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trude S. Schuls: Sßttlß

?lndreas Limmer steht auf der Straße, die hier noch eine Art Landstraße ist. Sie läuft schnurgerade noch rechts und links, breit, ohne Häuser, von Hecken und Zäunen eingefaßt und von zwei Boumseiten durchzogen, die sich immer dichter zusoinmendrängen und in der Ferne schließlich miteinander und mit dem Himmel und Erde oerschmelzen. Andreas ist solche Weite nicht mehr gewohnt. Seine blinzelnden Augen suchen einen Halt auf dem Bretterzaun gegenüber, auf dem ein riesiges, orangefarbenes Schild verkündet, daß Ilnioersalreifen die besten der Welt seien. Das ist nicht weiter interessant für ihn: Andreas Limmer hat kein Auto. Aber die schwarzen Buchstaben auf dem knallig leuchtenden Plakat zwingen den Blick, der stch in der endlosen Weite der Straße verirren mnllte, beruhigend aus ein nahes, deutliches Ziel. Und Andreas liest immer wieder den Saß und murmelt ihn wie ein Gebet: Unioersalreifen sind die besten der Welt. Er merkt erst, daß er nicht allein auf der Straß« ist, als Schritts dicht neben ihm aufklingen. Vielleicht sind es auch nur die erstaunten Blicke, die ihn aus feiner Berfunkenhcit mcckcn und ihn daran erinnern, daß er nicht ewig an dieser Stelle stehen kann, sondern irgendeinen Entschluß fassen muß. Das ist plötzlich sehr rasch getan: die Menschen gehen noch links weiter, Andreas geht nach rechts, im Eiltempo, als könne er es gar nicht erwarten, sein Ziel zu erreichen. Andreas Hot die Richtung eingeschlagen, die zur Stadt führt. Die Straße wird bald belebter: Nebenstraßen schneiden herein und tragen ihren Menfchenstrom an ihm vorbei. Der Lärm des Großstodttages verwirrt Andreas auf eine bisher ungckamüe Weise. Er bewegt sich vorwärts wie in einem fremden, feindlichen Element. Sein Gesicht rötet sich: sein Herz schlägt in raschen, un- gleichmäßigen Stößen. Die Bohnensuppe, die er mittags herunter- gelöffelt hat, ohne Hunger, mit Widerwillen sogar, nur, um den Magen für die nächsten Stunden zu befriedigen, quillt mit ekelhaft bitterem Geschmack in den Mund herauf. Er fühlt sich von den Menschen bedrängt und haßt sie, ob sie vorübergehen zu zweien oder dreien, zusammengehörig, redend, lachend, oder einzeln, eilig, unbeschwert, manche auch mit dem Kennzeichen irgendeines Be- rufs ausgerüstet. Andreas stolpert fast über das Holzbein eines Mannes, der gegen ein Haus gelehnt sitzt und mit weinerlicher Stimme Zündhölzer feilbietet. Er haßt auch diesen Krüppel. Auch der hat schließlich seinen Platz im Tag. ist auf seine Weise mit dem Leben verbunden. Nur Andreas ist abgeschnitten vom Leben. Er denkt an dos Wort: abgeschnitten, und dabei kommt ihm eine Er- innerung aus dem Kriege. Er sah, wie in einem hellen, sonnigen Zimmer, wohl dem ehemaligen Speisesaal eines Schlosses, ein Chirurg mit reinlichem Schnitt ein Stück von einem lebendigen Körper loslöste. So ist er jetzt vom Leben abgetremit, ohne daß ein Fädchen hängen blieb. Saubere feierliche Herren haben das getan in einem sauberen feierlichen Saal. Andreas Linnner, ein- mal lebender Teil! eine? Ganzen, wurde herausgeschnitten und in einer Gefängniszelle begroben. Für immer. Der jetzt durch die �traßen geht, ist ein gan,z anderer. Eigentlich ist er über- baupt nichts mehr. Es gibt da noch«ine andere Kriegserinnerunz: . Im Lazarett war einer, dem hatten sie einen Finger weggeschossen. ..Es ist doch komisch/ sagt« der mal zu Andreas,manchmal denke ..fch, der Finger tut mir web, und dabei ist er gar nicht mehr da/ Andreas geht schnell, wie im Traum. Bisweilen redet er ein paar Worte laut vor sich bin, macht eine Handbewegung. Dann bleibt er einen Augenblick stehen, rennt wieder weiter. Er stößt Menschen an, zwingt Autos zum Abstoppen, wird von Schupos zurechtgewiesen oder mitleidig als Geistesschwacher behandelt und über die Fahrbahn geführt. Man schimpft hinter ihm her oder sieht ihm lachend noch. Andreas, mehr noch bedrängt von dem Chaos seiner Gedanken als von dem Getriebe der Stadt, flüchtet 'in stillere Nebenstraßen. Er steht still und versucht auch innerlich ein wenig Ruhe zu schaffen. Aber er kann zu den Dingen der Um- lt in keine Beziehung kommen.Ich bin frei", sagt er, und die Worte bleiben sinnlos wie unverstandene Vokabeln einer fremden Sprache. Plötzlich denkt er:Es muß jetzt zwei Uhr sein." Das hat nun endlich einen Sinn: doch der Satz gibt Andreas auck kein«? Verbindung zu dem Leben, in das er jetzt gestellt ist, sondern er erinnert nur, daß dieses eigene, seltsame Dasein vor einer Stunde vor der Gefängnistür begann.

Andreas fühlt eine stumpfe, schwere Müdigkeit und eine schmerzhafte Sehnsucht, aus oll dieser Bedrängnis wieder spurlos herausgleiten zu dürfen. Aber er begreift, daß er vorläufig in den: Tag gefangen ist wie bisher in den vier Wänden seiner Zelle. In angestrengtem Sinnen vergraben sich seine Hände in den Hosentaschen. Dabei bekommen sie den Hausschlüssel zu fassen. Seine Frau hat ihn gebracht, damit er unbemerkt in der Dunkelheit kommen kann und nicht von den Spießruten der neugierigen Blick« gepeitscht wird. Zärtlich und sehnsüchtig sieht er dos Bild seiner Fro-u, seines Kindes, seiner kleinen Wohnung vor sich. Nein, das geht nicht. Er muß es rasch fortwischcn, sonst packt es ihn wieder wie manchmal in seiner Zelle und er muß oufbrüllcn, ocrzweisell und haltlos. Andreas strebt ins Freie, heraus aus dam Getriebe der Straßen, fort aus der bedrückenden Nähe des Gefängnisses. Breit, mit vielen Ausläufern, streckt sich die Stadt ins Land. Aber endlich mischen sich unter vereinzelte Häuser schon die ersten Vorlwifer des Woldes, dürre, hochaufgeschossene Kiefern. Eine Eisenbahn rattert nach in der Nähe. Und dann ist olles verschwunden, was an die Menschen und ihre Geschäftigkeit erinnerte. Sonne gleitet an rötlichen Baumstämmen herab, läßt Farn büschel grüngolden ausleuchten und lockt zu warmen, trockenen Lagerplätzen. Bogelrnfe klingen auf: ein Specht hämmert im Takt. Manchmal raschelt es im Gras wie von einem flüchtenden Tier. Andreas strengt alle Sinne an. das in sich aufzunehmen, was die Menschen poetisch Frieden des Waldes nennen. Er spürt nichts davon. Er fühlt sich in dieser Umgebung ebenso bedrückt und un- heimisch wie in der Stadt. Er muß daran denken, daß es eins Zeit gab, da stand er zu dieser Stunde noch an seinem Arbeitsplatz in der Fabrik. Aber ein wenig später schrillte die Sirene und die Maschinen standen still. Man wusch sich: sehr sorgfältig ein Spiegel mußte die tadellose Sauberkeit bestätigen: denn am Bahn- hos wurde man erwartet. Da stand Lene mit dem Kinderwagen. in dem die kleine Ursel krähte. Und dann bemächtigt« sich der Vater des Wagens und holterdipolter ging es die leicht geneigte Strotze herunter. Wenn der Wogen zwischendurch mit einem plötzlichen Ruck anhielt, quietschte Ursel vor Vergnügen, und Lene schalt, er soll« bloß das Kind nicht herausfallen lassen. Aber sie lochte da- bei: denn sie war eigentlich gar nicht besorgt, sondern sie wollt« nur zeigen, daß sie auch noch da war. Dos olles liegt fern ob, unwirklicher als ein Traum. Andreas starrt in die Dunkelheit eines unvorstellbaren Morgen. Nichts ist geblieben. Wie mochte Lene sich durchs Leben schlagen? Nun hat sie einen Sträfling zum Mann. Die kleine Ursel hat den Dater sicher vergessen. Die fröhliche Heiterkeit der ersten sechzehn Monate ihres Lebens ist für sie ausgelöscht, für immer ausgelöscht. Oft im Gefängnis hat Andreas es überdacht, ob es nicht dos beste sei. gleich hinterster sich möglichst still und unauffällig au? der Welt zu stehlen. Aber da war der Gedanke, daß er es wenigstens versuchen müßie, Lene und dem Ämd das Leben wieder ein bißchen leichter zu machen: und ganz im Hintergrunde schlummert eine winzige Hoff- nung auf irgendein Wunder, dos die alte, glückliche Zeit wieder zurückruft. Andreas steht an einem See. Cr kennt die Stelle wieder. Hier stoben Lene und er öfter gebadet,� als Brautpaar und auch später noch, est« Ursel geboren wurste. Wenn er hier hcraussckwimmt, sich ein wenig tragen läßt van dem dunklen, durchsonnten Wasser, und dann hineinglcitet? Kein Mensch ist in der Nähe? Er wäre ver- schwunden. Vielleicht würde man ihn nie finden. Das Wasser lockt verführerisch. Aber plötzlich macht Andreas kehrt und läuft wie gehetzt in den Wald hinein. Er darf es nicht. Und er gesteht es sich«in: er möchte auch Lene und Ursel wieder- sehen. Die Zeit vergeht unerträglich langsam. Endlich ist es soweit, daß Andreas den Weg zur Stadt«inzuschlagen wagt. Aus den ersten Häusern blinzeln schon die Lichter: die Borstadtstroßon lieqen still. An der Innenstadt hastet noch der Verkebr. Andreas läßt sich von ibm vorw.ärtstreiben, durch die von Lichtreklame über- stroblte Geschäftsgegend in das altbekannte Wohnviertel Der Abend ist kühl geworden: doch das Hemd klebt Andreas an dein schweiß- bedeckten Körper. Die Gedanken ruhen jetzt. In seinem Kopf herrscht eine dumpfe Leere.(Schluß folgt.)

M. coray: 3)ie �Königin Joltaitvia

Der Abend ging in hartem Rot unter. Um die schwarzen Mauern des Schlosses hing schon Kuhle. Die Königin Johanna stand am Fenster und spähte hinab. Wieder einen Abend, wie so oft. Sic war frisch, jung und schön, mit lichten Haaren, blauen Augen, einem kleinen, üppigen Mund« einem ungeküßten Munde. Sie war in das Land Böhmen ge­kommen, ein Kind noch, zum.zehnjährigen Gemahl. Sie wurden ober einander nicht freund, wie Kinder es tun. Er gewöhnte sich an sie, und wandle sich fort. Sie mar eines mehr von diesen Dingen umher, die ihn nicht interessierten, aber für ihn da sein mußten, wie das Land Böhmen , wie seine Krone. Er liebte nur: bie Jagd, Gelage, feine wilden Hunde. Er haßte den Adel und die Pfaffen. Äußer diesen Dingen von Liebe und Haß gab es nichts Sonderliches für fein Leben. Die Gier noch Geld, das ihm zum Mittel diente, war Unterton und Werkzeug der übrigen. Der böhmische Adel Hatzte den Luxemburger. Der sah es mit Hohn. Unterrichtet, talentvoll, gebildet, von aufgeklärtem Geist, mit strengem Gerechtigkeitsgefühl, war er emporgewachsen eine Hoffnung! Aber alle Eigenschaften kamen zu der scharfen Höh«, wo sie sich zu Unrecht, Schuld und Laster bogen. Ueber die reisen Felder, über Klee und Wiese gingen die tollen Jagden hin, unter den Hörnern der Piköre, dem Kläffen der Lancierhunde, dem dumpfen Geheul der Meute, dem Schreien der Hundejungen. Da flüchtete Volk, Mönch und Landfahrer auf Bäume und in Gräben, und der böhmische Adel flucht« und ballte die Faust, wenn die goldenen Breiten niederbrachen unter den jagdwilden Rennern, den Leithunden, der Hundertmeute von Schweißhunden. Denn König Wenzel liebte die jranzösische Jagd. Selten ging er auf Anstand, und selbst wenn er mit der Bären- feder zur Sauhatz ging, mußte ein Troß um ihn fein. Was waren ihm Felder und Saat, was Recht oder Not was gingen den König Wenzel Seelen an, Se�en, die glühten oder bluteten? Nur diese schweren, brutalen, herrschsüchtigen Hunde waren ihm lieb, sie füllten seine Gemächer, ihr Geheul klang aus dem Zwinger. Er dachte nicht an die Königin Johanna, ihren schönen. Ijebessrohen Körper. Der Abend mar dunkler geworden. Da klang das Lärmen der heimkehrend«- Jagd herauf. Fackeln loht«-. Rauch schlug drüber

hin, aus dem heftigen Bewegen löste sich einzelnes, rote Lichtfohnen fuhren über den Hof. König Wenzel gipg in die Holle und warf sich in den breiten Armsessel am Feuer nieder. Die knatternde Wärme tat ihm wohl. Er streckt« sich, stürzte einen heißen Wein hinunter und klopfte seine Lieblinge, die um ihn logen, schwere muskulöse Tiere, mit bösen rolen Augen, Lefzen, die stets die Zähne wiesen. Ein schweres, seidenes Raufchen, ein leichter Fuß, der Licht- schimmer flackerte über das helle Gesicht der Königin Johanna, das über dem Brokat blühte. Seid Ihr zurück, mein Gemahl? Wiq war die Jagd?" Ihre blauen Augen waren glücklich. Gut", sagte Wenzel träge. Seine linke Hand spielte mit den Hunden weiter, deren Schnauzen noch nach dem Blut des zer- wirkten Hirsches rochen. Die Jäger und Hundeknechte brachten das ousgeschärit« Fletsch herein, der Jägermeister die Borderläufe der erlegten Hirsche mit dem welkenden Bruch geziert. Geschäftiges Hin und Her, dem Wenzels Blicke folgten, dos sein Blick spornte. Weidmesser und Iagdspieße klirrEn. Da stand schwerfällig der eine Bracke aus, der andere, der Windhund hotte feinen Kopf auf den Knien des Königs liegen und rührte sich nicht, aber die große Dogge schob sich langsam zwischen den Stuhl und die Knie Johannas, stark, zwingend, wie ein Keil. Sie mußte ihre Hände von der Hand des Königs auf der Arm- lehne zurücknehmen. Eure Hunde mögen mich nicht", scherzte sie.sie stellen«inen Wall zwischen Euch und mich." König Wen-el lachte.Sie wissen, daß sie an mich dos erst« Anrecht haben. Der Mark hat heute dem Jägermeister nach der Hand geschnappt, als er mir den ersten Borderlauf bot. Sie sind klug und eifersüchtig, die Bestien." Jobanna wollte ihre weiße Hand sorglos auf den breiten Kopf der Dogge legen, ober sie wies ihr mit einem drohenden Knurren, dos bedenklich aus der breiten Brust oufltieg, die Eck- zähne. und das Rot in den Augen war tückisch. Die Königin trat erschreckt einen Schritt zurück. Die Tiere gingen mit ihrem stampfenden Schritt auch zum Schlasraum des Königs mii und lagerten sich auf dem Boden und am Kamm.

f Plötzlich knarrte ifcr schwere Türflügel. Die Nackflampe flackerte, mit wütendem Anschlagen stürzte der große Rüde vor. Zurück!" donnerte Wenzel. Er hotte die weiße Hand der Königin in den Falten des Türteppichs gesehen. Er warf sich herum. Nun so komm", sagt« er gleichgültig. Die Hunde", flüsterte sie bang. Mit einem Fluch sprang Wenzel auf und trieb sie vor die Tür. Dann hielt er seidiges Blondhaar und blühende.Haut m seinen Händen und fühlte das Ausstrahlen der beglückten Jugend an seiner Brust. Der Morgen war noch fern, als sie ihn verließ. Er schlief und atmete kräftig. Fröstelnd zog die Königin Johanna ihr Gewand über der Brust zusammen, ihr gelöstes Haar fiel darüber hin. Um den Mund lag ein versonnenes, beseeligtes Lächeln. Sie lauschte in den Borsaol hinein, ging. Ueber die Diel« lagen schmcre, dunkle Körper ausgestreckt. Der eine stand auf, der andere oll« Hunde standen auf. Sie flüchtete rasch und bong zur Tür. Die Hunde folgten ihr. Sie wollte die Äür hinter sich zuwerfen da zwängte sich der starke Rüde dazwischen und drängte sie aus. Umraschelt von ihrem Brokat, mit wehendem Haar floh sie den Gang hinab die Bluthunde in dumpfen Sätzen ihr nach Sie erreichte ihr Gemach, sie faßte den Türgriff da standen die Hunde wie eine Mauer um sie. Die Königin Johanna schrie auf und fiel in die Knie.Heiliger Gott !" Da schnappte die große Dogge zu.

Werner Xichler: lUujihalUche Schweis Im Konton Tessin wird die Schweiz musikalisch indem sie italienisch wird. Oder soll man sagen(was man genau so gut könnte), Italien werde hier schweizerisch? Wie dem auch sei, in diesem in den Süden hineinragenden schweizerischen Dreieck, wo die Edelkoftonie ganze Gebirgstäler rauschend erfüllt, wo auch die furchtsame Kalla sich im Freien öffnet und Zitronciiböumchcn mit weißgekolkten Stämmen in Ho/zkübeln gezogen werden, in dieser Schweiz , die dabei nie aufhört, Schweiz zu sein, ist das zu allererst Ueberrajchcndc die plötzlich«, allgegenwärtige Musikalität. Im elementarsten Sinne schon: es wird überall musiziert. In den Städten findest du immer wieder jemanden, wie jenen Schuster, der in Lugono in enger Altstadt in tiefem, fast Uchtlosem Keller hockt, bis in die Nacht sein Leder hämmert und dennoch mit dem Tremolo seines Gesanges, ein wenig näselnd, ein wenig schluchzend, unaufhörlich die Gass« erschüttert. Musik ist schlechthin überall. Der emsige Anstreicher etwa mit dem hübschen Mussolinikopf, über den Locken eine alte, farbbespritzt« Kaffeetiite, der von hoher Leiter herab einer Hausmauer ein behutsames Rcsedagrün verleiht, er pfeift ganze Vcrdi-Arien klar und reinlich bis zur letzten Note. lind wenn abends in Bellinzona etwa die Arbeiter aus den Stein- brächen heimkehren, so bleiben sie noch lange vor dem kleinen, aus der Straße spielenden Eafehausorchester stehen; schweigend ver- harnen sie da. die Gesichter ernst vor lauter Sachverständnis, die nackten, braunen Arme schiedsrichterlich über dem Hemd gekreuzt. Nichts schlechthin geht nbne Musik. Die Seeufer hallen bis spät nach Mitternacht' von Gesang und zartem Trommeln der Gstärren wider, lind wenn man irgendwo«inwal bei Tage aus einem Hinterhof ein Kind sehr unglücklich weinen hört, so fragt man sich bestürzt, wie denn dergleichen hier möglich sein könne..., Es geht noch viel weiter. So reicht(im übertragenen Sinne) diese Musikalität bis in die Architektur: in die feinsiihlige Glied«- rung der Fassaden, in die Verteilung der Fenster, in die beruhi- gcndc Abschlußgeste, mit der sich die stumpfwinkligen Zeltdächer über die würfelförmigen Hauser legen, in die unbeschreiblich noble Farbgebung: ein etwas milchiges Erdbeerrot, ein etwas mit Staubgrau gemischtes Tomatenbraun, ein gelblich getöntes Sohne- weiß unb ständig aufs sensibelste hincinkombiniert dos gedämpfte Grün der langen schmalen Fensterländen. Wie menschlich reif und abgeklärt ist diese Bauweise: Fassade fügt sich brüderlich an Fassade, ohne sich auf Kosten der andern vorzudrängen. Allen ge­meinsam ist hier schon die Erkenntnis, daß der einzeln« nichts ist ein locherlich auftrumpfender Fant höchstens, eh« er nicht harmonisch in seiner Umwelt steht. Aber so kann wohl nur in einem Bolke gebaut werden, dem musitalisches Empfinden selbst­verständlich ist wie Atmen.... * Diese Musikalität des Tessin , sie umfaßt natürlich auch seine Menschen, insbesondere Kinder und junge Mädchen. Der Rhythmus, in dem manche dieser reizenden Perfönchen im Abenddämmern Arm in Arm oder in Obhut der beleibten Mutter am Quai prowe- nieren, dieser Rythmus steigt in vollendeter 5>armome von Spann und Knöchel über Hüfte und Wirbelsäule bis zu den zarten Schultern und dem schmalen Kops, um den lockschworzes Wellen- haar sich schmiegt, und für den der Pogenschnitt eigens erdacht zu fein scheint. Was man anderwärts unendlich mühsam den Mannequins beibringt, das ist hier natürlich erwachsen. Diese Mädchen schreiten(man kann das ein wenig pathetische Wort schreiten" hier durchaus nicht vermeiden) wie zu den Klängen eines imaginären Orchesters, sanft, behutsam und doch offenäugig und selbstbewußt. Neben ihnen hoben die nvrdschweizerischen Damen die Guten mögen nicht zürnen allzuleicht nur etwas Wuchtig-Walkürenhaftes. * Seltsame Symbiose der Natur? Oder der Geschichte? Wer verschmolz hier die verläßliche Diszipliniertheit der Alemannen so unlösbar mit der sinnlichen Empsönglichkeit der Romanen? Sind es Schweizer , die hier siedeln, sind es Italiener ? Nie wird es klar. Zwar führen sie in Arkaden und steilen Treppengaßchen das naive, ganz noch außen gerichtete Kleinleben der italienischen Straßen: jedoch diese Straßen sind ja aufs ernsthafteste, apss schweizerischste gepflegt, gepflastert, gesäubert, kanalisiert. Der Tessin hat daher auch nicht die unmittelbare Vitalität, das Hitzig- Animalische Italiens , das in seiner nahen Verwandtschaft mit dem ierischen den Fremden zuweilen erschreckt.(Womit zusammen- hängt, daß man hierzulande kaum etwas von der weiter südlich immer wieder auf die Nerven fallenden Tierquälerei bemerkt. daß hier eher eine Art Kameradschaft auch mit der stummen Kreo tut besteht.) Kurzum: dos Elementare des Südens ist noch da, ober gebändigt, keineswegs zur fahlen Nüchternhell des Nordens enifärbt. Es ist vielmehr zwischen Norden und Süden hier ein Drittes, ein sehr anmutiges Medium«"-schaffen worden, indem ein« viefhundertjährige Entwickelung die Wesenselemevte zweier im Grund« durchaus gegen sätzlicker, durch die Alpen voneinander ge­trennter Völker vereinigte und harmonisierte; was aber heißt das anders, als daß sie nach musikalischen Gesetzen sie einander an- glich und band?