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BERLIN  Mittwoch 24.September 1930

Der Abend

Erfcheintti gli außer Sonntags. Zugleich Abendausgabe des Vorwärts". Bezugspreis beide Ausgaben 85 Pf. pro Woche, 3,60 M. pro Monat. Redaktion und Erpedition; Berlin   SW68, Lindenstr. 3

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Nr. 448

B 223

47. Jahrgang

66 Anzeigenpreis: Die einfpaltige Nonpareillegeile

Spalausgabe des Vorwärts

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Emigrantenschicksal in den Hochalpen

Auf der Flucht vor der Faschistenmiliz gefaßt

Baris, 24. September.  ( Eigenbericht.)

Die raditale ,, Republique" berichtet von einem neuen italienisch­schweizerischen Grenzzwischenfall. Eine Karamane von 20 Jtalienern hatte am Breithornjoch in der Nähe von Zermatt   bereits die Grenze überschriften, als fie von einer italienischen Militärpatrouille entdeckt wurde. Trok lebhafter Proteste zweier franzöfifcher Bergsteiger und zweier Schweizer   Bergführer aus Zermatt   machten sich die italieni­ichen Soldaten zur Verfolgung auf und erreichten die Flüchtigen cach nach langer Jagd. Nach einigen Schrechschüssen wurden bie Emigranten zum Stehen gebracht und nach mühsamem, ffunden­langem Marsch wieder auf italienisches Gebiet zurüdge­schleppt. Obwohl die Unglücklichen, unter denen sich drei Frauen und ein halbwüchiger Knabe befanden, äußerst erschöpft waren, mußten sie mit Seilen gefesselt den Rückmarsch nach der nächsten Polizeiwache antreten.

Weber 100 Fischerboote vermißt

Zur Sturmfatastrophe an der bretonischen Küste. Die Sturmtatastrophe, die die brefonische Küste in den letzten Tagen heimsuchte, hat weit mehr Menschenleben gefordert, als bisher angenommen wurde. Ueber 100 fleine Fischer. boote werden noch vermißt. Die Satastrophe hat am Diens­tag bereits den Generaltat des Departements Finistere   beschäftigt, der den betroffenen Familien als erste und dringende Nothilfe einen Kredit von 25 000 Franken bewilligte. Das Marineminifterium hat vier Torpedoboote und zwei Kanonenboote in die Gegend von Concarneau   entsandt.

Immer wieder treffen französische   Fischdampfer ein, von denen ein oder zwei Mann fehlen, die während des Sturmes über Bord geschwemmt wurden. In allen größeren und fleineren Ortschaften der Küste warten Frauen und Mütter auf die Rückkehr ihrer Angehörigen. Der Materialschaden, der durch die Zerstörung der Boote und der Strandanlagen entstanden ist, wird auf über 16 Millionen Mart geschäht. Für viele der heimgekehrten Fischerboote war es die lezte Ausfahrt, da die Beschädigungen zum Teil so schwerer Natur sind, daß eine Aus­befferung die Untoften nicht lohnen würde. Die Thunfischer von Concarneau  , von denen eine große Flotille bei Einsetzen des Sturmes auf dem offenen Meer fischte, hat insgesamt 18 Todes= opfer zu beklagen. Aus der Umgebung von Lorient   werden 80 Matrosen und Fischer vermißt. Sie dürften alle ums Leben gekommen sein.

Gegen Fricks Koalitionsverbot. Austritt der thüringischen Polizeibeamten aus dem ADB.

München, 24. September. In der Schlußfihung der Driften Bundestagung des All­gemeinen Deutschen Beamtenbundes am Dienstag wurde mitgeteilt, daß wegen des Berbots des thüringischen Polizeibeamtenverbandes Berhandlungen mit dem thüringischen Minifterium geführt worden find. Die Verhandlungen find jedoch ergebnislos verlaufen, so daß das Verbot bestehen bleibt. Der Polizeibeamtenverband hat darauf­hin seinen Austritt aus dem Allgemeinen Deutschen Beamtenbund erklärt.

Die Bundestagung legte in einer einstimmig angenommenen Entschließung gegen das Berbot des thüringischen Minifteriums Verwahrung ein, unter Hinweis auf die entsprechenden Bestim­mungen der Reichsverfassung. Sofern bis 1. Oftober feine Er­flärung aus Weimar   vorliegt, will der Bundesvorstand auf dem Rechtsweg die Aufhebung der Berbotsverfügung er­

wirken.

Börse beruhigt sich weiter.

Die Banfenerklärungen in New York   haben gewirkt. Die in New Yort von deutschen   Banken über die politische Lage abgegebenen beruhigenden Erklärungen haben die Verkäufe des Aus­landes abgebremst. Jedenfalls maren auf der heutigen Börse die Berkäufe sehr zurückgegangen und es machten sich sogar bei kleinen Raufaufträgen gewisse Kursbesserungen geltend.

Auch auf dem Geldmarkt hat sich die Anspannung etwas verringert. Die Banken haben für das Monatsende unter dem Eindruck der Aufregungen der vorigen Woche fo start vorgesorgt, daß jezt wieder reichlich Geld bis zum Ersten frei ist. Der Zinssag für tägliches Geld ging infolgedessen zurück. Nach Frankreich  dürften aber noch Kreditrückzahlungen erfolgen. Es werden immer noch Dollars verlangt, die zur Rückzahlung französischer Kredite in Franten umgetauscht werden.

Prozent!

Alarmierende Gerüchte über die Arbeitslofen- Beiträge.

Die Mitglieder des bisherigen Reichsfabinetts tagen. Sie sind am Dienstag zusammengetreten, um, wie es heißt, ihre finanziellen Sanierungspläne zu beraten. Diese Verhandlungen sind aber sogar in dem kleinen Gremium so schwierig, daß sie zu­nächst auf heute nachmittag verschoben wurden, zweifellos aber noch mehrere Tage andauern werden, bis die Pläne soweit abge­rundet sind, um dem neuen Reichstag als Unterlage für fachliche Entscheidungen vorgelegt zu werden.

Das einzige, was aus dem Dunkel der Kabinettssigung an die Deffentlichkeit dringt, ist das alarmierende Gerücht, es sei beab­

Aus dem Inhalt:

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Wessels Freundin sagt aus Naziführer als Hochverratszeugen Sozialdemokraten und Kommunisten in den Wahlkreisen Mord bei Walzermusik Dreisprachiges Land Selbstgebaute Faltboote

Edelpenner am Kurfürstendamm

C

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Wiens Kampf gegen die Jugendselbstmorde Seite 8

sichtigt, die Beiträge für die Arbeitslosenversiche rung auf 6% Proz. des Lohnes zu erhöhen. Das wäre ein so ungeheurer Sprung, daß man wirklich noch an der Richtigkeit dieses Gerüchtes zweifeln möchte. Indessen ist noch allem Vorangegange­sich in Erinnerung zu rufen, was war und was iſt. nen nichts mehr unmöglich. Deshalb ist es zweckmäßig, noch einmal

Die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslcsen­versicherung war zunächst mit einem Beitrag von 3 Proz. des Lohnes ausgestattet. Man rechnete damit, daß dieser Beitrag ge nügen würde, um 725 000 Arbeitslose dauernd zu unterstützen. Aber schon im Jahre 1928, dem zweiten des Bestehens der Arbeits­losenversicherung, mußten im Monatsdurchschnitt 866 000 arbeitslose Versicherte unterstützt werden, so daß die Ausgaben die Einnahmen bereits erheblich überstiegen. Die im Gesetz vorgesehenen Darlehen

des Reichs im Notfalle brauchten 1928 aber nicht in Anspruch ge­

nommen werden, da aus dem ersten Jahre der Versicherungstätig­

feit ein Notstock von 150 Millionen Mark angesammelt war.

Anders wurde es jedoch im Jahre 1929. Die steigende Wirt­fdjaftsfrise warf immer neue Scharen in die Erwerbslcsigkeit. Im Menatsdurchschnitt mußten bereits 1,274 Millionen Versicherte unterstützt werden. Die Folge war, daß das Jahr 1929 mit einer Unterbilanz von 318,8 Millionen abschloß. Um diese Summe zu decken, mußte der vorgesehene Reichskredit in Anspruch ge

nommen werden. Schon im Laufe des Jahres war die Notwendig. keit, die Reichsanstalt sicher zu finanzieren, immer flarer geworden. Die bürgerlichen Parteien des Reichstags unter Führung der scharf­macherischen Volkspartei drängten, unterstützt von einem inspirierten Pressesturm, auf radikalen Abbau der Leistungen, während die Sozialdemokratie sich bemühte, durch befristete Er­höhung des Beitrags rechtzeitig die Einnahmen zu steigern. Die Bolkspartei steramte sich gegen je de Beitragserhöhung über 3 Proz. hinaus. Schließlich fcnnte eine von der damaligen Regie­rund Müller- Wissell vorgeschlagene Teillösung, die eine Beitrags­erhöhung auf Proz. vorfah, nur bei Stimmenthaltung der Volkspartei angenommen werden. Diese Erhöhung trat am 1. Januar 1930 in Kraft. Aber bald zeigte sich, daß sie nicht genügen würde, besonders da sie viel zu spät erfolgte, um dem Ansturm der Wirtschaftskrise standhalten zu können. Ueber dem Kampf um die Sanierung der Arbeitslosenversicherung ist schließlich die Regierung der Großen Koalition gesprengt worden. Die industriellen Scharfmacher, die die Volkspartei diri­gieren, hatten ihren Triumph.

Jedoch schon bald nach Antritt der Bürgerblock regierung mußten die Beiträge aufs neue erhöht werden. Jetzt stimmte auch die Deutsche Volkspartei   einer herauffegung auf 4 Proz zu. Wäre dieser Beitragssag ein Jahr früher angenommen wor den, jo hätte das Defizit der Reichsanstalt nicht einen so tata­ftrophalen Umfang annehmen können. Aber jetzt sorge die unge­heure 3iffer der erwerbslosen Versicherten dafür, daß der am 1. August 1930 in Kraft gesetzte Beitrag nicht ausreichte.

Die ,, Sanitätsräte", die im Borjahre je de befristete Beitrags­erhöhung ablehnten, sind, wenn die neuesten Gerüchte zutreffen, also bereit, die Beitragserhöhung gar auf 6% Pro3. zu er höhen, ihn also gegenüber dem Vorjahre mehr als zu ver doppeln. Die vollkommene Niederlage der Volkspartei bei den letzten Wahlen war eine Antwort auf ihr scharfmacherisches Treiben gegen die Arbeitslosen. Jetzt wird man die wirkliche Vorlage der Regierung Brüning- Stegerwald abwarten müssen, um die Folgen der Scharfmacherpolitik der Industriellenpartei voll würdigen zu können.

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Die Kabinettsfizung wird heute abend um 8 Uhr fort­gesetzt. Wie von zuständiger Stelle mitgeteilt wird, ist das Kabinett in seiner gestrigen Beratung übereingekommen, daß an der Not­verordnung nichts geändert wird.

10 Proz. des Gehaltes für Erwerbslose. Beschluß des Hamburger Genats.

Hamburg  , 24. September( Eigenbericht). Die Mitglieder des Hamburger   Senats, dem der Sozialdemo­frat Roz als präsidierender Bürgermeister vorsteht, sind überein­gekommen, bis auf weiteres 10 proz. ihres Gehalts der Wohlfahrtsbehörde zu Zwecken der Erwerbslosenspeisung zu überweisen.

Die Leutnants vor dem Reichsgericht

Wir bringen hier die erste jemals in einem Hochrerralsprozeß im Reichsgericht gemachte Aufnahme. Sie zeigt Stehend die Angeklagten Hans Ludien u. Richard Scheringer  , zwischen

den beiden Verteidigern fitzend Hans Friedrich Wendt