Egerschen Holzpläße, um zu ,, wippen" die Stadt endete damals hinter dem Frankfurter Bahnhof , dem heutigen Schlesischen. Ja... es war einmal!
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Auch die heutige Generation wird, wenn sie altert, erzählen von dem was war. Auch dann wird denen, die nach ihr kommen, vieles unwirklich, manches unbegreiflich erscheinen. Ich möchte wünschen, daß den kommenden zu diesen Unbegreiflichkeiten gehören möge, daß wir einen Weltkrieg erlebten, daß wir unter trassen Formen eines ungerechten Wirtschaftssystems seufzten. Die Jungen mögen dann stolz sagen fönnen: Es war einmal! Jezt ist es beffer geworden."