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Morgenausgabe

Nr. 425

A 214

47.Jahrgang

Böchentlich 85 31. monatlich 3,60 m. fm voraus zahlbar, Boftbezug 4,32 m einschließlich 60 Bfg. Boftzeitungs- und 72 Bfg. Poftbestellgebühren. Auslands. abonnement 6,- M. pro Monat. *

Der Bormärts erscheint mochentag­lich zweimal, Sonntags und Montags einmal, die Abend ausgaben für Berlin  und im Handel mit dem Titel Der Abend", Illustrierte Beilagen Bolt und Zeit" und Kinderfreund". Ferner Frauenstimme". Technit"," Blid in die Bücherwelt"," Jugend- Borwärts" und Stadtbeilage".

Vorwärts

Berliner   Boltsblatt

Donnerstag 11. September 1930

Groß- Berlin 10 Pf. Auswärts 15 Pf.

Die ein palttge Nonpareillegeile 80 Pfennig. Reflamezeile 5.- Reichs mart. Kleine Anzeigen das ettge. brudte Wort 25 Pfennig( zulässig zwet fettgedruckte Borte). jedes weitere Wort 12 Pfennig. Stellengesuche das erste Wort 15 Bfennig, jedes weitere Bort 10 Pfennig. Worte über 15 Buchstaben Arbeitsmarkt zahlen für zwei Worte. Beile 60 Pfennig. Familienanzeigen Zeile 40 Pfennig. Anzeigenannahme im aupt geschäft Lindenstraße 3, wochen.äglich von 8 bis 17 Uhr.

Bentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands  

Redaktion und Verlag: Berlin   SW 68, Lindenstraße 3 Vorwärts- Verlag G.m. b. H.

Fernsprecher: Donboft 292-297 Telegramm- Adr.: Sozialdemokrat Berlin  .

Hilfe für Polen  !

Ruf der deutschen   Sozialdemokratie an die Sozialistische Arbeiterinternationale

Der Borstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands   hat an das Büro der Sozialistischen Arbeiterinternationale in Zürich  folgenden Brief gerichtet:

Werte Genossen!

Die auf Befehl der Regierung Pilsudski   vorgenommene ver­haffung von parlamentariern aus den Reihen der Oppo­fitionspartelen Polens  , insbesondere von führenden Genossen der PP S., ist ein Ereignis von so weitfragender Bedeutung, daß eine unverzügliche und kraftvolle Aktion der Internationale gegen diese faschistische Gewalttat unerläßlich erscheint. Die gegenwärtige polnische Minderheitsregierung hat damit bewiesen, daß fie die Bahnen der verfassungsmäßigen Legalität, die sie bisher wenigstens dem Schein nach noch zu respektieren vorgab, endgültig verlassen hat. Marschall Pilsudski steuert nunmehr einen bewußt faschistischen Kurs. Der Terror, der bereits bei den letzten Sejmwahlen von der Regierung, freilich ohne Erfolg, angewendet worden war, wird bei den jetzigen Neuwahlen in unerhörtem Maße gesteigert, weil die mili­taristischen Machthaber erkannt haben, daß sie bei einer wirklichen Boltsbefragung in einer hoffnungslosen Minderheit verbleiben

würden.

und zunächst vor allem die vorgenommenen Berhaffungen wieder rüdgängig zu machen. Ueberall, wo dies möglich ist und wo eine solche Aktion einen Erfolg verspricht, vor allem in den Ländern der westlichen Demokratien, deten Regierungen cinen Drud auf Polen   auszuüben in der Lage sind, sollten unseres Erachtens von den Vorständen der politischen Parteien und Parlamentsfrat­fionen entsprechende Schritte unternommen werden.

Es handelt sich nicht nur um eine innerpolitische Angelegenheit Polens  , um ein Uebergreifen der faschistischen Diktatur auf die pol­nijche Republik, fondern auch um eine eminente Gefahr für den europäischen   Frieden. Diffafurregierungen bedeuten, weil fie alle in ihrem Wesen militaristisch sind und dem Prinzip der Gewalt huldigen, eine schwere Belastung für das friedliche Zusammenleben der Bölker. Die polnische Sozialistische Partei bot bisher die stärkste Gewähr für die Aufrechterhaltung des Friedens mit den Nachbarn Polens  . Sie trat am energischsten für die Respektierung der Rechte der nationalen Minderheiten ein, die über ein Drittel der Gesamt­bevölkerung Polens   bilden. Ihre Vernichtung, die Pilsudsti jetzt mit ähnlichen Methoden wie Muffolini erstrebt, würde den nationa­liffifchen und militaristischen Elementen freie Bahn verschaffen.

Wir haben uns beeilt, durch diesen Schritt unseren polnischen Genoffen, mit denen wir bisher noch feine Fühlung aufnehmen fonnten, öffentlich unfere Solidarität zu befunden, und wir find überzeugt, daß auch die Genoffen der übrigen Länder alles in ihren Kräften Stehende tun werden, um der Sache des Sozialismus und der Demokratie in Polen   zur Hilfe zu kommen. Berlin  , 10. September 1930.

Boltschedfonto: Berlin   37 536.

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Bankkonto: Bank der Arbeiter. Angestellten

und Beamten, Wallstr. 65. Dt. B. u. Disc.- Gef., Devofitenkafle Lindenstr 3.

Politische Erneuerung.

Alte und neue Köpfe im Parlament.

"

Von Wilhelm Dittmann  .

Unendlich viel Tinte ist in den letzten Jahren über dieses Thema bereits verschrieben worden. Immer wieder wurde frisches Blut" gefordert, neue Männer" sollten kommen, eine Berjüngung" wurde als Allheilmittel gegen die angeblich drohende ,, Berkalkung" des Reichstags und des politischen Lebens angepriesen. Auch jetzt, vor den Neuwahlen zum Reichstage, spielt die Frage in allen bürger­lichen Parteien wieder eine große Rolle. Da ist es nüglich, an Hand der Tatsachen einmal zu prüfen, wie es in Wirf­lichkeit mit der angeblich mangelnden Erneuerung und Ver­jüngung des Reichstags und des politischen Lebens steht.

Um es vorweg zu fagen: Die Wirklichkeit zeigt ein anderes Bild, als es bei den Presseerörterungen gewöhnlich dem Leser vorgemalt wurde. Der Wechsel in der Person der Reichstagsmitglieder ist in der Nachkriegszeit ganz allgemein so start gewesen, daß im jetzt aufgelösten Reichstag   in den meisten Fraktionen nur noch wenige Abgeordnete waren, die bereits dem Kriegs- Reichstag oder einem seiner Vor­gänger angehörten. Die Fluktuation war bei manchen Frak­tionen so stark, daß dadurch die Tradition, die Kontinuität und Stabilität der politischen Haltung und Führung ver­loren ging.

Die Infernationale hat zweifellos die Pflicht, die Deffentlichkeit der ganzen Welt zum Proteft gegen diefe neuefte untat der Regierung Pitsudsti aufzurufen, die alle bisherigen Drangfalierungen der sozialistischen   und nichtsozialistischen Opposition in Polen   weit in den Schatten stellt. Unsere Anregung geht dahin, daß das Büro der Infernationale fich fofort mit den angefchloffenen Parisien in Berbindung setzt und ihnen empfiehlt, alle geeigneten Schriffe zu unternehmen, um diesem Wahnsinn Einhalt zu gebieten. Der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands  . Mumm), von den drei Mitgliedern der Deutschen   Re­

Der Pilsudski Barismus.

Die verfolgte Opposition setzt sich zur Wehr.

Warschau  , 10. September.  ( Eigenbericht.) linter den verhafteten Oppositionsführern sind auch der Bauernführer und frühere Ministerpräsident Witos und die bisherigen sozialistischen   Abgeordneten aus West galizien Ciolkosz und Mastek. Auch ukrainische Irredentisten und ein des schweren Eigentumsverbrechens beschuldigter bisheriger Pilsudski  - Abgeordneter sind ver­haftet, um so den Schein der Unparteilichkeit zu wahren. Jedoch wirkt das gleichartige Vorgehen gegen die Führer der polnischen Mehrheit und gegen ausgesprochene Polen  feinde sowie gemeine Verbrecher um so aufreizender. Alle Verhafteten wurden von Gendarmen bei Nacht in Autos nach einer entlegenen Festung gebracht, deren Name geheim gehalten wird, wahrscheinlich Brest   am Bug oder die Weichselfestung Demblin.

Die Warschauer   Anwaltstammer hat gegen die Berhaftung ihres Mitgliedes Liebermann fofort protestiert. Er sei als parla­mentarischer Ankläger vor dem Staatsgerichtshof auch nach der Parlamentsauflösung rechtlich unantastbar.

Alle demokratischen Oppositionsparteien haben einen gemein­samen Aufruf zur Rettung des Rettung des bedrohten Rechtes und der Volksfreiheit erlassen. Reine Gewaltmaßnahme fönne ihren Willen brechen. Die Dittaturregierung Pilsubftis habe das Band so zerrüttet, daß für fremde Imperialisten geradezu ein Anreiz zum Eingreifen geschaffen sei. Die Opposition verlangt Rück­fehr zur Demokratie, verstärkte Sozialpolitik und friedliche Außen­politik zur Sicherung der Landesgrenzen.

Die Oppositionspreffe ist am Mittwoch in Massen beschlag nahmt worden. Dennoch zirkulierten zahlreiche Exemplare der tonfiszierten Nummern.

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mann. Hätte der Anklagevertreter darauf sofort erwidert, so bestand nach der uns gewordenen Versicherung eines Augenzeugen die fast völlige Gewißheit, daß die Offiziere, die um Pilsudski   herum standen, Liebermann niebergeschlagen hätten. In ber nächsten Sigung aber fennzeichnete Liebermann das Auftreten des Marschalls so scharf und treffend, daß er ihm es gewiß nicht per­ziehen hat. Senator Dr. Pragier ist ein Gelehrter von sehr ruhigem Wesen, was aber die Schärfe seiner Gegnerschaft gegen Dittaturturs nicht mildert; vor wenigen Monaten ist Bragier bei einer Arbeiterdemonstration in Warschau   von attackierenden Poli­isten verlegt worden. Profeffor Barlidi ist der Vorsitzende des Parteiausschusses der polnischen Sozialisten, Dubois, das jüngste Mitglied des Sejm   und Führer der Arbeiterjugend. Bor wenigen Wochen war Dubois mit einer starten Jungarbeitergruppe in Berlin  und hat auch öffentlich gesprochen. Genosse Cioltofz ist Ab geordneter von Krakau   und hat vor einiger Zeit in der Studentischen Völkerrechtsliga Berlin   einen Vortrag für die deutsch  - polnische Ver­ständigung gehalten, der großen Gindrud machte.

Straßenbahnunglück in Zürich  .

2 Tote, 10 Schwerverletzte.

3ürich, 10. September. Ein schweres Straßenbahnunglüd, bei dem zwei Frauen ums Leben famen und zehn Personenschwerverlet wur­den, ereignete sich heute nachmittag in Zürich  .

In einem Straßenbahnhof waren drei aneinander gekoppelte Anhängewagen in Bewegung gekommen. Ehe der Vorgang be­merkt werden konnte, rollten die Wagen aus dem Bahnhof hinaus und die abschüssige Straße hinunter.

An einer Haltestelle fuhren sie auf einen gut befehten Wagen auf, der in rasende Fahrt geriet. Die Fahrgäste wurden von furcht­barem Schreden erfaßt. In einer scharfen kurve sprang der Wagen aus dem Gleis und der erste Wagen zerschellte an einer Mauer, die nachfolgenden drei Wagen bohrten sich in die Trümmer des ersten

Wagens hinein.

Die verhafteten Sozialisten. Unter den verhafteten Parlamentariern find mehrere auch im Ausland wohlbekannt. So von den Sozialisten Gen. Dr. Hermann Liebermann, der schon im altöſterreichischen Barlament Als Rechtsanwalt hat einer der glänzendsten Redner war. er im neuen Polen   besonders auch politisch Angeklagte sehr wirkungsvoll verteidigt, so verschiedene deutsche Oftoberschlesier und den Volksbundführer Ulig. Der Sejm   bestimmte Liebermann zur Vertretung der Anklage gegen den Finanzminister Czechowicz   vor Der stellvertretende Ceiter des Straßenbahnhofs den Staatsgerichtshof, wegen der fast 600 Millionen betragenden Etatsüberschreitungen. In diesem Prozeß schimpfte Pilsudsti in ge- beging unter dem Eindrud des furchtbaren Unglüds einen Selbft mohnt ordinärer Weise und sagte wörtlich zum Gerichtshof: Meine mordversuch. Er erkletterte einen Maft der Hochspannungs­Hände find rein, nicht schmugig wie die des Dr. Lieberleitung und fiel mit schweren Brandwunden zu Boden.

Die zehn Schwerverletzten wurden in ein nahegelegenes Kranken­haus gebracht, die beiden toten Frauen fonnten erst nach mehr­flündiger Arbeit aus den Trümmern geborgen werden.

Von den 45 Deutschtonservativen des Kriegs­Reichstags waren nur noch fünf( Beftarp, Schiele, Graef­Thüringen, Rieseberg, Vogt- Württemberg), von den 13 Reichsparteilern war nur noch einer( Schulz= Bromberg), von den acht Mitgliedern der Wirtschaft= lichen Vereinigung waren nur noch zwei( Behrens, formpartei war nur noch einer( Bruhn), von den fünf elfen auch nur noch einer( Alpers), von den 18 olen, den zehn Wilden und den neun Elsaß  = Lothringern teiner, von den 44 Nationallibe ralen nach Stresemanns Todauch fein einziger, von den 42 Fortschrittlern waren nur noch zwei( Fisch­bed, Haas), von den 90 3entrumsabgeordneten nur noch zehn( Becker- Arnsberg, Dr. Bell, Bolz, Diez, Gies­berts, Herold, Mary, Wirth, Pfleger, Leicht) im letzten Reichstage. Von insgesamt 287 bürgerlichen Abgeordneten des Kriegs- Reichstags gehörten also nur noch 22 dem letzten Reichstage an. Das bedeutet eine Erneuerung" zu rund

80 Prozent!

Die davon betroffenen Fraktionen, die fast einem Taubenschlag glichen, waren nur loſe zusammengewürfelte Interessentenhaufen" ohne den festen inneren Zu­fammenhalt früherer Zeit. Ihre Unausgeglichenheit und mangelnde Verbundenheit mit der Tradition und Erfahrung der Vergangenheit tam oftmals in ihrem parlamentarischen Verhalten zum Ausdrud. Es fehlte an Führernach= wuchs, der sich bereits eine auf Wissen, Können und Er­fahrung aufgebaute Autorität hätte erwerben fönnen. Das trat besonders scharf beim Zentrum hervor, als es vor eini­gen Jahren furz hintereinander seine alten parlamentarischen Führer durch den Tod verlor.

Eine Ausnahme von allen Parteien macht allein die Sozialdemokratie. Von den 110 sozialdemokratischen Abgeordneten des Kriegs- Reichstags oder seiner Vorgänger gehörten nod) 31 dem letzten Reichstage an( Bender, Bock, Brandes, Brey, David, Dittmann, Feldmann, Henfe, Hilden­brand, Hoffmann- Kaiserslautern  , Keil, Kräßig, Landsberg  , Lipinski, Müller- Franken, Pens, Quessel, Scheidemann, Rob. Schmidt, Schöflin, Heinr. Schulz, Oswald Schumann, Seve­ring, Joseph Simon  , Spiegel, Stücklen, Taubadel, Ulrich, Wels, Wissell). Trotz der Erschütterung, die Krieg, Revo­lution und Inflation auch der Sozialdemokratie gebracht haben, ist es ihr doch gelungen, die generations mäßige Erneuerung ihres Fraktionsbestandes ohne den katastrophalen Wechsel zu vollziehen, der die bürgerlichen Parteien seit Kriegsende heimgesucht hat. Tradition, Kon­tinuität und Stabilität sind bei der Sozialdemokratie im tinuität und Stabilität sind bei der Sozialdemokratie im Reichstage am stärksten erhalten geblieben, trozdem gerade fie in ihrer politischen Pragis eine völlige Umstellung hat vornehmen müssen. Auch diesmal erfolgt wieder ein nor­maler Abgang alter und normaler Zugang junger Kräfte.

Die nach dem Kriege neu entstandenen Parteien, wie die Kommunisten und die Nationalsozialisten, weisen denselben starken Wechsel im Personenbestande ihrer Reichstagsfraktion auf wie die alten bürgerlichen Parteien.