Rr. 38947. Jahrgang
2. Beilage des Vorwärts
Krisenlast erdrückt Kommunen.
Donnerstag, 21. August 1930
Stärkere Schultern sind nötig.
500 000 Wohlfahrtsunterstützte.- Defizitgefahr überall.- Der 14. September. des ersten Halbjahres aufgebraucht sein werden. Aus eigener Kraft
Die Frage, wie die Unterstützungsgelder für die Wohlfahrts| erwerbslosen aufzubringen sind, wird immer dringender. Von der Lösung dieser Frage wird die finanzielle Selbständigkeit aller deut schen Gemeinden abhängen; denn wird die bestehende Lastenvertei ( ung nicht schnell und radikal geändert, wird es am Ende des laufenden Haushaltsjahres taum eine deutsche Gemeinde ohne Defizit geben.
Irrtümer des Gesetzgebers.
Wohlfahrtserwerbslose sind solche Arbeitslose, die feinen Anspruch auf Arbeitslosen- oder Krisenunterstützung haben und daher von den Wohlfahrtsämtern der Gemeinden unterstützt werden müssen. Ais im Jahre 1927 das Gesetz über die Arbeitslosenversicherung zur Einführung gelangte, verloren die Gemeinden mit dem Uebergang der Arbeitslosenfürsorge auf die Reichsanstalt ein wichtiges Gebiet ihrer Tätigkeit. Für die Gemeinden versprach man sich eine wesentliche finanzielle Entlastung, da sie von allen Lasten nach dem Gesetz befreit wurden und nur ein Fünftel der Krisenfürsorge tragen
sollten.
Aber es tam ganz anders: Der Arbeitsmarkt nahm eine Entwicklung, die über jede Erwartung schlecht war und jede Berechnung versicherungstechnischer Art über den Haufen warf. Als sich alle Annahmen für die Berechnung der Anwartschaftszeit,
1929
A
1930
gebraucht sein wird. Im Winter aber wird der Ansturm auf die Wohlfahrtsämter noch stärker sein.
Das Verhältnis der Zahl der von der Reichsanstalt Unterstützten zu der Zahl der von den Wohlfahrtsämtern unterstügten Arbeitslosen verschiebt sich immer mehr zu Lasten der Wohlfahrtsämter: Die Wohlfahrtserwerbslosen stiegen von Januar bis Juli von 51 161 auf 80 072 M. oder um 57 Pro3, die Zahl der von der Reichsanstalt Unterstützten vom 15. Januar bis 15. Juli von 199 600 auf 232 600 oder um 16 Pro3. Ein immer größerer Teil der Gesamtzahl der Arbeitslosen fällt also den Wohlfahrtsämtern zur Last: Im April 1929 wurden etwa 15 Proz., im Juli 1930 aber 25 Proz. aller Arbeitslosen von der Wohlfahrts pflege betreut.
Was nun die Lage der Gemeinden dem Problem der Wohlfahrts erwerbslosen gegenüber als besonders ernst erscheinen läßt, ist dies: Die Gemeinden werden aller Boraussicht nach einen großen Teil dieser Last auf Jahre hinaus nicht los, auch wenn eine ton juntturelle Besserung eintritt und der Geburtenrüdgang in einer Verringerung der Zahl der Erwerbstätigen sich auswirkt, fie müssen nämlich die Kosten der strutturellen Arbeitslosigfeit fast allein tragen; denn haben die Arbeitslosen, die als Opfer der Rationalisierung auf Jahre hinaus bei noch so günstiger Ronjunktur keine Arbeit finden können, ihren Anspruch auf Unterstützung bei der Reichsanstalt erschöpft, so fallen sie dauernd der Wohlfahrtspflege zur Last.
So läßt sich mit Sicherheit nur die traurige Feststellung machen, daß die Summen, die für die Unterstützung der Wohlfahrtserwerbs lofen für dieses Etatsjahr eingesetzt wurden, bereits nach Ablauf werden die Gemeinden nicht in der Lage sein, die fehlenden Summen mit der Einführung der Getränkesteuer. So könnte zum Beispiel aufzubringen, auch nicht mit der Erhöhung der Biersteuern oder Berlin aus der Erhöhung der Biersteuer bestenfalls die Mittel zur Unterstützung von 30 000 Wohlfahrtserwerbslosen für drei Monate würde die unsozialste Anwendung dieser unsozialsten Steuer sein: erhalten. Die Einführung der Kopfsteuer zur Deckung dieser Lasten Die Lasten der Massenarbeitslosigkeit würden damit auf die schwächsten Glieder abgewälzt.
"
Wenn auch manche Kreise der ,, Wirtschaft", wie sie in der Denkschrift des Deutschen Industrie und Handelstages zu Worte kommen, die Not der Gemeinden offen begrüßen, weil diese dadurch zur Sparsamkeit" gezwungen würden, so muß man doch der Forderung der Gemeinden nach Ausdehnung der Krisen fürsorge beitreten, wodurch sofort ein Teil der Erwerbslosen aus der Wohlfahrtspflege ausscheiden würde. Daneben müssen in großem Umfange Arbeitsmöglichkeiten geschaffent werden, da die Städte im Rahmen ihrer Arbeitsfürsorge taum mehr als 10 Proz. der Wohlfahrtserwerbslosen beschäftigen können. Am 14. September steht auch die sehr ernste Frage zur Entscheidung, ob die Kommunalfinanzen unter der Cast der Wirtschaftskrise erdrückt werden sollen, was nur zu gut in die reaktionären Privatisierungsabfichten der Wirtschaft" paffen würde, oder ob durch Wiedergutmachung gesetzgeberischer Irrtümer von den Gemeinden schwerste Gefahren ferngehalten werden sollen. Z- k.
267
260
200
220
200
Arbeitslose in der stadt. Motstandsaktion unterstützt.
240
220
200
180
183
150
April 1929-100.
280
aus der Versicherung und aus der Krisenfür sorge bezogen
140
940
120
100
80
60
-
Arbeitslose die Unterstutzung
-
120
100
80
60
der Beitragshöhe, der Unterstützungsdauer als falsch erwiesen, da fuchte man und sucht leider heute noch durch Verschärfung aller Bestimmungen den Kreis der Unterstützungs bezieher zu beschränken und so den wünschenswerten Ausgleich zu schaffen. Wenn man auf diese Weise die Versicherung ,, sanieren" fönnte, zur lleberwindung der Not der Arbeitslosigkeit ist damit noch nichts geschehen. Immer mehr Arbeitslose, mögen sie die Anwartschaft nicht erfüllt haben, mögen sie ausgesteuert sein, fallen der Wohl= fahrtspflege der Gemeinden zur Last. Die von der Bürger blodregierung mit soviel Aufhebens veranstaltete ,, Sanierung" der Versicherung hat die Reichsanstalt und das Reich( Darlehnspflicht!) entlastet, aber die Kosten dieser Entlastung haben die Gemeinden zu tragen.
Die Gemeinden bezahlen die 3rrfümer mit einer halben Milliarde.
Die Zahlen reden eine deutliche Sprache: Während sich die Bohl fahrtserwerbslosen in Städten mit mehr als 100 000 in mohnern in zwei Jahren, vom 30. Juni 1927 bis 30. Juni 1929, nur von 73 000 auf 109 000, alfo um 50 Proz. erhöhten, stieg ihre Zahl im folgenden Jahre um nahezu das Dreifache, nämlich auf 291 000 bis zum 30. Juni 1930. Die Gesamtzahl der Wohlfahrtsermerbslosen wird zur Zeit eine halbe Million über. schritten haben.
Kartellwucher mit Gummireifen.
Neue Gelegenheit zum Eingreifen- wenn die Kartellaftion fein Wahltheater ist.
wolle, einen Rekordtiefstand erreicht hat. Ein englisches Pfund (= 454 Gramm) amerikanische Baumwolle tostete frei Liverpool :
im Jahresdurchschnitt 1913
Die fürzlich verbreitete Nachricht, daß die deutschen Gummi- schlimmer, da auch ihr zweitwichtigster Rohstoff, die Baumreifenfabriken eine 30 prozentige Preissentung beab fichtigen, hat sich als sommerliche Zeitungsente erwiesen. Dem Verein deutscher Gummifabriten" ist nicht das mindeste von geplanten Preisherabsetzungen bekannt. Das Kartell hat also offenbar die Absicht, die Reifenpreise auf ihrem jezigen hohen Niveau zu belassen, obwohl die Preise der Rohstoffe auf einen Bruchteil ihrer früheren Höhe gesunken sind. Ein eng lisches Pfund(= 454 Gramm) Rohtautschut fostete nämlich frei Nordseehafen:
im Jahresdurchschnitt 1913
im Jahresdurchschnitt 1925
im Monatsdurchschnitt Dezember 1928 am 30. Mai 1929
am 2. Januar 1930
am 30. Juni 1930
am 19. August 1930
2,59 M.
2,19
0,58
0,91"
0,68 0,53 0,40
"
"
term verändert, der Rohgummipreis ist aber inzwischen auf ein Seit dem Jahre 1925 haben die Reifenpreise sich in Deutschland Fünftel gefunten. Gemiß geschah das hauptsächlich infolge des Außerkrafttretens des Stevensonplanes am 1. November 1928. Aber seitdem ist der Rohgummipreis fast ununterbrochen weiter gesunken und die Fabriken haben die Gelegenheit zum billigen Einkauf weid lich ausgenutzt. Sie können sich feineswegs darauf berufen, daß ein neuer Plan zur Einschränkung der Rohgummigewinnung in Aussicht stehe. Die Verhandlungen über einen derartigen Plan weben seit vielen Monaten und es ist heute noch sehr zweifelhaft, ob er jemals feste Gestalt gewinnen mird.
Die Preisdiktatur der Reifenfabriten ist um so
•
im Monatsdurchschnitt Dezember 1928. am 30. Mai 1929
im Jahresdurchschnitt 1925
am 2. Januar 1930
am 30. Juni 1930
am 19 August 1930
•
0,58 M, 1,08
"
0,80
•
•
0,86
"
•
0,80
"
0,61
"
•
0,50
"
Der Baumwollpreis ist also auf weniger als die Hälfte des Standes vom Jahre 1925 gesunken, während die Reifenindustrie, die Baumwolle in den Cord- Geweben verarbeitet, das Niveau ihrer Verkaufspreise unverändert ließ.
Neben dem Sinfen der wichtigsten Rohstoffpreise trugen aber auch noch weitgehende Rationalisierungsmaßnahmen zur Berringerung der Gestehungskosten bei. Besonders der Con tinental Trust hat davon profitiert; durch den Abbau der Fabrikation bei Peters Union erzielt er gegenwärtig weitere Einsparungen.
behaltung der hohen Preise selbstverständlich ausgeschlossen. Der Bei freier Konkurrenz auf dem Reifenmarkt wäre die Beis Verband ist formell zwar nur ein Konditionenfartell; aber in Fach zeitschriften wird offen zugegeben, daß alle Gummireifen, die in fetzungen der in- und ausländischen Fabriken unterliegen, bei denen Deutschland zum Verkauf gelangen, den gemeinsamen Breisfeft. der Continental- Truft die führende Rolle spielt.
Der Reichswirtschaftsminister hat sich scheinbar bis jezt noch nicht für das Reifenfartell intereffiert. Für wen find die von der Reichsregierung angefündigten Maßnahmen eigentlich gedacht,
Schietes Katastrophenpolitik. bat, wenn nicht auch in erster Linie für die Gummireifen.Mono
Wenn auch die Belastung in den Großstädten besonders start ist, so zeigen doch die Erhebungen des Reichsstädtebundes, Die deutschen Ausfuhrüberschüffe nach Holland , Dänemark poliften, die bei einem Sinten ihrer wichtigsten Rohstoffpreise auf daß alle Gemeinden Deutschlands betroffen sind; und die Zunahme
ist in den letzten Monaten verhältnismäßig am stärksten in den
fleinsten Gemeinden.
2m 31. mai 1930 waren von 1000 Einwohnern
1000-2000 Einwohnern.
in Gemeinden mit
2000- 5.000
5 000- 10 000
10 000 25 000
25 000-50 000
50 000-100 000
über 100 000
•
654.2
In
laufend unterftigte
Wohlfahrtiserwerbslose Millionen
Mark
3,1
4,7
463.5
6,8
9,9
11,1
•
11,8 14,9
Die Zahl der Wohlfahrtserwerbslosen, umgerechnet auf je 1000 der Einwohnerzahl, steigt also, je größer die Gemeinden sind. Während aber die Zunahme seit dem 31. Dezember 1929 in den übrigen Größentlassen ungefähr 40 Proz. betrug, erreichte sie in den Gemeinden der Klasse von 1000 bis 2000 Einwohner 80 Prozent.
Im Rechnungsjahr 1929 haben allein die Städte über 100 000 Einwohner Ausgaben für Wohlfahrtserwerbslose in Höhe von 156 Millionen Mark gehabt, was auf den Kopf der Bevölkerung 8,68 Mart ausmachte. Die Belastung wird im laufenden Jahr mit der gewaltig gestiegenen Zahl sehr viel höher fein; sie wird auf annähernd 500 Millionen Mart geschätzt und für den größeren Teil ist bisher keine Dedung vorhanden.
In Berlin ist es besonders schlimm.
( Vgl. das Schaubild.) Die Zahl der in der Notstandsaktion unter. st ühten Wohlfahrtserwerbslosen stieg von April 1929 ( 25 100) bis April 1930( 60 000) um 138 Broz, während sich in der gleichen Zeit die Zahl der von der Reichsanstalt Unterſtügten nur um 59 Proz.( von 136 800 auf 217 500) erhöhte. Im Rechnungsjahre 1930/31 liegen die Verhältnisse noch viel ungünstiger. Während nämlich im Jahre 1929 in den Sommermonaten eine merfliche Entlastung eintrat, so daß die Aprilzahlen erst im November überschritten wurden, sind in diesem Jahre die Zahlen von Monat, zu Monat gestiegen. In einem Berliner Bezirk sind in den drei Monaten April bis Juni bereits 46 Proz. der Etatssumme für die Notftandsaftion verausgabt morden, so daß die ganze Gumme bereits nach Ablauf des Sommerhalbjahtes auf
91.2 62.1Y
1928
114.0 74.0
1929
200.3
36.4 14.4 IVhr. 1930
Z
Seit 1928 ist der deutsche Ausfuhrüberschuß nach Holland in schnellem Steigen. Er war in den drei Jahren 1928, 1929 und 1930 ( 1. Quartal) acht-, neun- und vierzehnmal so groß als der nach Finnland . Die Mehrausfuhr nach Dänemart ist ebenfalls beträcht lich größer. Ein Handelstrieg mit Holland und Dänemark wäre neue Arbeitslosigkeit für Hunderttausende. Kümmert das Herrn Schiele, der ohnehin 50 Mark Butterzoll als allmählich abzubauenden Erziehungszoll schon sicher hat? Es fümmert ihn nicht. Er braucht Wahlparolen gegen Hugenberg. Darum will er wertmäßig und zeitlich unbegrenzte Butter- und Käsezölle, auf die Holland und Dänemart mit dem Boykott antworten. Man muß Schiele das Handmert legen. Am 14. September!
ein Fünftel bzw. auf weniger als die Hälfte die Preise der Fertigmaren nicht herabseßen? Solange nicht auch gegen die Preisdik. tatur der Reifenfabriken vorgegangen wird, müssen wir annehmen, daß die Reichsregierung Maßnahmen gegen die Kartelle nur angekündigt hat, um den Wählern eine angenehme Let. türe zu verschaffen, aber beileibe feine wirtschaftliche Erleichterung.
Kohlen- und Eisenpreise herunter!
Das Institut für Konjunkturforschung( Abteilung Westen") stellt bei der Ruhrkohlenförderung gegenüber dem höch sten Stande von 1928 für Mai 1930 einen Rüdgang um
16 Pro 3., bei der Kotserzeugung( für Juni 1930) einen Rüd gang um 14 Proz., bei der Roheisengewinnung einen Rüd. gang um 33, bei der Rohstahlerzeugung um 38, bei der Walzwerksleistung um 36, bei der Gestellung von Kohlenwagen um 24 und von Güterwagen um 41 Broz. fest. Das sind ganz gewaltige Rückgänge in der Beschäftigung des rheinisch- westfälischen Industriebezirks, denen nur Einhalt geboten werden kann, die durch eine Besserung der Konjunktur nur aufgeholt werden können, wenn man mit aller Energie zumindesten bei Kohle und Eisen an eine neue Senkung der Preise geht.
Die Reichsregierung erhält in diesen Ziffern neue Bes weise dafür, daß es zu einer wirksamen Durchführung ihrer Kare tellattion allerhöchste 3eit ist.
Opel erweitert das Produffionsprogramm. Wie aus Rüffels heim gemeldet wird, find neue Arbeiterentlaffungen nicht beabsichtigt. Das vorgesehene Produktionsprogramm foll fogar für 1%-Tonnen Gegenwärtig werden 6169 Arbeiter und Angestellte beschäftigt. Lastwagen und für 8/ 10- PS- Personenwagen erweitert werden. Gegenwärtig werden 6169 Arbeiter und Angestellte beschäftigt.
Die Lippische Fahrradindustrie A.-G. in Horn( Lippe) tritt jetzt als meiteres Dpfer der Fahrradtrisis in Konfurs, nach dem Berkaufsverhandlungen mit dem Siegen - Solinger- Gußstahl Aftien Berein nur zu Streitigkeiten mit dem Bankhaus Gebr. Stern geführt haben. Die zahlungsunfähige Gesellschaft hat erst vor einem Jahr ihr Kapital von 400 000 auf 220 000 Mart herabgesetzt.
Exportffeigerung in England. Nach der amtlichen Statistik ist der britische Export im Juli 1930 gegenüber dem vorhergehenden Monat um rund acht Millionen Pfund Sterling auf 50 mil. lionen Pfund gestiegen.