Morgenausgabe
Nr. 373
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47.Jahrgang
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Dienstag
este 12. August 1930
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Gewaltige Verfassungskundgebung des Reichsbanners/ Beteiligung von Hunderttausenden/ Paul Löbe gegen Treviranus.
Berlin hat seit langem teine so gemaltige Kundgebung| die Freiheit jedes Staatsbürger's und mir wollen darüber| volle Einzelstimmen, Lotte Leonard , Ida Harth zur Nieden, Bentur gesehen, wie die Feier, die das Reichsbanner Schwarz- Rot- hinaus auch den Frieden nach außen. Gold gestern auf dem Plage der Republik veranstaltete. Viele der Hunderttausende hat der Gedanke geführt: Die Republik wird bedroht, und wir müssen ihren Feinden sagen: Die Republit steht fest, weil sie von den Leibern ihrer Bürger verteidigt wird!
Dem Beschauer von der großen Estrade des Reichstages aus bot sich ein unvergeßliches Bild. Schon von den späten Nachmittagsstunden an hatten sich die Massen der Zuschauer aufgestellt, einer neben dem anderen, Kopf an Kopf, wie eine riesengroße lebende Mauer, von der man kaum glauben fonnte, daß sie noch weiter ausgedehnt werden konnte. Gegen 9 Uhr abends erflang vom Brandenburger Tor her Marschmufit, die Spize des Riesenzuges, der vom Schloß der Hohenzollern durch die Prachtstraße des Kaiserreichs marschiert war, wurde sichtbar. Beifall brach los; und das gewaltige Rund der Menschen wurde langsam von Fadel trägern umfäumt. Eine zweite Reihe um den ganzen Plaß herum! Man glaubte, jeßt sei es zu Ende, da der Anmarsch der Fackelträger unterbrochen schien. Man hatte sich getäuscht: es war mur eine der langen Rolonnen von Männern, Frauen und Kindern aus den Arbeitervierteln, die sich der Ortsgruppe ihres Reichsbanners, ihrer republikanischen Schußtruppe angeschlossen hatten. Die dritte Reihe, die vierte Reihe murde vollendet. Genosse Stelling, der Berliner Führer des Reichsbanners, sagte den Journalisten: Jeßt fommt der letzte Zug." Er hatte sich geirrt, es tamen ihrer
noch drei!
In das Dämmern dieses milden Sommerabends leuchteten unzählige Fadeln. Am Hause, unter dem wir standen, ist geschrieben: Dem deutschen Wolfe! Gestern zeigten die Berliner , daß sie dies Haus dem Bolte wirklich gewinnen
wollen!
Die Pforten des Reichstags öffneten sich: Einmarsch der Fahnen: Jubel über den ganzen Plaz. Nun hatte das Wort Reichstagspräsident Paul Löbe .
Reichstagspräsident Paul Löbe :
,, Wir begehen heute den Ehrentag der Demokratie in dem festen Willen, die Volksrechte zu verteidigen, in Begeisterung für das Ideal der Freiheit und entschlossen, unfern Staat zu einem wirklich sozialen Boltsstaat auszugest af ten. Aber mir verschließen die Augen davor nicht, daß dieses Mal der Gedenktag in ein schweres Jahr fällt. Eine gewaltige Wirtschaftsfrise ließ die Zahl der Erwerbslosen in erfchredendem Maße an schwellen, und die Finanzkrise des Reiches veranlaßte die Regierung das Parlament auszuschalten und mit dem Artikel 48 der Reichsverfassung zu regieren. Bor uns steht ein Wahlfampf, in dem es besonders bedauernswert ist, daß die Gruppen, die den Staat bejahen, nicht miteinander, sondern gegeneinander
fämpfen.
Wir Republikaner aller Richtungen wollen dafür sorgen, daß am 14. September der Volkswille die Entscheidung trifft und so die Rechte des Volkes sicherstellt!
Es ist eine Täuschung, wenn die Sorgen, in denen wir leben, der Demokratie und dem Parlamentarismus zur Laft gelegt werden. Wir haben die Wirtschaftsnöte ebenso im faschistischen Italien Mussolinis wie im bolschemistischen Rußland Stalins, ebenso im hochkapitalistischen Amerika wie in den bürgerlich- demokratischen Republiken und Monarchien Europas . Wir fämpfen für die Demokratie, weil wir jede Knechtung, jede Entrechtung, jede Unterdrückung unseres Boltes ablehnen.
Wir verbitten es uns, daß man das deutsche Volk unreifer und unfähiger als alle Kulturvölfer be.
wertet!
Das deutsche Voit steht höher als die Analphabeten im Osten und Güden Europas. Wir wollen das gleiche Recht für alle, wir wollen
Das sagen wir mit aller Deutlichkeit auch Herrn Minister Treviranus. Wir weisen ihn darauf hin, daß es in der Reichsverfassung außer dem Artitel 48 auch einen Artitel 148 gibt, in dem gesagt wird, daß in allen Schulen sittliche Bildung
im Geiste der Völkerversöhnung zu erstreben ist. Wir lehnen jede Diftatur ab, von welcher Seite fie auch fommen möge. Deshalb verteidigen wir die demokratische Republit, der unser Herz und unser Leib und unsere Seele gehören. Deshalb, Republikaner Berlins , rufen wir einmütig:
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Singer und Fermann Schen im Berein mit dem Bruno Kittelschen Chor, Mitgliedern der Müngersdorfschen Chorvereinigung, dem Gemischten Liederkranz, dem Berliner Philharmonischen Orchester und dem Berliner Sinfonie- Orchester machten die Neunte zu einem gewaltigen, hinreißenden Erlebnis. Diese Neunte wirfte wie ein Symbol zu den Grimmeschen Ausführungen, denn diese beiden großen Deutschen , Beethoven und Schiller , waren Deutsche aus tiefstem Herzensgrund und Weltbürger zugleich.
Abenteuerliche Pläne!
Katastrophenpolitifer Treviranus.
Bor einigen Wochen hat der Arbeitsminister Stegermald Machtvoll wurde der Ruf von den unübersehbaren Massen in einer Rede in Essen seinen Zuhörern verkündet, daß die aufgenommen. Die freie Republik dem deutschen Auflösung des Reichstags ein Anwachsen der ArbeitslosenBolte! Getragen von der Begeisterung, die aus dieser ziffer um mindestens 100 000 bedeute. 3wed dieser BehaupKundgebung sprach, wollen wir nun an die Arbeit gehen, datung war natürlich die Diskreditierung der Sozialdemokratie, mit der 14. September zu einer Entscheidung für den wirklich die ja nach der Zentrumsthese die Schuld daran trägt, daß sozialen Boltsstaat werde! Neuwahlen notwendig geworden sind.
Die Feier im Sportpalast.
Wir wollen uns mit Herrn Stegerwald nicht noch einmal über die Frage der Verantwortung auseinandersetzen, und wir tönnen ihm zugeben, daß in der Tat die Auflösung des Parlaments nicht dazu beigetragen hat, den Kreisen der WirtWahlbewegung als solche, aber die Ungewißheit über ihren Ausgang und über das, was dann kommen soll, mag sehr wohl lähmend auf den Unternehmungsgeist wirken und die Neigung, deutsches Kapital im Ausland sicher zu stellen, verstärken.
Ansprache von Kultusminifter Grimme. Schwarzrotgoldene Fahnen, schwarzweiße Fahnen und die rotschaft Beruhigung und Vertrauen einzuflößen. Nicht die weiße Stadtfahne mit dem Berliner Bären schmüden den Riesen raum des Sportpalastes, in dem die gemeinsame Verfassungsfeier der Reichsregierung, der preußischen Staatsregierung und der Stadt Berlin stattfand. Grünes Tannenreis mit schwarzrotgoldenen Bändern schlingt sich um das riesige Oval des ersten Ranges. Mit dem machtvollen Halleluja" aus dem Händelschen Messias unter Leitung von Bruno Kittel fezte die Feier machtvoll ein. Dann sprach eindringlich der preußische Staatsminifter Grimme.
Minister Grimme
ging von dem einigenden Erlebnis der Rheinlandfeiern aus. Das Einigkeitsgefühl sei im Leben des politischen Alltags schon wieder abgelöst durch die Sorge um den frisenhaften Zustand unseres öffentlichen Seins. Kommt dieser, wie man zu sagen pflegt, von der Neuheit des Parlamentarismus in unserem Lande? Diese Erflärung ist unzureichend. Die Staatsmänner der deutschen Republik haben in Zusammenarbeit mit dem Barlament sehr wohl Erfolge 3u erzielen verstanden: Das Rheinland ist frei! Und andere Länder mit alter parlamentarischer Kultur sehen sich in unserer Zeit Dor Aufgaben gestellt, deren Lösung nicht gelingen will. Was mag also die Wurzel selcher übernationalen Krisenhaftigkeit des Parla mentarismus jein? Sollte nicht eine dieser Wurzeln darin zu suchen sein, daß allen Parlamenten Aufgaben zugewachsen sind, deren Lösung über den Rahmen der einzelnen Nation hinausgreift? Die Weltnot der Arbeitslosigkeit allein beweist dieses. Solchen Tatsachen gegenüber besagt die Wendung von der Jugend des Parlamentarismus so wenig wie das bloße Hoffen auf eine neue Jugend im Parlament oder das Spielen mit dem Gedanten einer Diktatur!
Ein Schuß jugendlicher Aufgeschloffenheit und Beweglichkeit täte wohl unserem politischen Leben gut. Wir brauchen Menschen, die einsehen und bereit sind, die Folgerungen daraus zu ziehen, daß jedes Bolt in einem Doppelreich lebt, in einem übernationalen Reich der Wirtschaft und des Berkehrs und zugleich im geistig- seelischen Bezirk der Nation, Menschen, die, national empfinden, das übernationale Ziel verfolgen: die von der ein zelnen Ration allein nicht zu leistende Durch organisierung der Weltwirtschaft. Der tiefe Sinn der Reichsverfaffung ist, daß jeder Mensch und jedes Volk zur Entfalfung seiner selbst fommt. Daß Deutschland ein Land freier Gelbft entscheidungsmenschen werde, fei so schloß Minister Grimme- unsere Hoffnung und unser Wunsch, wenn wir rufen: Das in der Republit geeinte deutsche
Bolt
-LOOOOO
es lebe hoch..
Die Rede, ein Bekenntnis zum Bolf und zu übernationaler Berständigung, fand anhaltenden Beifall.
Eine Krönung der Feier mar die 9. Sinfonie Beethovens mit dem Schlußchor Schillers„ An die Freude " unter dem beseelten und temperamentvollen Dirigenten Abendroth aus Köln . Pracht
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-O
Wenn wir das jedoch als richtig unterstellen, so möchten mir gern von dem Arbeitsminister hören, was er von seinem Kollegen Treviranus denkt, der frisch und fröhlich erflärt, man sei im Einklang mit dem Reichspräsidenten entschloffen, den Reichstag so lange immer wieder aufzulösen, bis er sich zur Verwirklichung der geplanten großen Finanzreform willig zeige. Treviranus gehört doch schließlich dem Kabinett an, und bei all seinem Geetadettentemperament so sollte man annehmen wird er feine Auffassung vertreten, die in un mittelbarem Gegensatz zu der des Leiters der Regierung stände. Außerdem ist er es ja auch gewesen, der seinerzeit bei der Bildung des Kabinetts Brüning als erster die Anwendung des Art. 48 in Aussicht stellte, und er unterschied sich von dent Reichskanzler dadurch, daß er aus seinem Herzen feine Mördergrube machte und das, was dieser zu verschweigen noch für zweckmäßig hieu, laut und vernehmlich in die Welt hinausrief.
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Wenn nun aber schon eine einmalige Auflösung die vers heerenden Folgen nach sich ziehen soll, die Herr Stegerwald
androht, wie verhängnisvoll würde dann erst für das Wirts schaftsleben eine einmalige oder gar mehrmalige Wiederholung des Experiments sein! Statt der immer wieder versprochenen Ankurbelung würden wir Rückschläge erleben, von benen sich Deutschland so leicht nicht wieder erholen könnte. nicht Rettung würde uns gebracht, sondern ein Chaos täme über uns, das durch Verordnungen auf Grund des Art. 48, zu dessen Erlaß sich dann neue willkommene Gelegenheiten böten, nicht zu überwinden wäre.
Die Finanzreform soll unter allen Umständen durchges führt werden. Aber Herr Treviranus sagt uns nicht, welche Finanzreform, und wir haben nach den Erfahrungen der letzten Monate wohl das Recht, anzunehmen, daß es wieder eine solche sein soll, die ausschließlich auf die wünsche und Interessen der bürgerlichen Parteien und der hinter ihnen stehenden Cliquen und Berbände zugeschnitten ist. Daran soll sich offenbar auch dann nichts ändern, wenn die Wahlen nicht das von der Regierung erhoffte Ergebnis haben, das heißt wenn die