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ffieilage Sonnabend, 30. August 1950

Sprjttiptid Sjinlnulgnß» Jti l£neärA

Seäan und die Feigen Zum sechzigsten Jahrestag der Kapitulation des französischen Kaiserreichs

Wenn Preußen nicht seinen Sieg mißbraucht hätte, wäre der Krieg von 1870 der letzte Krieg zwischen Deutschland und Frankreich gewesen. Jules Claretie . Als am 1. September 1870 in der siebenten Abendstunde der französische General R e i l l e langsam den Hügel hmaufritt, auf dem Wilhelm I. , umgeben von Bismarck , Moltte, Roon und einem Schwärm von Schranzen, das Schlachtpanorama- von Scdan betrachtete, war das Ende des zweiten Kaiserreichs da, denn der rotgefiegelte Brief, den der Parlamentär mit gezogenem Käppi dem König überreichte, enthielt das Kapitulationsangebot Napoleons III. Am folgenden Tag ergaben sich Kaiser, Festung und Heer: IlM 000 Gefangene, 550 Geschütze, 66 000 Gewehre, 6000 Pferde fielen den Siegern in die Hände. Aber während die deutschen Soldaten jubelten, gewiß, daß es jetzt baldzu Muttern" heimgehe, ossenborte Bismarck das, was ihn zunächst bewegt«, auf jenem Hügel dem württcmbergischen Thronfolger: Der heulige Tag sichert und besesligl die deutschen Fürsten und die konservativen Grundsähe." In der Tat bewirkte der überwältigende Sieg der deutschen Waffen, daß Deutschland , mitBlut und Eisen" geschaffen, nicht als Der- faffungs. und Bolksstaot, sondern als Bund der Dynastien und als Militärdespotismus zur Welt kam. Aber auch außenpolitisch entschied Sedan das Geschick Deutsch- lands für Jahrzehnte. Zwei Tage nach der Kapitulation war in Paris der Bonapartismus weggefegt, die Republik ausgerufen, ein Ministerium von neuen Männern, die dem Krieg widerraten und widerstrebt hatten, am Ruder. Das republikanische Frank. reich zeigte sich vom ersten Augenblick seiner Existenz an fricdenswtllig. Zu hoher Kriegsentschädigung und Schleifung seiner Gren�festungen war es bereit, nicht jedoch zur Preisgab« von Land.Wir werden," erklärte Jules Favre als neuer Außen- minister,keinen Zoll unseres Gebietes, keinen Stein unserer Festungen abtreten. Ein schmachvoller Friede wäre«in Ausrottungs- krieg in kurzer Frist. Wir werden nur über einen dauerhaften Frieden verhandeln," aber Grundklang seiner Ausführungen:Wir wollen nur den Frieden!" Da die deutschen Machthaber verkündet hatten, daß der Krieg der Dynastie, nicht dem französischen Volk gelt«, hätten sie in diese Hand einschlagen müssen. Aber, übermütig geworden durch den Erfolg ohnegleichen, verspürten die preußischen Generale einen wahren Er- oberungsheißhunger. Waldersee wollte dasSündenbabel" Paris zerstört wissen, und Aloensleben Frankreich bis zur Marne behalten. Bismarck hatte mehr Hirn unter der Pickel- Haube als diese Eisenfresser und Gamaschenknöpfe, aber seine Stellung gegen dieHalbgötter " des Großen Generalstabs war nicht mehr so günstig wie 1866, als er den annexlonslofen Frieden mit Oesterreich durchzusetzen vermochte. Gelegentlich erzählte er, daß er 1870 die Friedensbedingungen fix und fertig nach Frankreich mitgebracht habe, aber wahrscheinlicher ist, daß er sich erst nach den Schlachten um Metz unter allerhand militärischen Einflüssen zu handfester Eroberungs­politik bekehrte. Denn von eiskalten strategischen Erwägungen ließ er sich leiten, als er jetzt den Erwerb von Elsaß und Lothringen ins Aug« faßte: Deutschland , namentlich der Süden, brauchte zu seinem Schutze einGlacis" gegen Westen damit basta! Für die Professorenidee", daß zwischen Rhein und Vogesen deutsch « Brüder" zubefreien" seien, hatt!? der gewitzte Realpolitiker nur Hohn und Spott. Aber da er noch immer nicht von allen guten Geistern verlassen war, hätte ihm mehr als eine Einverleibung sprach- und volks- fremden Bodens die Errichtung eines neutralisierten Puffer st aates, vielleicht im Rahmen des deutschen Wirtschafts- gebietes, behagt, und selbst als die glatt« Annexion auf der Tages- ordnung stand, lehnt« er zunächst die Angliederung von Französisch- Lothringen mit Metz schrojs ab. Ja, ein Diplomat, der in Bis- m a r ck s Anschauungen eingeweiht war, von R a d o« i tz, später deutscher Botschafter in Konstantinopel , versicherte noch im Dezember 1879 dem Vertreter Oesterreich-Ungarns in Berlin in einem hoch- politische» Vortrag:Wenn es nach dem Kanzler gegangen wäre, so hätten wir Frankreich nicht allein Metz samt Lothringen , sondern au ch das Elsaß belassen. Freilich konnte Bismarck selber nicht mehr zurück, nachdem er die national! st ische Presse in eut« einmal losgekoppelt und auf die Spur: Annexion des Elsasses gesetzt hatte: zum mindesten seit Sedan war«r der Gefangene der öffentlichen Meinung. Treitscht« tobte wie«in rasender Schamane, daß derRechts- sinn", dieSicherung des Völkerfriedens", dienationale Ehre" und was nicht"sonst noch alles die Angliederung der beiden Provinzen heische:«r warf sich in die Brust:Wir Deutschen, die wir Deutsch- land und Frankreich kennen, wissen besser, was den Elsäsiern srommt als jene Unglücklichen selber", und alle Professoren, alle Oberlehrer, olle Bierbankpplitiker, olle Stammtischstrategen fielen im grölenden Chor«in: Heraus mit dem Raube! Die Nationalliberolen Bennigsens hatten die größten Annexionsstiesel an. doch auch unter den Demokraten waren viele, durch die ewigen Leierkasten- klänge derWacht am Rhein" rammdösig geworden, wie der alte Z i c g l« r bereit,charauslo? zu annektieren". Mit Bedacht verzögerte Bismarck die von Paris gewünschten Besprechungen über Beendigung des Krieges. Als endlich, durch Vermittlung Englands, F a v r e am 19. September mit Bismarck im preußischen Hauptquartier Ferneres zusammentraf, setzte ihm der Bundeskanzler hart und kalt auseinander, daß seine Politik aus den Krieg und nicht auf den Frieden angelegt sei: 3ch bin sicher, daß wir über kurz oder long von neuem Krieg mll Zhnen haben werden, wir wollen dann alle vorkeile avs unserer Seite haben." Deshalb die Forderung, daß Frankreich die Departments Oberrhein,

Niederrhein und Mosel mit Straßburg und Metz an Deutschland ab- trete. Bei allem Willen zur Verständigung konnte sich die rcpubli- konische Regierung aus diese Bedingung nicht einlassen: hätte sie es getan, wäre sie. ebenso vom Unwillen der Voltsmass« weggespült worden, wie sechs Monate später der als Schmach empfundene Friede den Kommuneausstand entfachen half. So ging der Krieg weiter: als nackler Eroberungskrieg. Immerhin erlag nicht all« Welt in Deutschland den Schlogworten eines ruhmredigen und kraftstoffligen PseudoPatriotismus. Der bayerische Ministerpräsident Graf B r a y, dem Abneigung gegen die Preußen die Brillengläser schärst«, erkannte, daß die Lostrennung französischer Gebietsteile unddie gezwungene Bereinigung wider- strebender französisch gesinnter Bevölkerung mit Deutschland gleichbedeutend mit der Verewigung des Krieges und des Nationalhasses zwischen beiden großen Völkern" sej, und der alte Johann I a c o b y wahrte die Ehre der bürgerlichen Demokratie, indem er eindringlich davor warnte,den Götzen der Macht anzubeten" und den Verteidigungskrieg in einenKampf für die Oberherrschaft der germanischen Rasse in Europa " ausarten zu lassen:Selbst der eifrigste, eingefleischteste Annexionist räumt ein, daß dieElsässerundLothringermitLeibundSeele Franzosen sind und Franzosen bleiben wollen." Vor allem aber fanden sich die beiden Flügel der Sozialdemokratie, Eisenacher und Lassalleancr, in der entscheidenen Abwehr der Erobe- rungsgelüst«: am 5. September rief der Ausschuß jener die Arbeiter zu Massenversammlungen auf gegen die Annexion des Elsasses und für einen ehrenvollen Frieden mit Frankreich , und in jeder Nummer erhob derV o l k s st a a t" die Forderung: Ein billiger Friede mit der französischen Republik ! Keine Annexionen! Daß sich derart das Gewissen des deutschen Voltes regte, vertrugen die wild- gewordenen Generale nicht; auf Bejehl Vogel v. Falckensteins wurden

die Mitglieder des Parteiausschusses verhaftet und in Ketten nach der Feste Boye» bei Lötzen an der russischen Grenze geschleppt: auch Johann I a c o b y teilte ihr Schicksal; es war, wie H e r w e g h sang: Mit patriotischem Ergötzen Habt ihr Victoria geknallt; Der Rest ist Schweigen oder Lötzen , �riegsidiotentum, Gewalt. Aber daß Sedan den Militärdespotismus im Innern und da» .�kriegsidiotentum" noch außen einleitete, hing organisch zusammen. Ein glimpflicher Friede mit Frankreich drehte das Gesicht der deutschen Politik freundschaftlich nach Westen und konnte im neuen Reich aus die Entwicklung des Verfassungslebens im Sinn der Demo, kratie nicht ohne Einfluß bleiben. Die Vergewaltigung Frankreichs aber hieß Anlehnung an das zaristische Rußland . Verlegung der Grenze Osteuropas an den Rhein , Junkerherrschaft und Polizeiwirtschast statt Bürgerfreiheit. Gleichwohl feierten die patriotischen Bratenröcke Jahr für Jahr unter Bumbum den Tag, der Europa der Unsicherheit und dem Wettrüsten, dem bis an die Zähne bewaffnetenFrieden" ausgeliefert hatte. Aber nicht umsonst prophezeite damals Karl Marx , die Geschichte werde ihr« Ver- geltung nicht nach der Zahl der von Frankreich abgerisienen Quadrat- meilen bemessen,sondern nach der Größe des Verbrechens, daß man in der ztbeiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die Politik der Eroberungen aufs neue ins Leben gerufen hat". 1918 umschloß auch diese historische Vergeltung. Sedan? Hurra? Hurra? Hurra? Verhüllt lieber euer Haupt! Denn das deutsche Volk hat noch heut« und noch lange an Sedan und seinen Folgen zu würgen! Hermann Wenäel.

Fahrt nach Tegel Erlebnisse in der Straßenbahn

So Ost das Wetter es erlaubt, bringt Großmutter Ple- s e ck e ihre beiden Enkelkinder hinaus in den Wald, damit sie sich dort in reiner Lust kräftigen sollen. Die alte Frau stammt aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, und wenn sie auch ihr märkisches Heimatdorf längst mit dem Berliner Wedding vertauscht hat, so verrät ihr derbes, zur Fülle neigendes Körpcrgestell trotz seiner 72 Jahre immer noch die bäuerliche Abkunft. Mit hellem Auge erspäht sie im Gedränge des Wogeninnern einen freiwerdenden Sitzplatz und schiebt die sechsjährige Käthe und den achtjährigen Fritz an dem breiten Rücken eines Metzgermeisters vorbei, der gerade nach der anderen Seite geblickt hat. Käthe und Fritz sind so mager, daß sie zusammen nicht mehr Raum einnehmen als ein Erwachsener. Bescheiden und glück- lich sitzen sie nun am Fenster und nicken der Großmutter dankbar zu. Aber deren Ausgabe ist damit nicht zu End«: wie eine Löwin wacht sie darüber, daß den Kindern die Eroberung nicht wieder streitig gemacht wird.Ihr habt junge Beine, ihr könnt stehen", sagt «ine Bürgersfrau und winkt den beiden mit fleischiger Hand. Ihr bleibt sitzen!" fährt Frau Piesecke rechtzeitig dazwischen und kommt einem Angriff der verwundert nach ihr sich umblickenden Frau zuvor:Jawoll! Wenn se ooch nur auf Kindersahrschein fahren! Wat? Det dürfen se nich? Woll dürfen se det. Wenn je vor Jroßen uffstehen sollen, denn dach zu allererst vor ihre olle Jroßmutta, nich? Na sehen Se, und die vazichtet. Weil nämlich unsaeenen seine Knochen imma noch kräftja sind als die ihre au de herrlichen Jnflationsjahre. Was der Fritz« is, den feine bogen sich wie'n Paar Bockwürste in de Pfanne. Nu, wo ick se mit ville Mühe jraöe jekricht habe, soll» se nicht durch det lange Stehen in de schlechte Luft hier widda schief wern. Det hält so'n armet Kind nich aus. Da steh i ck eben lieba!" So stand sie, hoch aufgerichtet, als schützendes Bollwerk, vor ihren Enkeln und brachte mit ihren derben Worten alle Mitfahrenden auf ihre Seite.

Aehnliche Motive der Mutterliebe werden es sein, aus den« Frau R o d e w a l d, die Molkereibesitzerin, wenn sie die Groß- eltern in Tegel besucht, ihrem Kurtchen stets einenganzen" Fahrschein tauft. Der kleine vierjährige Bursche läßt seine festen Bcinchen stolz von seinem Sitz herabschaukeln, und heute blickt er wahrhaftig mit einer Miene des Triumphes auf den Arbeiterjungen gegenüber, der trotz seiner sechs Jahre immer noch von Muttern auf den Schoß genommen wird, sobald sich der Wagen füllt. Mutta! Warum tonn der da sitzen blei'm?" Halt bloß deinen Mund!" sogt die Frau und schüttelt, den Jungen, daß ihm die Tränen kommen. So eine Arbeiterfrau ist eben viel zu müde und viel zu ungelenk in der Sprache, als daß sie Lust hätte, einen Protest gegen die Ungerechtigkeit der sozialen Ordnung vom Stapel zu lassen....

Scharnweber-, Ecke Berliner Straße in Reinickendorf gibt es etwas Luft im Woge». So findet auch ein abgehärmter, sichtlich früh gealterter Mann, der eben zugestiegen ist, einen Sitz- platz. Hinter ihm tritt ein Kontrolleur ein und ersucht die Fahrgäste höflich um Vorzeigen der Fahrscheine. Bei dem Alten angelangt, fragt er:Aus welcher Linie sind Sie gekommen?"

Aus, aus... aus 68..." Stimmt nicht. Auf dem Schein hier ist 29 gelocht. Sie haben ihn vorhin an der Haltestelle aufgehoben! Ich habe Sie beobachtet. Wissen Sie, daß Sie sich damit des Betrugs schuldig gemacht haben?" Det weeß ick nich!" war die mürrisch gegebene Antwort.Ick weeß bloß, det ick keene Arbeet habe un ooch kernen Pfennich Ield. Als ob et nich ejal is, wer die zweete Strecke abfährt, ick oda der, wo ihm jelöft hat!" Das ist ganz und gar nicht egal. Wollen Sie nun nachlösen und außerdem die vorgeschriebene Strafgebühr in Gestalt von drei weiteren Fahrscheinen zahlen? Sonst muß ich Ihren Namen feststellen und Sie aus den Wagen weisen. Sie haben dann eine Klage zu gewärtigen." H i e r s i n d 2 5 für den Fahrschein!" sagte eine einfache Frau. Soll der Mann etwa bis Heiligensee loosen?" Gut, dann mag er weiterfahren, aber ausschreiben muß ich ihn, wenn er die Strafgebühr nicht entrichten kann. Zeigen Sie mir Ihre Papiere!" Der Beamte schien nur sein« Pflicht zu erfüllen, als er die zer- schlisfenen Schriftstücke aufmerksam durchblätterte, aber er blieb doch nicht ganz bei der Sache, denn er stellte jetzt an den Delinquenten, so laut, daß es der ganze Wagen hört«, die Frage:Fünf Kinder hoben Sie also?" Du meine Jüte!" rief daraufhin eine behäbige, damenmäß'g gekleidete Frau,arbeitslos und fünf Kinder zu füttern! Mein Mann ist auch abgebaut, aber wir sind doch allein!" Damit zog sie ihr Portemonnaie aus dem Handkorb und sah sich auffordernd im Wagen um. Mehrere andere Fahrgäste folgten ihrem Beispiel und suchten Geld heraus. Ein Herr fragta den Kontrolleur:Mit der Zahlung der Strafgebühr ist die Sache doch erledigt?" Ja, dann ist sie erledigt." Es folgt also kein Betrugsversahren?" Nein!" Der Herr erstand die drei Straffahrscheine beim Schafs» ner, und der Kontrolleur entwertete sie, indem er sie zerriß. Schade um det Ield!" sagte ein junger Arbeiter.Als ob sich unsaeens wat draus macht;'n paar Dage Knast zu schieben. Seine Untastitzung kricht er doch. Brot is ville wichtija!" Er hat wahrhaftig recht!" entsuhr es der wackeren Bürgerin! der die bereit gehaltenen Groschen sichtlich in der Hand brannten. Wenn jeder gäbe, was er entbehren könnte, schaffte man ihm doch eine Erleichterung. Legen Sie zu, Frau Nachbarin!" Ein Hut ging von Hand zu Hand, von Bank zu Bank. Als er wieder bei der gutmütigen Frau angelangt war, zählte sie zwei Mark neunzig Pfennig, dazu zwei Zigarren, fünf Ziga. retten und offenbar für die Kinder einen Riegel Schokolad«. Ganz glücklich stellte die Dicke dieses Ergebnis fest, nahm dann dem Alten resolut den verschwitzten Hut vom Kopf und schüttet« die Spenden hinein. Eine Welle von Fröhlichkeit lief durch den Wagen und«int« die Fahrgäste all«, aus wie verschiedenen Ständen sie auch stammten. Mensch!" sagte der junge Arbeitsmann und schlug dem Alten kräftig auf die Schulter.Vajiß nich Muttan frilche Wurscht mitzubringen. Kannst ja in Tejel aussteijen jetzt. Pfund sechzig Pfennje...!" » Mal«.