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Ar. 419» 47. Jahrgang

1. Beilage des Vorwärts

Gonniag, 7. September 1930

Junger Man n,dct kocht bei Ihnen wie in' Teekessel! grccuiig jtcljctt heute am letzte» Sonntag vor der Wahl alle Sozialdemokraten, mit der Wahl- zeitung und Flugblattern bewaffnet, von Haus zu Haus. Am Vormittag wird die große sozialdemokratische ?tuudgebu«g im Sportpalast de» Höhepunkt des Wahlkampfes bilden. Und am Rachmittag geht die Werbe- arbeit weiter. Treppauf, treppab wird jedes HauS be- arbeitet, ttein»och so vergessenes Viertel der Riesen- s«adt wird ansgelasse» werden. Auch nicht jeueS un- bekannte Berlin , dessen Menschen heute im..Vor- wärts" zu uns rede». Am Potsdamer Plötz stehen die großen Autos der Vundfahn- gesellschoften. 6u» warten auf die Fremden, die non Kötzschenbrodo bis Philadelphia doch alle einmal nach Perlin kommen sollen. Und hat der Führer sein« Ladung volhohlig beisammen, domfjjeht die Fahrt ffi?. Man zeigt den geehrten Gölten Perlim Dos wanden. tmtger Tor. die Linden, doS«chtoß natürlich aus den großen Rundfahrten zeigt man heute auch schon manchmal«in oder ein ondcrez repräsentatives Gebäude der Industrie: und die Fremden gehen sehr zufrieden in ihr« diesbezüglichen Heimaten und Vater- lander und haben, nach ihrer Meinung, Berlin an allen Ecken und Enden kennengelernt. Und es gibt dock) so niele Gcgeirden, in die sie nie kommen, oon denen sie nicht einmal in den berühmten Kaschemmcnführungen eines betriebsamen Herrn ein richtiges Bild bekommen, wenn schon einige der bekanntestenVerbrechcrwkole* in diesen Straßen liegen, denn es ist merkwürdig, wie gerade diese Straßen oon Stund« zu Stunde ihr Gesicht wechseln. Es ist wahrhafug ein großer Unterschied, ob man dieprominenteste" dieser Straßen um fünf oder um neun Uhr passier». Um neun Uhr: eine finstere Straß«, an deren Ecken die armen Mädels stehen, deren armselige billige Zärtlichkeit und Liebes- bereitschast nicht weniger verfälscht und giftig ist. wie der Fusel, der hier fast in jedem Haus feilgeboten wird. Und um fünf Uhr: dann find in diesen» Viertel zwischen Frankfurter Allee und Schlesrschen Bahnhof eine Unzahl von Ständen und Wagen längs der Bord- schwellen aufgebaut, auf denen man mit allen möglickien und un- möglichen Dingen handelt. Ein Markt des Elends. Es ist ein richtiger Markt ja, aber ein Markt des Elends. und man begreift oft ebensowenig, wie die Verkäufer hier aus Ihre Rechnung kommen, wie daß die Käufer den Mut haben, dies« Dinge nach Hause zu tragen. Das ist auch eine merkwürdige Sache. In keinem anderen Viertel Berlins findet man so viel Menschen, die auf der Straße e s! c n, wie in diefen Straßen mit ihren aussätzigen grauen Häusern. Die Mädchen, die schon am Nachmittag ihrenStandplatz" an der Ecke bezogen haben, knautschen aus einer Zcitungspopiertüte Pflaumen und zeigen sich entrüstet jede madige gegenseitig vor die Kinder lutsche» an einem giftig gefärbten StangciGonbon, die Großen die gerade wohlhabend sind, stehen nor irgendeinem Wurst- wogen öde« hole» sich fflJ9 irgendeiner Eisdiele«in« Wastel... Man sehe nur was auf diesen Wagen noch alles feilgeboten wird und was die Hausfrauen in ihren armseligen Taschen nach Haus« tragen: Salatköpfe die fast bis auf die.Gerzen" angefault find, grüne Bohnen denen man schon ansteht, daß ihre Rückstände gut und gerne als Scheuerrohr oerwendet werden könnten. Bücklinge. denen das Fleisch an die Gräten getrocknet ist und überoll stehen die Wage» die jetzt noch. Ende August, alte Kartoffeln feilhalten.

Alle? ist um die Hälfte billiger als in den anderen Stadtteilen aber olles ist Abfall, ist mehr oder weniger verdorben. Am deutlichsten zeigen das einige Ob st karren. Da werden auf einem gerade Pflaumen aussortiert, schon stehen einige Käfige voll verdorbener und angegangener neben dem Wagen: muh die, die dann mit zwanzig Pfennig angeboten werden, würden sich kaum bis zum nächsten Tag hallen. Hier lebt man wirklich und wahrhaftig von der Hand in den Mund niemand hat mich nur für den nächsten Tag Vorrat. Würstchen von zehn Pfennig aufwärts... Ja. und weil zu Haus sellen dos Essen wirklich sättigend und zureichend ist. so haben hier in ollen Hausslnren und an allen Ecken sich Wurst Händler niedcrgelasten, die Brotwürste van garantiert reinem Schweine- und Rind- fleisch verkaufen, Stück von zehn Pfennig auswärts, Würste von einem ganz zureichenden Format es bleibt ewig«in düsteres Geheimnis, worum man in keiner anderen Gegend Berlins so billige Wurstwaren bekommtl Manch- mal wird's ganz vornehm, und dann heißt so ein Lokal Bockwurstdiele" denn man hat es hier noch mit den Dielen, und wenn ein Rollmops aus der Rollmopsdiele stammt, schmeckt er garanttert viel pikanter wie aus einem gewohnlichen Heringskeller. In einer der Hauptstraßen hat ein Pferdeschlächter einen Laden mit drei großen, blitzblanken Schaufenstern und einer Frnhstücksstube, die entschieden vertrauenerweckender aussteht als die meisten Vockwurstdielen. Aber darauf kommt es ja nicht an, man ißt hier oben, was man bezahlen kann, und wer nicht mal mehr in den...Hammelskopp" gehen kann, der stellt sich eben in den Hausflur und ißt ftisch vom Blech Kartoffelpuffer, Stück einen Groschen, drsie fünfundzwanzig. Sehr nahrhaft sind sie ja nicht, viel Fett ist auch nicht dran dos Blech wird immer mal wieder mit einem Pinsel mit Oel bestrichen aber sie sind dach warm, und für einen Augen- blick knurrt dann der Magen nicht! Denkt daran am nächsten Sonntag! ":.Io,' die- Lebensmittel, brauchen lue* pjeht bis zum nächsten Tag zu hallen: hier kauft keiner auf Borrat. hier hat niemand Vorrat, auch von den allernotwenlngsten Dingen hat jeder nur soviel, wie er unbedingt braucht. Dorum ist das die Gegend der Schnell- schustereten, ober ihr Lockspruch:Morgens bringen, abcnds abholen!" ist schon längst von den ambulanten Schustern der Gegend überHoll worden. Die hoben auf ihrem kleinen Wagen, auf dem sie Gummiabsätze, Schnürsenkel. Schnhcrem verkaufen, auch gleich einen kleinen Schusteramboß, denn die Kundschaft kann nicht vom Morgen bis zum Abend warten man Hot ja nur ein einziges Paar Schuhe das zweite ist zumeist schon längst zu irgendeinem Schuster gewandert, der die üblichen höchsten Preise für gebrauchte Arbeits- und Schaftstiefel zu zahlen gelobt. lind während der ambulante Hans Sachs an den übel mitgenommenen Trittchen herumklopft, sitzt der Kunde neben dem Wagen, raucht die Kippe der fürfarglich ge- teilten Zigarette, bespricht mit dem Meister die p a l i t i s ch e Loge und bemüht sich, dieBollen" in den Strümpfen zu verstecken. Ueberhanpt die Politik! Dies ist die Gegend, in der man nicht erst die Wahlzeit abzuwarten braucht, um zu merken, daß hier auch der Kunde des ambulanten Flickschusters den Zusammenhang zwischen seinen zerrissenen Schichen, dem Schlangenfraß seines Mittagmahls und der Politik begriffen Hot. Nichts nimmt der fliegende Buchhändler so gern, wie ein Buch, das schon in seinem Titel einen Inholt anzeigt, der sich mit Sozialismus oder Sozialisten beschäftigt und wenn es ein Engelhornband aus dem Jahre 1885 ist! Er ist sicher, daß es ihm nicht lange auf der Platte bleibt. Sonst freilich sieht es um diegeistige Nahrung" dieser Gegend etwas wunderlich ans. Die ambulante Leihbibliothek, diebei ge- nügender Legitimation ohne Pfand" ihre Bucher ausgibt, Hot die ganze Platte voller unsagbarer Schmöker liegen, deren InHall un- möglich nach zerfleddcrter und dreckiger sein kann als ihr Aeußeres. Fabrik in die Lust gesprengt. Zehn Arbeiter getötet, viele Verwundete! Paris . 6. Septarnver. Eine surrst tbare Gxplosto« ereignet« sich am To»«- avendmittag i« einer Pulverfabrik in Auboue bei .Raueh. Die ganze Fabrik wurde in die Lust geschleu- der t. Nach den bisher vorliegende« Meldung«« wurden zehn Tote und eine groß« Anzahl Verletzte aus den Trümmern geborgen.

Morgens um drei Uhr am Schlesischen Bahnhot, Daneben stehen dann noch Karl Mays gesammelle Werke, eine Wenge von Wallacebänden ober auchIm Westen nichts Neues" und Up ton Sinclair, und auch die richtigen, hnndertbändigen Kol- portager omane, die man für längst ausgestorben hielt, kann man hier noch finden. In einer anderen Straße freilich ist ein Laden, der seine Bücher zu den gleichen kulanten Bedingungen ausgibt, und man ist überrascht über die Fülle moderner, guter Literatur, die hier angeboten wird. Jeder moderne Alttikriegsrornan ist hier ver treten, daneben die.Häßliche Herzogin" und der.Flud Süß" Lionel Fenchtwangers und eine Menge guter, neuester Bücher. Und ve? wundert ftagt man sich, worum denn die Menschen dieses Viertels, die doch wahrhaftig mit dem Groschen rechnen müssen, nicht in di-> Bolksbibliotheken gehen Jeder Groschen wird zweimal umgedreht. Ja, man rechnet hier mit jedem Groschen. Alles wird in klein- 'sten Oiiäntikote»'verkauft,' sogar' Räfre'r k li ng en gibt' es' einzeln Stück fünf Pfeimchr aiss inest-' Wesse zahlt der Kunde zwar 20 Proz. mehr, aber danach fragt der Arm« nickst, ein Fünfziger ist, hier Zein großer Herr, größer als auf der Tauentzienstroße ein Tale r. uns die arinen Leute hier wissen, daß sich am Hund des Armen die Flohe am liebsten mästen. Zwei Stände aber gibt es in dieser grauen Straße, vor denen immer dicht gedrängt die'Menschen stehen' und an denen sie leicht ihre paar Groschen ausgeben: das sind' die Stände der beidenG e s u n d h e i t s p r ü f e r", die aus dem Wasser­stand" mit geheimnisvollen roten, blauen und gelben Flüssigkeiten gefüllten Glasröhren ein Orakel über die Gesundheit der von ihnen geprüften Leute ablesen..Komm'n Se immer ran, meine Herrschaften, der Apparat sacht Ihnen janz jenau, wie'z bei Ihnen mit das Herz, mit die Nerven und das Blut bestellt is! Sie könn'n sich selbst überzeugen davon, daß der Apparat bei keine zwei Per- fönen jleich reajiert na mal denn, wat denn, junger Mann, det kocht bei Ihnen ja wie'n Teekessel, det is»ich jut, de« Sie son nv- ruhijet Blut haben! Fassen sie immer dreiste an, junge Frau, die Kugeln jehen nicht kaputt und die Krätze kriejen Sie noch nicht von ick wische sie jedesmal ab, wenn mir wat uffällt!" Sie haben sich anscheinend über ihre Taktik verständigt, die Herren Gefundhells- Prüfer, und wer van dem einen für einen Groschen für zerrüttet an Herz, Nerven und Blut erklärt wurde, kann von dem anderen für zwanzig Pfennig gleich wieder für gesund erklärt werden und der muß es doch besser wissen, denn der ist nach seiner Erklärungach- Jahre Oberlaborant bei Professor Berjemann" gewesen. Und die Groschen fliegen den beiden gerissenen Brüdern leicht und gern auf ihre Tischchen, denn die Gesundheit ist ja das höchste Gut, um das auch der Aermst« bangen muß. * Dicht besetzt sind nun die Straßen, es gibt fast nichts, das man hier nicht cinliandeln könnte, vom echten'silberimitierten Alpaka- teelöffel bis zur Wirtschastsschürze und den herrlichen Pantoffeln mii Seidenpompons, Paar jünfundneunzig Pfennig denn das ist hier die obere Preisgrenze. Und außer den ambulanten Händlern be- herbergt jedes Haus noch«in paar Geschäft«, hat. wenn möglich, auch noch seinen Hausflur vermietet. Und mii Grauen denkt man daran, wie übervölkert diese grauen, aussätzigen Häuser sein müssen, um diese Menge von Händlern, Geschäftsleuten und Schar­latanen zu ernähren. Hier lebt die Beoöllerung einer kleinen Stadt in wenigen, ewig muffigen Straßen, ohne Lust, ahne Grün auch am hellsten Tag« im Zwielicht, weil die große SpinneNot" ihre grauen Netze über alles Leben hier spannt.

Rplifedern�Vertrauensartiker