9£ans Friedrich Jtlunck: 3)CT Sll'Oilld*
Der Gendarm zuckte ein wenig überlegen die Achseln, aber er ist ein gutmütiger Kerl und überläßt dem geistlichen Herrn schließ- lich den hageren dürren Landstreicher. Es ist abseits vom Dorf, sie stehen sich jetzt allein gegenüber nnd das ist gut.„Du bist es, Johannes?" fragt der Pastor langsam, er bemüht sich, herzlich zu fein. Des Landstreichers Augen schielen spöttisch über die Hakennase. „Ja, ich bin es, Bernhand, Hab' mich sogar zu bedanken, daß du mich dem Grünen aus den Fängen holtest." Der im dunklen Rock ist kein Rechthaberischer, der nur Schuld und Sühn« wägt. Er hat viel Mitleid mit dem einstigen Freund, noch gemengt mit Erstaunen, wie der auf die Landstraße kam. „Nun sag' mir doch— oder komm, du besuchst niichl Gewiß haben wir uns mancherlei zu erzählen." Wie weich er sprechen kann, der geistliche Herrl Der Landstreicher dreht den Slockgrifs zwischen den Fingern, dann streist sein Blick von unten her über das rund« freundliche Gesicht des anderen. „Wir kommen jetzt so gut auseinander, Bernhard", scherzt er.„Du hast mir einen Gefallen getan und bist stolz darauf, ich Hab« meine Freiheit wieder—" Der Stromer sieht drollig seufzend an seinem fransigen Rock herab.„Ich bin ein Heide, dem's vergolten wird, worum willst du dich mit mir streiten?" Sie find dabei ober doch ein Stück Wegs zum Dorf heim- gegangen.„Wir streiten uns doch nicht, Johannes!" Ein leichter Seufzer liegt auf dem Namen,„wir wollen uns. Lustiges von unserer Studentenzeit erzählen! Traurig gemxg, daß du's damals abbrachst. Hör", eifert der Freund,„host du zu Abend gegessen? In dem Rock kannst du doch nicht weitergehen?" Der Landstreicher zupft an den Lumpen und sieht mit einem schelmischen Blick an dem Nachbar vorbei:„Meine Jack« ist so schön warm, warum magst du sie nicht?" „Laß mich doch helfen", eifert der andere und muß in die ver- witterten Züge des Freundes hineinlochen. Er sieht nicht Leiden, nicht Unrast darin, er findet nur den alten Schalk und glüht vor Eifer und mitleidigem Belehren.„Du glaubst ja gar nicht, wie froh ich bin, daß wir uns trafen. Gewiß soll das so sein." „Das soll nicht so sein", sagt der Stromer mißtrauisch und ist stehengeblieben. Seine Stimme hat plötzlich den heiseren Ton wie damals, als er abtrünnig wurde und Bücher und Seminar verkieß. „Siehst du jetzt, daß wir uns streiten würden?" Du oerstehst mich falsch", besänftigte der Pastor rasch. Ihm schießt durch den Kopf, daß dieser noch eine Zeit fremd« Bekenntnisse unter den Menschen lehrte, eh« er der Landstraße verfiel. Es soll doch so sein, gibt er sich heimlich zu, ein uralter Entscheid zwischen Heid« und Christ scheint ihm ihrer beider Schicksal. In dem verwilderten struppigen Gesicht des Stromers ist«ine Entfremdung geblieben.„Du machst mir mst deiner Einladung keine Freude, Bernhard. Hör, ich komm« einmal im Winter vorbei." Er saugt den sahrenden Wind in die Zähne. Vorsommer ist's, der Himmel blau und die Felder silbergrün. Komm, komm, ich dank« dir noch einmal, nun laß mich gehen." Der Hager« hat sich wirklich kurz gewandt und stelzt steifbeinig, ein wenig hinkend, ohne Gruß weiter. Knapp und unhöflich ist seine Art, wo er herzlich zu danken hätte. Der im dunklen Rock seufzt enttäuscht, aber er ist auch erzürnt, das hat er um Johannes
nicht verdient. Rascher, unter einem böigen Regen eilt er ins Dorf. Fast scheint es ihm Unrecht, daß er dem Hüter der Ordnung in die Arm« griff. Aber kaum ist er zu Haus, da schlägt sein Herz doch und er schilt sich, wie er den Freund nur ziehen lassen konnte. Ja, er schilt sich arg. Fröhliche Erinnerungen fallen ihm ein, Sorgen, was zur Nacht aus dem anderen werden niag, kommen hinzu. Da entschließt er sich, ihm noch einmal nachzugehen. Das Wetter ist voll von Regenschauern. Der Pastor zieht den Mantel an, ja, auch seinen alten Gartenrock nimmt er mit. Zehn- mal besser ist der als das Flickwams des Landstreichers. Und er eilt eifrig und voll guter Freuds dem Weg nach, den der andere .zuletzt gegangen ist. Aber der Landstreicher ist weit voraus. Sehr schnell und atenilos muß der junge Pastor wandern. Müde wird er, aber er legt sich's gern als Strafe dafür auf, daß er den anderen hat ziehen lassen. Bis tief ins große Moor folgt er dem Heerweg. Einsam und dämmerig wird es, aber er wird schon gute Menschen finden, die sie beide vor der Nacht heimbringen. Wie konnte der Freund doch wegen eines mahnenden Wortes von ihm gehen? Oder klang feine Stimm« wirklich hochmütig und erzürnt« jenen? Es tut ihm leid. Drüben am Seerand, der unter Erlen und Wacholder neben der Landstraße beginnt, scheint ein Mensch zu schreiten. Der Pastor läuft auf gut Glück darauf zu, fühlt so recht, diß es der Verlorene sein muß, den er sucht. Tapfer stapft er den Heidpfad zur Niederung, flink späht er nach vorn. Die Böen haben aufgehört, brandrot ist der Himmel unterm Dämmerungsgewölk, so recht ein Tag, um an diesem wilden Land und seinem Schöpser Freude zu haben. Aber der Fußpfad führt vorsichtig abseits des Ufers vorbei, er erreicht den Einsamen da drüben nicht. Der junge Pastor muß sich schon durch Platsch und Pfütze uwgen, um dem Fremden näher zu kommen. Dann sieht er, daß er ihn nickst mehr erreichen wird. Jener hat sick) auf Brakebäumen vom Ufer gelöst, bis auf«inen Sand- buckel im See hat er sich hinaustreiben lassen. Da steht er nun. fischend wie es scheint, zu weit, um ihn zu rufen, zu nah, um wieder umzukehren. Eifernd überlegt der Freund, was er tun soll. Da brennt die Sonne tiefer ins Moor, die Wildkiefern und der Eichbusch beginnen sich zu röten, ja, auch das Wasser um den ein-. samen Mann drüben färbt sich wie Blut. Dunkel sein Schotten davor, hoch, lang, spukhaft, wie aus einer anderen Welt aufgetaucht. Der Postor will's abwehren, da bückt der andere sich, reckt sich wieder und mit jeder Bewegung ist es, als wüchse er größer gegen die Dämmerung, unheimlich anzusehen. Unheimlich ist auch dos Land und sein Vorhaben, das merkt der Verfolger. Er wird müde, wenn er daran denkt, wie er diesen umstimmen soll, er hört schon den Streit aus seinem Innern noch- klingen. Ein großer Heide ist dieser und muß sein Schicksal tragen. Hat er recht, es ihm zu verwehren? Dunkel, wie jäh aus diesem Lande aufgebrochen, ragt der Schatten des Landstreichers aus dem See. Ach, Gott schuf oielerart Wesen. Der jung« Pastor gräbt fem Zweifeln nach. Vielleicht soll dieser nicht anders sein als er ist! Klein dünkt ihm sein Eifer, fern der Freund. Sein Los bleibt, zu den Friedsomen heimzukehren.
jonuhniir. Similianifeher&rüMing
Liebe Freunde verzeiht, daß ich heute nur von mir erzählen werde. Aber die Erinnerung hat mir den Kopf umnebelt, ich bin betrunken von dem Abglanz der Sonne, die doinols auf mich herab- schien, und es gelüftet mich danach, breit und behaglich von de» Dmgen zu sprechen, die mich zu jei»er Zeit erfüllten. Ich bin in Sizilien einmal über einen Hof gegangen und habe mich darüber gewundert, daß es auf diesem alten, staubigen, schniutzigen Hofe so wunderix�r duftete, obwohl ein nicht minder schmutziger Esel im Mauerwinkel mit lautem Geschrei den Schwanz hob und etwas fallen ließ, und fett«, halbausgezogene Weiber aus- dünstend an mir vorbeiwatschelten. Plötzlich sah ich, daß der ganze Hof mit einer zehn bis fünfzehn Zentimeter hohen Schicht von Rosinen bedeckt war, Tausenden, Millionen von Rosinen, die mn der glühenden Sonne trocknen sollten. Ich begriff, daß das Sizilien war! Und jede Rosine hatte einen köstlichen Duft. Ich bückte, mich lmd hob ein« Hand voll davon auf. Ich lachte laut, und»n- gewaschen steckte ich das braune Zeug in den Mund. Mir war, als wäre ich nicht mehr ich selbst, sondern ein gestorbener und wieder- auferstandener,'glücklicher, gereinigter, duftender, Rosinen essender, im Paradies« wandelnder Mensch. Meine Haut war mit Oel ein- gerieben, sie war glatt wie Samt. Ich mußte unter diesem Himmel und in dieser Sonne in einem fort lachen, und ich liebte jeden Menschen, der die Augen zu mir erhob, mit einer hingerissenen und wahrhaften Liebe. Wahrhaftig, ich erkannte alle Menschen in ihrer tiefften Wurzel. Mit Zärtlichkeit verneigte ich mich vor jedem Bettler. Alten Frauen, die mit Früchten aus dem Lande kamen, half ich die schweren Obstkörbe aufladen und wandte mich noch lange nach ihnen um, weil ich fühlte, daß sie mir nachsahen. Den Fuhr- leuten war ich besonders gut gesinnt und hielt mit beiden Händen die feder- und blumengeschmückten Köpfe der Pferde und Maultiere, wenn ihre heißen Nüstern und- ausgedörrten Lippen mit einem feuchten Schwamm gewaschen wurden. Selbst die glatzköpfigen und braunkuttigen Mönch? liebte ich, die auf rauhen Sandalen durch den Staub schrittcn und sich von den schönsten kleinen Knaben die Hände küssen ließen. Ich grüßte sie ehrerbietig, als wollt« ich' ihrer Frömmigkeit meine Achtung bezeugen, und sah einem jeden tief in die Augen. In Wirklichkeit war mein Gruß nichts als Heuchelei! ich war b's zum Bersten angefüllt mit dem übermütigen und ver- Nichten Wunsche, ihre Begierde nach mir und meinem braunen Haar, das sich in der Sonne blähte, anzufachen, denn ich verachtete ihre Enthaltsamkeit. In jenen Tagen hatte ich eine Abneigung gegen Fleisch und Alkohol. Selbst den sonnenwarmen Chianti trank ich mit Vorsicht. Am liebsten aß ich reife Früchte(in Messina gab es kindskopfgroße Apfelsinen), aber auch Spaghetti, Makkaroni, Risotto und Tomaten, dazu Fische, Krebse und Langusten. Es war angenehm, auf das Fleisch verzichten zu dürfen ohne Sehnsucht nach einem fetten Bissen Hammelfleisch oder einem gebratenen oder gekochten Stück Rind. Es war alles glücklich, und selbst das Unglück voller Entrücktheit. Einmal fand ich ein halbtotes Kätzchen in der weißen Staubstroße der Sarazenengräber. Getroffen von der Roheit, die das Tier dem Verdursten preisgab, bückte ich mich und hob es auf, aber«in brauner Schuster, der vor der Ladentür Sohlen zurechtschnitt, sprang auf und verwehrte es mir. Mißmutig ging
ich heim. In der Frühe des anderen Tages fand ich einen Henkel- korb auf meiner Türschwelle und als ich den Deckel abnahm, lag auf dem Boden des Korbes zwischen den blauen Blütcntrauben der Glyzinien und verschwenderisch duftenden Rosen jenes Kätzchen, sauber gebürstet und gekräftigt zum Geschenk. Ich sing an, an die Kraft der Liebe und an die Güte der Menschen zu glauben, als rechneten Liebe und Güte zu den Selbstverständlichkeiten des Lebens. Mein Uhrglas sprang«ntzei, ich trug es zu einem Uhrmacher. Er setzte«in Glas ein und schob mir lachend und kopfschüttelnd das
Geld wieder zu, das ich ihm für die Arbeit reichte. Ich lernte mich zu verneigen, wenn man mich beschämte. So oft man meinen Stolz beugt«, fühlte ich ein Lächeln auf mein« Lippen treten. Bald war es nicht mehr nöttg, mich zu beschämen: ich lächelte aus Ueber- zeugung, daß die Natur gut und der Mensch, hervorgegangen aus der Natur, ebenfalls gut sei. Damals nahm ich vor, nie wieder in den Norden zurüzukehren. Verzeiht mir, daß ich euch nur Helleres erzähle, als gäbe es auf der Insel nicht Elend genug, um es der Welt zu klagen. Wo» soll ich tun, ich war glücklich, und olles, was unversöhnlich schien, verwandelte sich vor meinen Augen und lächelte versöhnt. Jede Nacht scholl der klagende Gesang der Fischer zu mir her- auf, wenn ich, halbträumcnd auf die Ellenbogen gestützt, durch die Gitterstäbe meines Balkons auf das Meer hinuntersah. Ihre kleinen Boote zogen im Schein der Buglaternen wie winzige Leuchtkäfer um die Felsen. Eines Morgens hatten Männer in der Nähe unserer Badestelle einen Grundhai gefangen. Das gab eine große Auf- regung auf dem Marktplatz von Taormina . Wir nahmen uns vor, nie mehr aus dem Bereich der Riff« hinouszuschwimmen. Als jedoch das Wasser in der engen Umklammerung der Halbinsel um die Mittagszeit zu kochen anfing, schwammen wir doch wieder ein Stück ins offene Meer, aber außer einer trunkenen Ziege, die bauch- oben an mir vorübertrieb, fand ich nichts, das mich sonderlich er- schreckt hätte. Laßt mich noch von den Nächten in den Gärten von Taormina erzählen. Ein Stern geht auf, er wirft eine Goldflut über das stille Meer, wie der aufgehende Mond: eine breite Bahn. Aber es ist nicht der Mond, es ist«in Stern, der später unter Millionen anderer Sterne am Himmel steht und sanft leuchtet. In den Gassen schließen sich die Bozare, die Stimmen der Ausrufer und Esellreiber verstummen. Die Frauen in ihren bunten Kleidern und herrlich ge- stickten Shawls verlassen die Balkon«. Bastmatten fallen über die Fenster und Türen. Es wird still. Hier und da gehen Jünglinge durch die Straßen, lehnen am Geländer des Marktplatzes, plaudern. Ihre Zigaretten glühen durch die Dunkelheit. Hinter den Vor- hängen der Kaffeehaustüren klimpern Mandolinen und Gitarren; süßer Dust schwelt aus den Gärten. Ich warte, bis alles im Hause schläft, dann öffne ich dos Fenster und springe hinaus, einen gewagten Sprung über eine Felsspalte und wirr wuchernde Kakteen. Ich pfeife leise und breche über die eingesunkene Mauer in fremde Gärten ein, die wie Mieder einer langen Kette ineinandergreifen und endlos sind, Tempel von Blüten. Die Sterne glänzen. Unter uns spannt sich das Meer wie dirnkle Seide, die hin und wieder bei einer Berührung des Nachtwindes aufrauscht. Wir stehen reglos aneinandergelehnt, lauschen und atmen. Sechs, sieben Nachtigallen schlagen in dem Rosenbusch zu unserer Rechten, ein Chor von Rochttgollen antwortet in den unteren Gärten. Jetzt ziehen die Laternen der Fischerboote um die Felsen,' eine Männerstimme singt langgezogen, wohltönend ein Lied, dos immer wieder abbricht. Stern« tropfen ins Meer. Es duftet bitter. süß mis den geschlossenen Blumenkelchen: manche sind in der Hitze des Tages verwelkt und hängen weit offen, bereit, in vielen, dunklen Blättern weich auseinanderzufollen wie überreife Früchte. Wir sehen uns an. Unsere Augen sind dunkel wie St�in. Wir lieben einander, solange ich durch die Gärten von Taormina gehen werde. Mein Herz schlägt hart vor Freude. Ich zerreibe«in Blumenblatt zwischen den Fmgern und streiche den Saft über die Lippen. Später sitze ich einsam auf der Lehmmauer eines Gartens, und immer, rnemr der Fischer dort unten das Lied abbricht, falle ich mit weicher, tiefer Stimme«in. Bei Gott, ich liebe es in diesen Nächten zu singen; langgezogen singe ich in einer unbekannten Sprache, glück» lich und einsam. Liebe Freunde, ich habe einmal vergessen, daß es Leid gibt und daß wir Menschen die Schuld unserer versäumten Liebe tragen. Ich sah in jedem Menschen meinen Bruder und meine Schwester, und das war der Unterschied zwischen der Liebe zu Kameraden hier im Norden: daß sie mühelos war. Sie quoll überreich und frei wie ein Ouell, vorbehaltlos. Nichts hemmte sie. Der Geist war gelöst und wußte nicht, was er zu fürchten hatte. Aus ihm wurde das Lächeln geboren, das alle anderen lächeln macht. Es war schuldlos« Liebe. Jetzt wandere ich in, Norden, und wenn ich lächle, ist dieses Lächeln meistens aus der Ueberwindung geboren. Selten weckt es einen Widerschein.
John Sctiikoirski: 3)ie erfte öffentliche Aufführung der„Weber" Sine Jngenderinnerung
In, Jahre 1883 erschien eine Schrift, die den Titel trug:„Blüte und Aerfall des Leinengewerbes in Schlesien ". Der Verfasier hieß Dr. Alfred Zimmermann, war ein Schüler des Berliner Professors Schmoller und hatte von der preußischen Regierung die Erlaubnis erhalten, für feine Arbeit alles vorhandene amtliche Material zu benutzen. An der Zuverlässigkeit der tatsächlichen Angaben des Buches war also ebenso wenig zu zweifeln wie an der staatserhalten- den Gesinnung des Autors. Aus diesem streng wissenschaftlichen Werk, das auch die Billigung Schmollers gefunden hatte, nahm Gerhart Hauptmann den Stoff für fein.,Wsb«r"-Drama. Fast alle Einzelheiten der Fabel, einschließlich des„Blutgerichls" und der Demo- lierungsfzene am Ende des vierten Aktes, können aus Zimmermanns Buch als historisch getreu„belegt" werden. Trotzdem verbot die Berliner Polizei im März 1892 die öffentliche Ausführung, und dos Drama konnte mir im Verein Freie Bühne gegeb-rn werden. Nachdem dann das Oberverwaltungsgericht das Polizeiverbot aufgehoben hatte, fand om 2 5. September 1894 die erste öffentliche Ausführung statt. Im Deutschen Theater, dessen Direktion inzwischen Otto Brahm , der frühere Leiter der Freien Bühne, übernommen hatte. Von dieser Aufführung will ich erzählen. Das Theater war— zum ersten Mal unter der Direktion Brahm— bis auf den letzten Platz ausverkauft. Di« Premiere. ,» tiger hofften auf einen Skandal. Es ging nämlich das Gerücht,„die Sozialdemokraten" wären in hellen Haufen herangezogen, um dem sozialistischen„Parteidichter Geehart.Hauptmann" ihr« Huldigungen darzubringen und ihn vor den Angriffen des empörten Bürger- Publikums zu schützen. Aber es fand nichts dergleichen statt. Im Parkett saßen Singer und der alte Liebknecht , die keine Ver. anlassung gefunden hätten, die angeblich herbeigerufenen fozialdemo. kratischen Hilfstruppen zur Attacke vorgehen zu lassen. Die Auf- führung entfesselte nämlich einen einstimmigen, gewaltigen, geradezu rasenden Beifall. Auch nicht an einer einzigen Stelle wurde die geringste Opposition laut. Unh das wollte damals bei der Premiere eines modern-naturalistifchen Dramas etwas bedeuten. Man sah: das Publikum hatte Fortschritte gemacht. Und die Mimen hatten ebenfalls zu- und umgelernt. Was allerdings notwendig war. Denn ste sahen sich hier einem Dichter gegenüber, der ihnen keine„Rollen"
bot, sondern die Aufgabe stellte, handelnde und leidende Menschen zu verkörpern. Einem Dichter, der keine„Schauspieler" brauchen konnte, fondern Mcnschendarsteller oerlangte. Die meisten Künstler wußten sich in die neue Situation zu fügen. Ich erinnere mich, daß Rudolf R i t t n« r als Moritz Jäger, Rosa Bertens als Luise Hilfe, P a u l P a u l i als Bater Baumert ausgezeichnet waren, während K r a u ß n« ck als alter Hilf«, Hermann Müller als Anforge und P I t t f ch a u als Wittig sich noch zu wenig vo» der alten Äcmödiantenschablone zu befreien vermochten. Interesiant war die Leistung von Joses Kainz, der die neue seinem Stil eigentlich fernliegende Aufgabe brillant löste. Ich habe mir fahre- lang den„roten Bäcker" nicht anders als in Kainz' Gestalt vor- stellen können. Der Grundton der Aufführung war nach heutigen Begriffen wohl stark gedämpft.. In der großen Pause, vor dem vierten Akt mit der Demolierungsfzene, vertraute mir Conrad Alberti , ein als radauluftigcr Neider Hauptmanns bekannter Schrift- steller, an, dos langweilige Stück wirke auf ihn„wie eine Noch» mittagspredigt". Das Berliner Publikum und die Berliner Darsteller hatten in ihrem Verständnis für die damals moderne Bühnenkunst unverkenn- bar« Fortschritte gemacht. Wer nichts zugelernt hatte, war das Gros der Berliner Kritiker. Ein Blatt hatte die Schamlosigkeit, dem Dichter vorzuwerfen, daß er.ziller künstlerischen Bestrebungen bor ", mit seinen„Webern " lediglich sozialdemokratische Propaganda bezwecke. Schauspieler, hieß es, die«s fertig brächten, derartige Scheußlichkeiten darzustellen, verdienten nicht, Künstler genannt zu werden usf. Selbst das Publikum bekam was weg und wurde in der„Post" wegen seines begeisterten Beifalls.Destruktiver Tendenzen" bezichtigt. Und noch Einen gab es, der grollend abseits stand. Das war W i l h e l m 1. ft. Er hatte zwar der Aufführung nicht beigewohnt, ließ aber gleich am Morgen danach aus dem Zuschauerraum des Deutschen Theaters die Abzeichen seiner Hsflogc entfernen. Er war mehr für„Charleys Tante", eine damals oft gegeben« Thielscher- Posse, die er in dieser Zeit, ich glaube, vier- oder fünfmal besucht und mit impulsiven Berfallsbezengungen beehrt hatte. Suurn euique.