Alexander von Warai:, l SiSBli HQ6*
Diese Verletzung ist unscheinbar, wie wenn eines Tages in Gesellschaft ein Mensch aus der Stirn des andern«ine kleme, blasse Spur bemerkt, die Narbe eines Risses oder Schlages und ihn fragt, was es denn sei? Worauf der andere entgegnet: — Nichts. Ich bin als Kind einmal gefallen und habe mich verletzt. * Der Gefanglehrer hieß Vargoczq und hatte einen struppigen, laywarjen Bart. Sein Gehilfe Strache war Seminarist. Jetzt, nachträglich, glaube ich. daß Strache an allem schuld war. Er war es, der zu Vargoczy sprach, Bemerkungen macht« und mich kriti- sicrte, anscheinend hatte er etwas gegen mich. Der Knabenchor zählte vierzig Mitglieder. Anfang Dezember tauchte Vargoczy zer- streut in der Klassentüre auf, blieb stehen und schien zu über- legen. Er hielt eine Liste in der Hand, sagte halblaut die Namen vor sich hin, suchte die zu den Namen gehörenden Gesichter, schüt- telte den Kopf und brummte etwas. Gesanglehrer haben so etwas Verträumtes. Auch Vargoczy umgab eine sanfte Melancholie, von Zeit zu Zeit holte er die kleine Ottavenpfeife hervor und blies ohne jeden Grund ein schrilles, traurig-langgezogenes„Aoa* vor sich hin in die Luft. Als wollte er sich davon überzeugen, dag alles in Ordnung sei und daß die Harmonie der Töne, die von dem reinen und sicheren Grundstein dieses„Aaa", das er in seiner Westentasche trug, ausging, noch vorhanden war inmitten der brandenden Sphären. Wie alle bärtigen Gesanglehrer, lebte auch er etwas abseits von seinem Barte, der gleichsam sich selbst ge- nügend von seinem Kinn baumelte, besonders während des Singens. wenn die Schüler beim Anblick des auf- und niederwallenden Bartes manchmal den Eindruck hatten, als sänge der Bart, für sich allein, in seltsamen Tönen mit. Vargoczy drehte die Liste hin und her, suchte die Gesichter und plötzlich blieben seine Augen an mir hängen. Er trat einen Schritt zurück und begann mich mit zusammengekniffenen Augen zu mustern. Sein düsteres Antlitz er- hellte sich. „Kannst du singen?" fragte er vertraulich. Ich glaub«, daß es im Leben jedes großen Sängers einen solchen Augenblick gibt, wo der Einfall eines Impresarios ihn aus dem Nichts hervorschleudert. Auch Kiepura hat so begonnen. Auch Volpi hat so begonnen. Jahre hindurch sangen sie umsonst, nur für sich, eines Tages jedoch kam fo ein Vargoczy und winkte ihnen. Ich war ein empfindsamer und ehrgeiziger Knabe, zwölf Jahre alt. Ich stand auf. Wirklich, konnte ich singen? Bis dahin hatte ich es noch nie versucht. Tatsächlich empfand ich etwas Aehn- liches, als„könnte ich, hätte aber noch nie versucht". Ich sagte, daß ich eine angenehme Stimme habe. In mir dämmerte eine Ahnung, daß der Mensch nie ein« Chance vorübergehen lassen soll. Vargoczy musterte mich aufmerksam. „Gut", jagte er mutig.„Komm noch der Stunde ins Pro- fessorenzimmer. Du wirst die heilig« Margarethe verkörpern. Ich gebe dir dein Rollenheft." Die Anstalt bereitete anläßlich eines Festes ein Bühnenstück vor. Auch die Mädchenrollen wurden von Knaben gegeben. Die Möglichkeit, daß ich aus einem einfachen, kleinen Pennäler von beut auf morgen zur heiligen Margarethe aufstieg, versetzte mich in einen stillen, unwahrscheinlichen Rauschzustand. Ich weiß noch heute nicht, was Vargoczy zu dieser Entscheidung veranlaßt«, wann und wo er in mir jene Qualitäten entdeckt«, die mich,— unter vierzig anderen gerade mich— für die Rolle der heiligen Marga- reihe geeignet machten. Di« heilige Margarethe war die Parade- roll«, mit langer, blonder Perücke, einem Heiligenschein um den Kopf und langem Nachtgewand. Hellige Margarethe zu sein, war fo«in bc>r5-cc>ncallr!?Zustand, befreite von der regelmäßigen Er- lediguug der Schulaufgaben und bot in jeder Hinsicht Vorteile. Nach der Stunde ging ich in das Professorenzimmer. Bar- goezy kam mir entgegen und überreichte mir die Rolle. Es war eine oerwickelte und lange Rolle und die wichtigste Arie, die beim Einzug der heiligen Margarethe gesungen wurde, kann ich mein Leben lang nicht vergossen. Sie lautete, in ziemlich hoher Ton- lag«, so: Die heilige Margarethe(singt): Wo die klaren Wellen der Donau Ein Inselchen umarmen, Verlebte ich meine Tag«... Das war der Schlager des feinen Gesangstückes. Als ich mit der Rolle in der Hand heimwärts wanderte, und die große.Arie studierte, mochte ich ein Gefühl haben, als sei es die Melodie d«r Zukunft und als hänge alles davon ab, wie ich die Sache kreierte. Auch die Popularität. Ob diese Melodie nach der Vorstellung aus- gegriffen und von den Schusterjungen in den Straßen gepfiffen wird. Zwischen ,chie— kla" und„der— Do" war ein kleiner Uebergang, eine schwere und eine zarte Tonlage, davon hing alles ab. Aber das erfuhr ich erst am Nachmittag, als ich zu Fräulein Heddy in die Klavierstirnde ging. Fräulein Heddy war sechzig Jahre alt und litt an Plotzscheu, sie lehrte die Kinder der Stadt jenes nette Musikstück, das„Ankunft des Schiffes" heißt und sie
Margarethe. Ich weiß es nicht ganz sicher, aber jetzt nachträglich habe ich starken Verdacht, daß Musik und Text Stretches und Vargoczys gemeinsames Erzeugnis war. Vargoczy bearbestete finster und träumerisch die Orgel, die Klage der helligen Margarethe ichwebte durch die Luft des kalisn Saale«, es war Anfang Dezember und am Nachmittag wurden die Säle nicht geheizt, das Lied quoll als Dunstwolken aus den warmen Mündern der Kinder. „Na, beginne", sagte Vargoczy. Ich begann: Wo die klaren Wellen der Donau ... Meine Kehle preßte sich zusammen. Ich hatte nie geglaubt, daß es so schwer sei. Vargoczy pfiff.„Aaaa," sagte er.„Höher", rief er. Ich mußte mich durch irgendein ungewisses und nebliges Hiitbernis hindurchsingen, dort am jenseitigen Ufer stand Vargoczy mit der Pfeife in seinem Barte und winkte, ich soll« endlich kommen; das
war alles, was ich empfand. Ich legte los. Ich fpiMKg kopfM» di die klaren Wellen der Donau und brüllte bitter mit der ganzen, verzweifelten Hartnäckigkeit eines zwölfjährigen Kindes. Ich brüllte, wie fchlecht es mir ginge, weil ich meine Tage auf einein Jnfelchcn verleben müsse. Ich spürte nach den ersten Tönen, daß sich mein Mund mit etwas Warmem füllte, das mochte dos Lied fein. Mir war schon alles gleich. Ich fühlt«, jetzt würde ich singen, was auch geschieht. Ich kam über.die— kla" und„der— Do" glücklich hinweg, dann jchloh ich die Augen. Groß« Schweigen entstand. Noch war das Aechzen der Orgel vernehmbar, dann verstummte auch dys. Als ich die Augen öffnete, ruhte Vargoczys Bart über der Orgel aus und Vargoczy sah finster vor sich hin. Er betrachtete seine Fingernägel. Mich sah er nicht an. Dann ächzte er zweimal vor sich hin, fo:„Hm, hm." Damr sah er Strache an, über meinen Kopf hinweg und Strache winkte ihm etwas zurück, wieder über meinen Kopf hinweg, was damals nicht schwer war, da ich Strache nur bis an den Bauch reichte. Vargoczy sagte wieder hm und winkt« zurück. Dann sah er sich um.(Schluß folgt.)
Aatil 5. Schmidt: CjUff dl
Der Tod von Eugen Diederichs beraubt die deutsche Literatur einer ihrer stärksten Anregerpersönlichkeiten. Seit der klassischen Blütezeit hat Deutschland immer das Glück gehabt, führende Verleger zu besitzen, die nicht wahllos annahmen, was der Tag ihnen zu- brachte, sondern selber energisch bestimmten, was sie verlegten, und eine bestimmte Gesinnung in ihrer Produktion kundgaben. Die letzte Generation ist besonders reich an solchen Persönlichkeiten. Eben noch haben wir S. Fischers siebzigsten Geburtstag gefeiert, und nun erfahren wir den Tod eines ihm so gar nicht ähnlich sehenden, aber gleich starken und zielbewußten Mannes. In dem abgelegenen, zumindest nicht in einem Mittelpunkt gelegenen Jena hat Diederichs fett Jahrzehnten gesessen und einen guten Tell des deutschen Schristwosens organisiert. Er war ebenso demokratisch wie national gesonnen. Freiheit konnte er sich nicht ohne voltsmäßige Bindung vorstellen, und alle Kultur gipfelte ihm in der geistigen Erhöhung seines geliebten Deutschlands . Aber er war niemals kleinlich oder nationalistisch; seine Zettschrift„Die Tat" beweist es ebenso wie seine Vorliebe für das internationale Märchen, dem er eine gewaltige Serie von Büchern widmete, aus denen das Gut der ganzen Welt sprechen sollte. Ueberhcmpt war ihm der Drang zum Reihemnäßigen eigentümlich, die großartig ausgreisende und wellen- umspannend« Gebärde, die sich fast nie mit Einzelpublikationen genügte, sondern gleich in Serien dachte und handelte, und oft in so umfassenden Bücherserien, daß ihre Vollendung fast aussichtslos schien. Immer aber schwebte diesem wahrhaft schöpferischen Manne eine hochgesteigerte Geistigkeit vor. Mit Unterhaltungsbüchern, ja, nur mit dem eigentlichen Roman hat er sich kaum abgegeben. Spitts- ler, Tolstoi , Löns, Kierkegaard , Fleuron gehörten
zu seinen Lieblingen, die weiten Gebiete von Kunst, Aesthetik, von religiöser und sozialer Spekulation lagen seinem Herzen am nächsten. Seine Ausgaben hatten auch buchtechnisch und buchkünsllerisch stets eine Note, die sie sogleich aus allen übrigen heraus erkennen ließ. Nicht immer war das ein Vorzug zu nennen, das symbolistische Schnörkelwesen des Jugendstils hat um 1300 tiefe Spuren in seineu Verlagswerlen hinterlassen. Aber dann kam er wieder zu ganz reiner und klarer Sachform des Buches, und immer legte er nach- drücklichen Wert auf die köstliche Schale, in der er die Früchte seiner Autoren darbot. Nun ist er tot. Wer ihn je bei den Sitzungen des Deutschen Werkbundes erlebt hat, dem er mit Leib und Seele als Mit- arbeiter angehörte, wird diesen besonnenen und innerlich glühenden Menschen niemals vergessen; er war einer von der Art, die deutsche Kultur begründen und tragen hilft. » Eugen Diederichs wurde am 22. Juni 1867 als Sproß einer niederdeutschen Bauernfamilie geboren, deren Bestehen bis 1616 urkundlich zurückreicht'. Er besuchte das Naumburger Dom- Gymnasium bis zur Obersekunda, war dann drei Jahre lang prak- tijcher Landwirt und erlebte, nachdem er sein Einjährigenjahr in Dresden erledigt hatte, seine buchhändlerischen Lehr- und Wander- jähre in Halle, Würzburg , Genf , Erlangen . Sangerhausen und Karlsruhe . Im Jahre 1896 gründete er in Florenz den Verlag Eugen Diederichs , siedelte mit diesem ein Jahr später nach Leipzig über und verlegte ihn 1964 definitiv nach Jena . In erster Ehe war Diederichs mit der Schriftstellerin Helene Voigt-Diederichs , seit 1916 mit der Schriftstellerin Lulu von Strauß und Torney verheiratet. Die Universität Köln oerlieh ihm 1924 den vr. Ii. c.
Walter 3)ehmel:
Stempelkarte M. 202ii
selbst komponiert hatte. Heddy spiellc den Einzug der heiligen Margarethe und sowohl ihr musikalisches, wie auch ihr religiös« Ich war von dem Stück angenehm überrascht. Meine Stimme konnte sie nicht beurteilen, denn sie war schwerhörig, die Arme. Abends nahmen wir mit meiner Mutter die große Arie durch und die Familie war von der Entdeckung, daß ich die heilige Margarethe sein werde, offensichtlich freudig berührt. Wir übten die Gesangs- Partie. Am dritten Tage war Prob«. Ich war gar nicht auf- geregt. Vargoczy faß vor der Orgel und übt« mit dem Chor jenen Chorgesang, dessen Refrain so lautete: Chor der Engel(singt): Wir schwenkten den heiligen Palmwedel über ihren Häuptern, Damit in des Lebens Nöten ihr Mut nimmer sinke. Wer sie waren, über deren Häuptern der heilige Pcrlmwedel geschwenkt wurde, damit in des Lebens Nöten ihr Mut nimmer sinke, weiß ich nicht mehr. Ueber dem Haupt der heiligen Margarethe mußte auf keinen Fall etwas geschwenkt werden, denn ich, die heilige Margarethe, stand hoch über dem Chor, ich stand vornehm und allein neben Vargoczy. mit dem zerknitterten Notenblatt in der Hand. Ich stützte mich etwas schief auf die Orgel und erwartete meinen Austritt. Neununddreißig Augenpaare hingen an mir. Stracheo und Vargoczys Augen gar nicht zu erwähnen, die zählten extra. Ich stand in lässiger Hottung da und hört« mir diese Sache mit dem heiligen Palnlwedel an. Dann machte Vargoczy eine Pause, sqin Bart ruhte aus, er nahm mir das Notenblatt aus der Hand, holte die kleine Pfeif« aus der Tasche und blies hinein. „Aaaa. sagte Vargoczy,„jetzt bist du an der Reihe." Cr nahm jede Gelegenheit wahr(seien wir nur ehrlich!), um in diese Pfeife blasen zu können. Seine Hände griffen in die Orgettasten, seine Füße in den mächtigen Schnürschuhen traten den Blasebalg. Und aus dem schwarzen Kasten schwebte erst unsicher, später mit rnaner stärkerer Majestät die erhabene Arie der helligen
Irgendwo im Hause schrillt««in Wecker. Wie ein dünnes ver- grämt« Stimmchen drang«s durch das Gemäuer. Karl Stein suhr aus dem Schlafe hoch und sah sich um. Der erste Schimmer des Tages, ein grauer, kaum wahrnehmbarer Schein, drang ins Zimmer und ließ die Konturen der Möbel erraten Die�Frau neben ihm lag krumm auf der Seit« und schnauf l« leise im Schlaf. Der Mann richtet« sich auf und wollte aus dem Bett steigen. Da fiel es ihm wieder erschreckend ins Bewußtsein: Das Klingeln des Weckers gatt ja nicht ihm, er war doch erwerbslos. Seinetwegen konnten hundert Wecker lärmen, er durste ja liegen bleiben. Und doch, jeden Morgen, wenn dies leise Gewimmer durch die Mauer drang, wollte er aus dem Bett und in die Sachen fahren. Jedesmal legt« er sich dann wach in die Kissen zurück und grübelte. Drüben, hinter der Wand, kletterte der andere, dem das Klingeln gall, schlaftrunken aus hen Federn, war sicher ungehalten. daß die Nacht schon wieder vorbei war. murrte vielleicht über die ewige Plackerei, während er sich fröstelnd anzog. In Gedanken be- gleitete ihn Karl Stein an den Küchentisch, wo er, halb angezogen, eine Tasse gewärmten Kasse« schlürfend trank, langie wie jener nach Stullen und Kasfeeflasche, zum Weggehen bereit. Und dann packte ihn auf einmal der gelbe Neid, wenn der ander« wirklich die Treppen hinunterpollerte und er, Karl Stein, fand sich hier im Bett liegend. Nun ja, man war ja wie ein Gaul, der immer und immer, Tag für Tag. Jahr und Jahr im Geschirr ging. Und sich nun nicht mehr zurückfand, wenn dos plötzlich aufhörte, der Gaul abgesträngt und stehengelassen wurde. Ach, was war man doch schon mürbe, was war man schon jür ein elender Hund, daß man einen anderen be- neidete um seine Mühseligkeit morgens m die Tretmühle zu müssen. Der Mann im Bett blickt« sich in der heller werdenden Stube um. Die Möbel waren alt und wacklig, das Bettzeug grau und verschlissen, die Federn dünn.— es hätte ja schon lange nicht.zu irgendeiner Erneuerung gelangt. Erst die monatelang« Kurzarbeit, dann die Krankheit seiner Frau und nun seine Erwerbslosigkeit. i Die Tapete an der Wand war auch schon durchgestoßen und ab- geblättert-- Ach, es war zum Kotzen! Es litt ihn nicht länger im Bett, er stand auf und zog sich an. Die Frau wurde wach, blinzelte, fragt«:„Was ist, Karl? Was stehst schon auf?"— Er fuhr ihr plump liebkosend über den Kopf:„Kann nicht mehr liegen, Minna, schlaf man weiter!" Und leiser für sich:„Hast Schlaf ver- dient, Frau!"— Sie hörte es schon nicht mehr, schief log ihr Kopf, sie schnarchte etwas. Ja, sie war jetzt immer todmüde. Versuchte durch Aufwartestellen und Heimarbeit den fehlenden Derdienst des Mannes zu ersetzen. Es langt« ja doch nicht. Sie machte sich nur kaputt. Der Mann ging leise in die Küche. Es sah wenig einladend darin aus. Schmutziges Geschirr von gestern abend stand noch da, am Fenster, wo die Nähmaschine stand, lagen Stoffreste und Fasern. Er räumt« alles«in bißchen zusammen. Wusch sich an der Wasser- leitung, kämmte sich. Dann ging er zur Flurtür, langte nach dem Türschlitz. Verflucht! Keine Zeitung? War ja abbestellt! Er setzte sich auf den Stuhl hinter der Nähmaschine— glotzte ins Leer «. Sinnierte lange— lange. Im Hause regten sich die ersten Geräusch« des Tages, Schritte bumsten die Treppe hinunter, irgendwo pfiff einer immer wieder dasselbe Lied,— Abwässer rauscksten in den Röhren, eine Glasslammer pufft«-- Alle diese Geräusche hatte«r früher nicht gekannt, nicht gespürt, was für ein verborgenes Leben die Mietkaserne, das steinern kolle Diiig, durchflutete. Jetzt kannte er es genau, zu genau. Die vielen, vielen toten Stunden hatten es ihn gelehrt. Er griff nach Rock und Mütze, die Decke fiel ihm auf den Kopf. Doch«he er ging, faßte er in die Tasche, ob er auch die Stempelkarte hatte. Das war ja jetzt das Wichligsi«, die Stempelkarte. Was ihm an redlichem Willen im Herzen, klugen Gedanke» im Kopfe lebte, daß er ein tüchtiger Arbeiter war—— das war alles nicht so wichtig: wichtiger war, daß die Stempelkarte da und in Ordnung war. Er jah das abgegriffen«, fleckige Stück Karton an. Nr. 20 211
stand in großen Ziffern obenan auf der Vorderseite, sehr viel kleiner war darunter geschrieben, wa» sich hinter dieser Nummer verbarg; — ein Mensch mit Namen, Beruf, Geburtstag und-ort. Er klappt« die Karte auf, da waren die langen schmalen Reihen mit den vielen, vielen Stempeln,— mit jedem war ein verlorener Tag, ein vergeblicher Gang zum Arbettsnochweis verbunden. Mit einer müden Bewegung steckte Karl Stein die Kart« ein und ging. Die Straß« war noch leer, eine verschleiert« Sonne warf durch das Laub der Sttaßenbäums klein« Kringel auf den Boden. Zögernd ging der Mann, lenkte seine Schritt« zum Fluß hinunter, hockte sich aus einen Stein. Das Wasser war trübe und schlammig,— die Fabriken mit ihren Abwässern hatten den Fluß oerdreckt, vergiftet, — alle Fische starben in diesem Modder. Ein Schleppzug kam langsam vorüber, ruhige Kähne, bis oben an mit Kohle beladen. Karl wollt« ausrechnen, wieviel Zentner Kohle wohl solch ein Kahn fassen könne,— dabei fiel ihm plötzlich ein, daß er selbst kein« Kohle mehr im Hause hatte; sich diesmal nichts hatte hinlegen können für den Winter. Wieder kamen die bohrenden Gedanken— Herrgott, was sollte das bloß werden?-- Er spuckt« ingrimmig aus und ging zum Arbeltsnachweis. Auch hier war ihm alles bekannt, zum Ilebalwerden genau be- kannt. Ein großer langer Raum, ein paar Schalter, einig« Bekannt- machungen und Vorschriften an den Wänden, in der Eck« ein paar rohe Tische und Bänke und dazu ein buntes Gemisch von Männern, jungen und allen. Die jüngeren spielten meist Karten und erzählten Mädelgeschichten,.— die älteren, mit der Sorge um die Familie be- laden, murrten, politisierten sanatisch oder maullen stumm. Arbeit gab's nicht, man reicht« sein« Karte ins Schalterfenster, da wurde ein Strich für die Statistik gemocht und in die Kart««in Stempel gedrückt,— fertig! So sinnlos und niederdrückend war das alles— Karl Stein machte, daß er wieder auf die Straße kam. Ein« sellsam« Unruhe beherrschte ihn jetzt immer. Rur nicht stille sitzen, dann war die Untätigkeit nicht auszuhalten. Er lief ganze Vormittage in den Straßen umher, guckl« hier in ein Schau, fenster, las da an einer Säule ein Plakat.— Auch heute lief er so umher. Als er in eine größere Straße einbog, sah er seinen Freund Erich in einer kleinen Gruppe Passanten vor einem Schausenster stehen. Neugierig trat er hinzu, zupft« den Freund am Aermel. Der grüßte kurz und zeigt« auf ein Schild, aus das die Leute hier alle interessiert starrten. Karl reckte sich, noch sah er es nicht deutlich „Ziehung— las er, Hauptgewinn. 500960 Mark",— noch sah er die Nummer des Gewinnes nicht deullich.--„Menschenskind, die Nummer habe ick ja!" sagte er plötzlich ziemlich vernehmlich:— verwunderte, erstaunte Gesichter drehten sich ihm zu,— Erich blickte ihn gespannt an. Sollte der am Ende gar--? Karl Stein faßte in die Tasche— die Spannung wuchs—, er schwenkte etwas, ober das war ja kein Los— enttäuscht wandten sich die Sensations« lüsternen ab.— Der hotte sie wohl zum Narren?— Einer lachte: „«o«in lspaßvogcl. der Kerl hat Humor!" Erich glotzte— Karl schwenkte noch immer die Stempelkarte in der Luft umher.„Jawohl!" sagt« er.„siehste, oller Jung«, die Nummer hätten wir schon, aber nicht das richtige Papier! Dafür ist es ja auch«in« Klasienlotterie! Wir haben eben nicht die richtige Klasse erwischt! Wir müssen in „unserer Lotterie"— er hielt ihm die Stempelkarle vor die Nase— zufrieden sein, wenn wir mal mit einem Freilos rauskommen, das wir wieder«in« Weil« mitspielen können!" Sie güigen wortlos nebeneinander her. Schwiegen.-- Nach einer Weile sagt« Karl ernst:„Lieber Junge, merkst du nicht, daß uns von dort— er zeigte zum Schaufenster zurück— keine Hilf« kommt? Was nützt es uns, wenn einer von vielen Tausenden da einen Treffer macht? Einer aus Kosten der vielen anderen? Nein. Erich, wir müssen daiür sorgen—»nd wenn wir als einzelne auch noch so verzweifelt sind—, daß die ganze Geschichte anders ein- geteilt wird, mit dem Geld und der Arbeit und mit allem! Denk mal nach über das Lotterielos mit dem Hauptgewinn und d«e gleiche« Nnmmer der Stempelkarte! Auf Wtederjeheu. Erich!"