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Beilage Freitag, 1. August 1930

Der Abend

Shalausgabe des Vorwärs

Erbe des Wahnsinns!

Die Jahrgänge 1916-1918 klagen an

Und diese Frauen wieder, die oft tatsächlich den zahlreichen Berlockungen, des Hinterlandes trotz höchster Not. widerstanden, büßten ihre Treue mit schwerster Hysterie, die ihre Psyche oft gewaltig veränderte und sie seelisch und körperlich völlig her unterbrachte.

Es reicht weit über die Grenzen geographisch abgesteckten| wenn der Mann, vom Graben abgezogen, in die Etappe tam, Kriegsgebietes der Jahre 1914/18 das unbekannte Schlachtfeld. wo sich ihm genügend Gelegenheit bot, sich für die peinigende Ent­Keine noch so präzis gezeichnete Karte von Europa läßt es uns haltsamkeit zu entschädigen. Hier ergab er sich dann besinnungslos finden, feine noch so geschäftstüchtige Fremdenorganisation fann dem Alkohol und Serualrausch; Zwischenstation des Urlaubers uns dorthin bringen. Das Schlachtfeld, von dem hier die Rede auf dem Wege zur Heimat, zur Braut, zur Frau. sein soll, manifestiert sich weder in Brandruinen und Granat­trichtern, noch in jenem christlichen Symbol Kreuz, das in seiner geradezu grauenhaften Schlichtheit lafonisch den Schlußpunkt unter das Kapitel Leben jetzt. Dies unbekannte Schlachtfeld bildete den Schauplatz eines nicht weniger mörderischen, aber um so lautloseren Kampfes. Nicht Donner von Geschützen, Gefnatter von Maschinen­gewehren, frachendes Gewehrfeuer, Brüllen einer entfesselten Menschheit und Gestöhne Sterbender unterbrachen die Stille des Kampfes und fein Feuerschein von in Brand aufgehenden Städten und Dörfern hellte das Dunkel auf, in dem ein unbekannter Krieg als unvermeidliche Gefolgschaft des uns bekannten mütete.

fie es nicht gewesen, noch so manchen Ausgleich in der schweren psychischen Erschütterung hätte herbeiführen können.

Widerstände gegen frante Seime und wunde Nerven waren also nicht vorhanden.

Und so brach in den jungen Körpern das Unheil aus. Knochen­tuberkulose, Kinderlähmung, Epilepsie und schwere psychische Stö­rungen sind die Erscheinungsfolgen dieses Krieges im Dunkeln, auf dessen unbekanntem Schlachtfeld die jüngste Generation gefallen ist. Teilweise sind diese jämmerlichen Produkte einer verant

In diesem Zustande fanden Mann und Frau zueinander und wortungslosen Zeit durch ihre eigene Schwäche vom Leben erlöst zeugten Kinder.

Nun tam die Schwangerschaft. Die Frau in steter Angst um den Mann im Felde. Gesteigerte Angst nicht nur um das Leben des Gatten, sondern jetzt auch um das des Baters des werden­den Kindes, Schrecken, seelische Erschütterungen, die sich natur: gemäß auf das Kind im Mutterleibe übertrugen. Dazu gefellten sich die schwierigen Ernährungsverhältnisse, die Mutter und Kind entkräfteten. Frühgeburten oder schwere, für beide Teile

Während im Ardennenwald, um Verdun , in den Karpathen, an den Masuren und wo überall die Geißel des Krieges den ent­Hößten Körper Europas schlug, blutige Schlachtopfer gebracht wur­den, wurde auf unbekanntem Kriegsgebiete die Menschheit| mit Lebensgefahr verbunden, waren die ersten Anzeichen für ein bis in ihre Reimzellen vernichtet. Und das Furchts barste an all dem ist, daß die Opfer jenes Krieges im Dunkeln, die auf unbekanntem Schlachtfeld Gefallenen, nicht wie unsere Väter, Brüder und Freunde mit Kalt und Bergessen überschüttet in Massengräbern ruhen,

sondern leben, zwed. und sinnlos leben.

Das heißt: Essen, trinken, schlafen, gequält von Leiden und Siech­tum, im besten Falle noch, sich der Leere ihres Lebens unbewußt. Gemeint sind die Jahrgänge von 1916 an. Die im Kriege gezeugten Kinder. Die Generation, die heute vierzehnjährig und jünger vor den Krisen der Entwicklung steht, die zu bestehen startes, gesundes Fundament voraussetzt. Die Generation, von der die Menschheit Gesundung und Aufbau erhofft aus dem Birrfal und Schutt einer zerstörten Zeit.

Wie steht es mun um dieses Gebäude, das sich mählich über den Trümmern von Generationen zu erheben beginnt? Wer legte den Grundstein dazn, wie ist der Boden beschaffen, aus dem das Trag und Stühgensäuer wächst und welches Material wurde dazu verwendet? Fragen, deren Antwort, wir uns nicht schuldig bleiben dürfen, da sie über die Zukunft von Geschlechten zu entscheiden

haben.

Nicht die gründidste wissenschaftliche Untersuchung fann uns überzeugend genug die Vorstellung von Tatsachen geben, feine an­nähernde Ziffer uns Erschütterung abzwingen und zur Nachdent lichkeit stimmen, einzig und allein selbständiges Denten fann uns

schon in seinen Reimen vergiftetes neues Leben.

Die Kinder waren kaum lebensfähig, die Mütter unterernährt. Nur mit Mühe und aufopferndster Pflege gelang es oft die schwäch­lichen Säuglinge am Leben zu erhalten. In den folgenden Jahren gestalteten sich die Ernährungsverhältnisse immer schwieriger. Die förperliche Entwicklung der Kinder war dadurch gehemmt, die, wäre

worden, teilweise finden wir sie in Anstalten, wo Aerzte und Pfleger bemüht find, für die Zukunft zu retten, was es noch zu retten gibt, und ein anderer Teil wieder siecht in dumpfen Stuben und schmußigen Straßenecken dahin, unbeachtet, unerkannt von Menschen ihrer Zeit, die den Krieg wohl in seinen äußeren Er­scheinungsformen sahen und miterlebten, aber nicht von den relementen seiner Zerstörungstraft wußten.

Das unbekannte Schlachtfeld wird auch fürderhin unentdeckt bleiben für alle die, welche nicht selber unmittelbar von einem dieser zahllosen Opfer daran gemahnt werden. Die Stille dieser Opfer soll uns nicht über ihr Vorhandensein hinwegtäuschen. Es ist eine beängstigende Stille. Sie ist ein Mahnruf an uns, Heilung und Rettung, so weit es noch möglich ist, denen zu bringen, die schuldloser als alle auf dem unbekannten Schlachtfeld Europas fielen. Friedrich Lichtneker.

Westfront 1930

Reportage einer Reise durch die Schlachtfelder

Bilder am Meer.

Die graulichen Erinnerungen des langjährigen Völkermordens| begannen schon an der Nordsee. In den Dünen zwischen Blanten und bir she is often de stehen noch heute gut erhalten die Bunker

von den Unterſtänden aus Eisendraht und Beton, aus denen fich die langen Geschützrohre gegen die feindlichen Schiffe auf See richteten. Wenig abseits von der neuen, breiten Asphaltstraße, die sich am ganzen Strand zwischen den großen Badeorten hinzieht, auf der die elegantesten Wagen des Kontinentes zu den enorm ausgedehnten Golfplägen hinter den Dünen rasen, ist man noch immer am Auf­liegen aufgehäufte Stapel zusammengerollten Stacheldrahtes und hohe Pyramiden nicht explodierter Geschosse. Trotzdem findet man im Sande zwischen Strandhafer und Ginster noch immer Feldflaschen, alte Stiefel, Handgranaten und Splitter herumliegen, die vielleicht schon ein blühendes Menschenleben dahingerafft haben.

hundert Meter steht ein Schild an der Landstraße: To the english cemetry", mit der Angabe der hier beerdigten Truppenteile. Jeder Besucher fann seinen Ramen in ein Besuchsbuch schreiben und Wünsche äußern. Wir fanden darunter erstaunlich viel

evtl.

amerikanische Frauennamen.

Wo das Auge über das sonst wieder durchaus friedlich an­mutende Land schaut, stößt es auf eines der riesigen Stein freuze mit dem bronzenen Schwert, die neben den Fahnen und den gleichmäßigen Reihen der Grabsteine die immer zahlreicher werdenden Massengräber rund um Ypern bezeichnen. Am unordentlichsten sind die deutschen Friedhöfe mit fíeinen,

zu logischen Schlüffen zwingen und im Vergleich mit Tatsachen räumen der Kriegsreste. Zu beiden Seiten des Weges morschen Holzkreuzen und wenig oder gar feinen Blumen. Auf

Die Erkenntnis in uns härten.

Stoßen wir bis ins Borstadium der Entstehung dieser Gene

ration vor.

Unter welchen Umständen tam es zu ihrer Zeugung und wie war es um ihre Erzeuger bestellt?

Es gab so etwas wie Kriegsehen. Sie wurden mit geradezu neuzeitlichster Firheit geschloffen. Die Ehepartner fannten sich faum. Der Urlauber von der Front, liebeshungrig, augenblicstoll, griff nach irgendeinem Weib, das ihm der Zufall in den Weg spielte, und lebte sich für vierzehn Tage Ferien vom Tode satt. Folge davon war Schwängerung des Weibes und eine kurz entschlossene Kriegstrauung, schon wegen der Unterstügung, die der Staat der Kriegerfrauen gewährte und häufig als Spefulationsmoment bei Mädchen auftrat..

Der andere Fall: Der Mann, der zu feiner Frau fam; sie wie er gepeitscht von serueller Not, besinnungslos dem wilden Triebe hingegeben, achtlos aller Folgen, die ein Augenblic heißhungriger Lebensgier verursachte, oftmals aber auch gewünscht als Stüd von ihm, den sie vielleicht niemals wieder umarmen wird. Und er: Unbewußt instinkthafter Trieb nach Fortpflanzung, entsprungen

wilder Todesangst.

Todesangst. Die zu Hemmungslosigte it führte, zuletzt in Stumpfheit verfadte. In Viehwaggons verfrachtet rollte das Menschenmaterial zur Schlachtbant, als Bieh kam es zurüd. Und wenn der Mann von der Front auch weder durch Kugel, noch durch Stich verwundet war, als Invalide fehrte er jedenfalls zurück. Und welchen Grades diese Verwundung war, das läßt sich erst heute feststellen, weniger an ihm selber als an seinem 3eugungs­

produkt.

Es soll hier erst gar nicht von den trasfesten Fällen gesprochen werden, wo die Männer geschlechtstrant sich unbedenklich ihren Frauen näherten, die Krankheit nicht einmal verbergend, und Frauen wieder, die, wenn sie auch um die Krankheit des Mannes Bescheid wußten, sich dennoch nicht dem Triebe verwehrten. Diefe an sich verwerfliche Strupellosigkeit mar inpische Ausgeburt einer entfesselten Zeit und ihrer Menschheit, die von der Vernichtung und dem Tode gezeichnet war. Diese selbstzerstörende Hemmungslosig. feit, dieses sich bewußt Bernichtende ist allen Kranken eigen, die nur mehr ihrem Ende entgegen leben, den färglichen Rest Leben gierig wie einen happen Fleisch hinunterwürgen, fich selbst dabei

verzehrend.

Und Kranke waren sie, alle, die Männer und die Frauen. Krant geworden vom Hunger nach Segus und Brot. Zerrissene Nerven, die der minütlichen Spannung zwischen Sein und Nicht­sein nicht mehr standhalten konnten und eine bis zum Wahnsinn gesteigerte Gereiztheit auslösten. Und diese Komplete reagierten dann im Erzez ab. Onanie und Homosexualität waren dafür noch die harmloseren Formen; ganz andere Dimensionen erreichte er erft,

Auf der großen Düne an der ser, der letzten, die die Deutschen erobert haben, steht als einsames Zeichen das Grabmal eines blutjungen belgischen Leutnants. Er warf hier den Ansturm der deutschen Truppen entscheidend zurück und starb dafür. Noch jetzt liegen auf dem verlassenen Grabhügel die Knochen eines Soldaten und seine komplette Ausrüstung. Höhnisch grinst eine Gasmaske und die anderen Mordwerkzeuge der modernen Kriegstechnik. Halb verfault liegen diese unheimlichen Reste, die sicher verschiedene Besucher dort gesammelt haben, zwischen einem alten, schwarzen Perlenkranz und auch der legte Gruß seiner Freunde, ein paar verblichene Papierrosen, scheint schon lange zu

modern.

Kein Wunder, über zehn Jahre ruht jetzt wieder die Menschheit und die raftlose Zeit läßt alles vergessen, Böses und Gutes. Und langsam gehen wir zurück zum immer gleich bleibenden Meer, das in langen, ruhigen Wellen ans Ufer schlägt. Ein schönes Zeichen natürlichen Friedens in der untergehenden Sonne.

Und doch kann es auch wüten und toben, wenn der Sturm brauft und der Regen herniederpeitscht und die rasende Sturmflut das mühsame Wert der Menschen vernichtet.

Leider konnte ein rasender Nationalismus den größten Teil der plötzlich feindlich gegenüberstehenden Volksmassen ebenso aufputschen und eine Katastrophe herbeiführen, die schlimmer war als alle ver­heerenden Naturereignisse.

Doch wieder sehen wir, wie neues Leben aus den Ruinen er­macht, stärter und lebendiger denn je. Werden diese Menschen, die an dem nahe gelegenen Badestrand ihren Körper sorgfältig pflegen und frisch und gesund trainieren, ihr Leben wieder für ein un­finniges Völkermorden hergeben?

Die umftrittene Stadt.

In pern ist Hochtonjunttur mit Kriegsandenken, Besich tigungen der ehemaligen Front und der künstlich erhaltenen Stellun­gen und Unterstände, die von Kriegsinvaliden gezeigt werden. Auf diese Art zwingt man diese Menschen, die glaubten, ihren Körper fürs Baterland zu opfern, noch heute dauernd an das Feld des Grauens und den Ort, wo sie vor einem Jahrzehnt im Dred lagen und nach Hilfe schrien. Jetzt aber tommen Amerikaner und europäische Bummler, gut angezogen und vor Gesundheit strozend und beschauen die renovierten Reste jener Zeit, in der die meisten von ihnen es wohl vorzogen, daheim zu jizen.

Als demonstratives Denkmal ist die Kathedrale quf dem Marktplatz in Ypern zerschoffen stehen geblieben, während die übrige riesiges Siegestor für die gefallenen Briten, die während der ganzen Stadt vollkommen wieder aufgebaut ist. An der Fortmauer steht ein Dauer des Krieges die Stadt verteidigt haben.

Ueberhaupt sind die englischen und amerikanischen Friedhöfe musterhaft in Ordnung und die meisten Besucher der Schlachtfelder tommen wohl auch aus den angeljächsischen Ländern. Alle paar

den niedrigen Höhen am Kemmel und gegen Wyte chaete zu muß der Todestampf am tollsten gewütet haben; hier foftete jeder Hügel Tausende kostbarer Menschenleben.

Ein scheinbar friedlicher See ist in Wahrheit der Trichter einer riesigen Sprengung, mit der die Franzosen einen Teil der deutschen Stellung in die Luft gehen ließen

Im strahlenden Sonnenschein eines warmen Sommertages liegen die bestellten Felder fruchtbar und satt und die neuen, roten Ziegeldächer leuchten von weitem heraus. Das Land macht fast den Eindruck eines frischen Kolonialgebietes mit seinen neuen Straßen, an denen erst fleine Bäumchen stehen und dem niedrigen Buschwerk, wo einst Wälder waren. Auch die Menschen sind hier wieder zufrieden geworden. Ihr zerstörtes Gut wurde ihnen ersetzt und der flandrische Bauer spricht mit uns in seinem plattdeutschen Dialekt nicht Worte des Hasses, sondern: Nie wieder Krieg. Und er muß ihn ja fennen, denn er hat ihn wahrlich erlebt.

Noch 1930: Grauen.

Ganz anders ist das Bild an der ehemaligen französischen Front. In den Städten sind große Teile zerstört und auch im flachen Land erinnert uns manch bröckelnde Mauer und Häuserreste an die Jahre des Schreckens. Ebenso liegen noch große Bodenflächen brach, wo mur Gestrüpp und Unkraut wächst und riesige Sprengtrichter das Ganze zu einer Wüste machen.

Frankreich ist ein menschenarmes Land und die Aufräumungs­fosten sind gegenüber dem Ertrag viel zu hoch. Außerdem gehen die Reparationsgelder durch privatfapitalistische Hände, die sie natürlich nur zu hohem Zinssatz weitergeben.

Die zerschossenste Stadt, die wir sahen, ist Soisson. Hier ist wohl faum die Hälfte wieder aufgebaut und es ist kennzeichnend, daß inmitten verwüsteter Häuser ein großes Kriegerdenkmal gebaut wird. Also Geld für neue Verhegung ist da, aber nicht für Wohnungen, so daß viele Arbeiter in alten Holzbaraden außerhalb der Stadt in unbeschreiblicher Weise leben müssen, wie wir es selbst sahen. Selbstverständlich sind auch die Arbeiter und Bauern in Frankreich friedensfreundlich, wir haben mit ihnen ge­lebt, geschlafen und gegessen und nie ein hartes Wort gehört.

Graufig ist das Bild rund um Verdun . Auf der Strecke von Reims nach Verdun ist nichts als Einöde. Schüßengräben und Stollen sind noch erhalten. Kein Baum spendet Schatten in einer Hize, die alles ausdörren läßt. Kein Mensch läßt sich hier blicken, wo noch wahrhafte Kriegsgreuel zu sehen sind. Ab und zu be zeichnet ein Schild den Ort, wo früher mal ein Dorf gestanden hatte. Von dem größten Denkmal, das die Franzosen ihren gefallenen Soldaten auf Fort Douaumont gesetzt haben und der dortigen Schreckenstammer, wo die Knochen von Zehntausenden sorgsam fortiert aufbewahrt werden, ganz zu schweigen.

der Borkriegszeit wieder aufgebaut. In Verdun ist schon viel in demselben, alten, verbauten Stil

Schaudernd aber prägt sich das Bild der entfeßlich langen Grabesreihen ein, wo Mann an Mann in aller Eile verscharrt worden ist und nur ein simples Holzkreuz meldet: Hier liegen 4500 unbekannte Deutsche .

K. Moeller.