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BERLIN  Dienstag 23.September 1930

Der Abend

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Spätausgabe des Vorwärts

10 Pt.

Nr. 446

B 222

47. Jahrgang

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Reichswehr   vor dem Reichsgericht

Der Prozeß gegen die Hakenkreuzzellen.

Leipzig  , 23. September.

Vor dem 4. Senat des Reichsgerichts in Leipzig   begann heute morgen der Prozeß gegen die drei Reichswehroffiziere, nämlich gegen den Leutnant Richard Scheringer  , Leutnant Hans Ludien und Oberleutnant a. D. Hans Wendt  , alle drei vom Artillerie­regiment 5 in Ulm  . Die drei Offiziere stehen unter der Anklage des Hochverrats und des Bersuchs, durch Jersehungsarbeit die Schlagfertigkeit der Armee zu untergraben.

Den Vorsiz des 4. Straffenats führt Reichsgerichtsrat Baum­garten, während die Reichsgerichtsräte Klimmer, Schwarz, Sonntag und Landgerichtsdirektor Gerlach als Beisitzende fungieren. Die Anklage wird von Reichsanwalt Dr. Na gel und Staatsanwalt Weiersberg vertreten. Auf den reservierten Plägen fah man Oberheeresanwalt Schrag vom Reichswehr­ministerium, als Sachverständige Major Theißen vom Reichswehr­ministerium, vom preußischen Innenministerium Assessor Schod. Die in Haft befindlichen Angeklagten werden von den Berliner  Rechtsanwälten Dr. Sad und Dr. Kamete, sowie von dem Rechtsberater Hitlers  , dem Rechtsanwalt Dr. Frant II. München  verteidigt.

Die Angeklagten.

Der Angeklagte Oberleutnant a. D. Wendt stammt aus einer Offiziersfamilie. Sein Vater, der während des Krieges Kom mandeur eines Artillerieregiments war, wurde 1920 als General­major verabschiedet und ist 1925 gestorben. Auch der zweite Ange­flagte, Leutnant Scheringer, entstammt einer Offiziersfamilie. Sein Vater fiel im Kriege an der Westfront. Scheringer   hat eine sehr bewegte Jugend hinter sich. As Schüler eines Roblenzer Gym nasiums beteiligte er sich bereits an den Kämpfen gegen die Se­paratisten und mußte vor der französischen   Bejazungsbehörde im Jahre 1923 flüchten. Er wurde in Abwesenheit vom französischen  Kriegsgericht 3 u 10 Jahren 3wangsarbeit verurteilt. Er trat 1926 in die Reichswehr   ein und wurde Anfang 1928 zum Offizier befördert. Der dritte Angeklagte, Leutnant Ludien, ent­stammt einer Professorenfamilie aus Freiburg   im Breisgau und ist jeit Dezember 1927 Leutnant der Reichswehr  .

Der Beginn des Prozesses.

Die Verhandlung begann pünktlich um 9% Uhr, nachdem die Angeklagten, die seit länger als sechs Monaten in Untersuchungshaft sitzen, unter fünffacher Bedeckung in das Reichsgericht über­geführt worden sind. Die Bewachung des Reichsgerichts ist auch allgemein sehr stark. Insgesamt sind 200 Polizeibeamte auf geboten worden, um gegen jede Ruhestörung unnachsichtlich ein­schreiten zu können. Zu der Verhandlung sind 150 Zuhörerkarten ausgegeben. Die Karteninhaber werden einer dreifachent Kontrolle unterzogen.

Nach der Eröffnung der Verhandlung nahm Reichsgerichtsrat Baumgarten das Wort zu einer kurzen Erklärung, in der er folgendes ausführte:

"

, Wie ich aus der Liste der Eintrittstarten ersehe, befinden sich im Zuhörerraum Angehörige der Kommunistischen und der Nationalsozialistischen   Partei. Ich möchte aus diesem Grunde ausdrücklich vor Demonstrationen warnen oder gar vor Zu sammenstöße, solange dieser Prozeß hier dauern wird. Die Ver­handlung wird öffentlich geführt werden, wenigstens liegen bisher eine zwingenden Gründe vor, die Deffentlichkeit auszuschließen. Diese Verhandlung wird absolut ruhig und voll­ständig objektiv geführt werden. Ich bemerke ausdrücklich, daß ich irgendwelche Rundgebungen nicht zulassen werde und daß ich als Inhaber der Sigungspolizei es verhindern werde, daß dieser Saal, in dem Recht gesprochen wird, etwa

zum Tummelplak politischer Leidenschaften gemacht wird. Ich habe Anweisung gegeben, daß bei etwaigen 3wischenjällen die Schupobeamten die Ruheſtörer rüdsichtslos jest zunehmen und mir zur Bestrafung vorzuführen haben.

Bor ein paar Wochen ist gelegentlich eines anderen Prozesses ein Pressevertreter beim Verlassen dieses Saales von ge­Das ist absolut wissen Elementen angerempelt worden. unzulässig. Die Bertreter der Presse erfüllen hier ihre Pflicht, und ich habe Borsorge getroffen, daß sie unbehelligt bleiben. Wir, das Gericht und die Verteidigung sind versammelt, um Recht zu finden und Recht zu sprechen. Jede irgendwie geartete Störung, die uns in unserer Arbeit hindern wird, werde ich unnachsichtlich bestrafen."

Nach dieser mit lautloser Stille aufgenommenen Er­flärung des Borfizenden, der sich veranlaßt gesehen hat in dieser nicht gewöhnlichen Weise den Prozeß einzuleiten, weil er selbst schon tage lang vorher

Schmäh- und Drohbriefe übelster Art erhalten hatte, begann dann die Berhandlung mit der Feststellung Der Perfonalien der Angeflagien. Der Borsigende verliest sodann

Entwicklung war die Triebfeder unserer Handlungen.

Vors: Glaubten Sie denn, daß Sie als blutjunge Leutnants die Politik der Reichsregierung oder des Reichs­wehrministeriums in Ihrer Garnison bis in die letzten Einzelheiten hinein durchschauen konnten?

den Eröffnungsbeschluß. Auf Befragen antworten die Angeklagten| wollten nicht eine Revolution anzetteln, sondern eine lange seelische sämtlich, daß sie sich nicht schuldig im Sinne der Anklage fühlten. Ueber die Gründe seiner Verabschiedung aus dem Heere wollte sich der Angeklagte Oberleutnant a. D. Wendt nicht äußern. Der Vorsitzende erklärte jedoch, daß er später noch darauf eingehen und daß man hören werde, daß Wendt zum Borgesetzten ungeeignet gewesen sei. Reichsgerichtsrat Baumgarten verlas dann die Anklage und hielt den drei Angeschuldigten die einzelnen Punkte besonders vor. Zusammenfassend erklärte er: ,, Sie waren also aus mancherlei Gründen mit den bestehenden Einrichtungen, besonders

mit der Politik des Reichswehrministeriums und der Reichs­regierung

nicht zufrieden. Schildern Sie das bitte im einzelnen."

Angefl. Scheringer: Unser Vorgehen ist nicht einem mo mentanen Mißvergnügen entsprungen, sondern wir handelten auf Grund einer Stimmung, die Jahre hindurch bei der ganzen Reichswehr   bestanden hat und die uns schließlich zu unserem Vorgehen veranlaßt hat.

Angeki. Ludien: Das ganze Heer war eigentlich in unserem Sinne eingestellt und so drängte alles zu einer Tat. Wir

Autobus stürzt um.

Ein Fahrgast sofort tot.- Zehn Schwerverlette.

Madrid  , 23, September.

In Salamanca   ereignete fich am Montag ein schweres Autobusunglüd. Ein vollbesetzter Autobus stürzte in einer Kurve in voller Fahrt um und ging in Trümmer. Ein Infaffe war sofort tot, zehn Insassen wurden schwer verletzt in das tankenhaus übergeführt. An ihrem Aufkommen wird gezweifelt.

Förderseil geriffen!

Sturz in den Abgrund.- 11 Arbeiter schwerverlett.

Paris  , 23. September.

Ein folgenschweres Förderkorbunglüd ereignete fich auf der Zeche Coinch bei Brioude  . Ein mit 19 Personen besetzter Förderkorb löfte sich etwa 30 Meter vor der untersten Sohle von seinem Drahtseil und stürzte in die Tiefe. Elf Arbeiter wurden lebensgefährlich verleht, die übrigen acht famen mit leichteren Verletzungen davon.

Sankt Jdiotus,

der Schutzpatron der Nazis

SANKT joiOTUS 5

Ein Göke, der zertrümmert werden muß

Scheringer  : Wenn auch das nicht, so konnten wir doch flar erkennen, daß der Wille der Reichsregierung nicht der Wille

Die Frauen im neuen Reichstag   Seite 3. Der Ali- Höhler- Prozeß Seite 2. Selbsthilfe der Arbeitslosen Seite 5. Regatta der Freien Segler Seite 7. Versklavte Reparationsarbeiter Seite 8.

des Volkes gewesen ist. Auch die Politik des Reichswehrministe. riums entsprach durchaus nicht der Volksstimmung. Das fonnte man aus Gesprächen mit jungen Arbeitern und jungen Bauern entnehmen.

Ludien: Gerade wir als junge Leutnants wollten ja unsere Stimmung nach obenhin zum Ausdruck bringen. Das lediglich be. absichtigten wir. Revolutionäre waren wir nicht.

Bors: Woher glaubten Sie denn, die Stimmung des Boltes zu fennen?

Ludien: Ich habe in der Eisenbahn oder bei meinen Sonn­tagsausflügen sehr viel mit Arbeitern und Bauern gesprochen. Dabei habe ich immer wieder gefunden, daß, wenn man eine Weile mit den Leuten gesprochen hatte, diese den Offizier durchaus nicht für einen Schweinehund oder Reaktionär hielten, sondern daß sie auch erkannten, daß der Offizier letzten Endes zum Führer be­! Bar stimmt sei. Vors.: War Ihnen denn nicht klar, daß wir in einer Zeit der Gärung, in einer wirtschaftlich sehr schweren Zeit der Er­füllung leben? Ludien: Selbstverständlich haben wir das nicht verkannt, aber unsere Absicht war es, die Voltsstimmung gegen die Miesmacher wieder in Schwung zu bringen, ins­besonders, da die Reichsregierung mit ihrer Politit dem Bolte gegenüber so völlig verjagte.

Bors.( scharf): Go, Sie als blutjunger Offizier wollen also festgestellt haben, daß sich die Politik der Reichsregierung gegen das

Volk richtet?

Ludien: Das gerade nicht, aber es muß doch einen Offizier schmerzen, wenn er sieht, daß sogar die regierungstreuen Zeitungen auf die Armee schimpfen, daß man in Berlin   in den Theatern an­dauernd Stücke bringt, in denen die Offiziere, die Armee und alles, was Krieg heißt, dauernd beschimpft wird. Vors.: Ich bin selbst alter Offizier aus der Vorkriegszeit. Ich weiß ganz genau, wie die Stimmung in der Armee ist, und ich weiß, daß auch von jeher der Soldat auf die bestehenden Einrichtungen geschimpft hat. Aber das Schimpfen hat dort eine Grenze, wo das Strafgesetz anfängt.

Ludien: Wenn das Reichswehrministerium fich für uns ein­jetzten wollte, warum wendet es sich nicht gegen die Theater oder gegen die Presse?

Bors.: Ja, glauben Sie denn wirklich, daß die Regierung so einfach Theater oder Zeitungen verbieten tann?

-

Ludien: Das kann sie.( Cachen im ganzen Saal.) Bors.: So, na dann. Ich habe Sie immerhin reden lassen, weil es für uns interessant ist, Ihre Mentalität fennen zu lernen. Leutnant Ludien schilderte dann weiter, daß das Offiziertorps über den Rücktritt des Generals v. Seedt ungeheuer aufgeregt und empört gewesen sei. Leutnant Scheringer  : Die Verabschiedung des Herrn v. Sepdt stellt einen tiefen Einschnitt in die Entwicklung der deutschen   Reichswehr   dar, die bis dahin unpolitisch gewesen mar. Nach der Verabschiedung des Generals v. Seeckt   ist die Reichs­ wehr   politisch geworden. Das können alle älteren Offiziere be­ftätigen. So wie wir gehandelt haben, so dentt die ganze deutsche Reichswehr  .

Bors.( sehr scharf): Sie scheinen an einer ungeheuren Selbstüberschätzung zu leiden, wenn ich dieses milde Wort gebrauchen will.

Scheringer: Ich bitte Sie nochmals, hier ältere Offiziere zu laden und sie über ihre Ansichten zu befragen.

Borf.: Der General   v. Seedt ist zweifellos ein leuchtendes Borbild für alle jungen Offiziere gemesen und ist es heute noch. Wissen Sie denn überhaupt die inneren, die politischen Gründe, auf Grund deren er gegangen ist?

Scheringer  : Weil man die Reichswehr   an den Zügel bringen wollte. Unter Herrn v. Seedt ist sie nicht am 3ügel ge gangen. Ich habe persönlich das Vertrauen zu den Führern der alten Generation verloren und so wie mir geht es der ganzen jungen