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?!r. 473» 4?. Iahkgang Oo»aer«t«g. 9. Ottober 1930
Letztes Heu der Havelwiesen
In der frachtbaren Havel  - niederang ist das letzte Heu eingefahren worden. Die end­losen Wiesen/lachen zwischen Paretz   und Brandenburg   haben für dieses regenreiche Jahr so ziemlich das letzte hergeben müssen. Der Rest steht halb im Wasser des sumpfigen Bo­dens, der an vielen Stellen bei jedem Schrift nachgibt und das Wasser hervortreten läßt. Das Heu wird von Ufer zu Ufer oder von den kleinen Inseln im Havellaaf auf Fähren be-"**----- fördert, die die Last mehrerer großer Heuwagen mit Schnittern und Pferden aufnehmen können. Die Fähren mit den Heuwagen darauf bilden in dieser Jahreszeit ein Merk­mal für die märkische Flußlandschaft. Nebelf euchte und Regen leiten hier bald in den Winter über. Der Nebel liegt morgens bis tief in den Vormittag hinein über den feuchten Wiesen, aus denen das Weiden- und Erlengebüsch sich wie kleine Inseln hervorhebt. Dann bricht sich mühsam die Sonne Bahn oder es kommt zu jenen anhaltenden Regen­fällen, an denen der Herbst bei ans so reich ist. Ein schwer­mütig stimmendes Bild, diese Havelniederung im Regen.
Toieuehrung in London  . Llebeffühmng der Opfer der Lustschiffkatastrophe. London  , S. Oktober. Die Helmkehr der 4? Opfer der Katastrophe des Luftschiffs.R 10t' vollzog sich nicht ohne Hindernis. Einer der beiden ausgesandten Zerstörer beschädigte im Hasen von Voulogne eine seiner Schrauben und mußte die Särge ans sein Schwefterschiss Tempest' überführen, das dann den Hafen unbegleitet verließ und durch Rächt und Sturm nach Dover   dampfte. Die Zeremonie im Hafen von Dover   war einfach und würdig. Der Bürgermeister in seiner Amtskleidung, der Sohn des Premierministers Macdonald als Venreter seines Daters, Soldaten, Seeleute und Flieger huldigten schweigend den Toten, während die blumengeschmückten Särge mit Hilfe eines Kranes gelandet und von je acht Fliegersoldaten in den bereitstehenden, mit rotem Tuch aus- geschlagenen Sonderzug getragen wurden. Als alle- zu Ende war, ertönte«in Trompetensrgnal und der Zug, dessen Lokomotive vorn einen großen Lorbeerkranz trug, rollte langsam davon. Vor der Victoria- Station   in London   hatte sich schon zwei Stunden vor Ein- treffen des Zuges eine nach TausendenzählendeMenschen- menge angesammelt, die trotz des einsetzenden Regens immer mehr anschwoll. Auf dem Bahnsteig stand eine Ehrenwache der Flieger- truppe, auf deren linken Flügel sich acht Reservemannschaften des verunglückten Luftschiffs befanden. Unter den zahlreichen offiziellen Persönlichkeiten waren viele Offizier« und Beamte, auch der Premierminister mit seiner Tochter, erschienen. Um 1.2S Uhr fuhr der Zug mit seiner Last von Toten langsam in die große Halle ein. Rur der erste Wagen, in dem sich drei U e b e r l« b e n d e der Katastrophe befanden, war erleuchtet. Während die Wache die
Ehrenbezeugung leistete, wurden die 47 mit der Nationalflagge be- deckten Särge auf 24 Moiortendern niedergesetzt. Dann bewegte sich der lange Zug zum Bahnhof hinaus durch die spalierbildenden Menschenmasfcn nach der in«ine Kapelle verwandelten Leichenhalle, wo sie vorläufig ausgebohrt wurden, um später in die Westminster- Halle übergeführt zu werden. Berlins   älteste Badeanstalt. Der Gemeinnützige verein der Wasserfreunde hat sein Bad Slresemannstraße 123 eröffnet: damit ist Berlins  älteste Badeanstalt noch SOjährigem Dornröschenschlaf wieder- ec wacht. In einer geistvoll-launigen Ansprache erzählte der Ehren- vorsitzend« des Vereins und Senior der Berliner Press«, Dr. C a st a n, von den Gründersahren des Vereins, die in«ine Zeit fallen, wo Berlin   noch wenig oder gar nichts von der Heilkraft und Not- wendigkeit einer Badekultur wußte. Als Prießnitz, der Pionier des Badewesens, im Anfang des 19. Jahrhunderts den Verein der Wasserfreunde schuf, da begegnete er bei den höheren Staatsober- Häuptern, die hinter jeder Bereinigung einen verkappten Jakobi- nismus witterten, allerhand Widerständen: dies war zur Zeit des glorreichen Ministers Herzog Karl von Mecklenburg, der Niebuhr, Gneifenau und Stein verdächtigt« und den Turnvater Jahn   zwang, seinen Turnplatz auf der Hasenheide wieder zu schließen. Erst als 18Z7 der Verein ein großes Grundstück in der Kommandanten- straße für seine Zwecke erhielt, wurde der eigentliche Grundstock gelegt. Als dann später Grund und Boden im Zentrum Berlins  rar und äußerst begehrt wurde, siedelte der Verein der Wasser- sreunde nach seinem heutigen Sitz über. Der Kriegszeit und der
damit verbundenen Kohlenknappheit fielen die Heilbäder zum Opser und im Jahre 19lZ wurde die Anstalt stillgelegt. Erst jetzt war der Verein wieder so kapitalkräftig geworden, den Badebetrieb, der hauptsächlich in der Verabreichung von russisch- romischen Bädern mit Massage und anderen medizinischen Bädern besteht, wieder aufzu- nehmen. Auf dem Gebiet« des Dampfbades wurde ein« Neuanlage, das sogenannte Naholgabad geschaffen: ein Volldampfbod, in dem gasförmige Hellstoff« enthalten sind, die während der Verabfolgung aus Nadelholz frisch erzeugt werden und für rheumatische und Erkälwngserfcheinungen außerordentlich heilsam sein sollen. Jnhala- torien nach Professor Spieß, Höhensonne, Massage usw. vervoll­ständigen«ine mit allen hygienischen und modernen Anlagen ver- sehen« Badeanstalt. GroHfeuer in der pallasfiraße. Eckhausdachstuhl Gleditschstraße völlig ausgebrannt. Durch ein stundenlang mik großer heftigkeil andauerndes Grohfeuer wurde gestern nachmittag der Dach flu hl des Eckhauses Pallas st raße 17 und Gleditschstraße völlig zerstört. Gegen 15 Uhr schlugen aus den Bodenluken nach der Front der Pallasstraße plötzlich meterlange Flammen empor. Als die ersten Züge der alarmierten Feuerwehr an der Brandstelle erschienen, war der obere Tell des Gebäudes derart in Rauch gehüllt, daß der Umfang des Brandherdes überhaupt nicht zu erkennen war. Der Regen drückte immer neue Rauchinaffen nieder, so daß wegen der großen Gefahr nacheinander sechs Löschzüge unter Leitung des Branddirektors Wagner hinzugezogen werden muhten. Als von der Pallas- und Gleditschstraße fünf mechanische Leitern hoch- gewunden wurden, hatte das Feuer bereits den ganzen Dachstuhl in einer Länge von etwa 5l> bis 60 Metern erfaßt. Aus zehn Schlauchleitungen wurden von allen Seiten ungeheure Waffenneugen in das Feuermeer geschleudert. Nur unter großen Anstrengungen gelang es, die angrenzendeir Dachstühle der Seiten- flügel vor der Vernichtung zu retten. Drei Löschzüge waren«och bis in die späten Abendstunden hinein mit den Aufräumungs­arbeiten beschäftigt. Von der Kriminalpolizei ist eine Untersuchung über die Entstehungsursach« eingeleitet worden. Der Schoden   ist außer- ordentlich hoch. Neues Heim für die Neuköllner   Kinder. Es tut dringend not! Alle Horte überfüllt. Die Gemeinnützige Laugesellschast Berlin-Ost m. b. h. hat sich bereit erklärt, in ihrer zur Zeit in der Ausführung begriffenen ivohnungsbauaalage in Neukölln  , Steinmetzstraße. ein be­sonderes Gebäude für eiu Kindertagesheim Lauskrippe und Kindergarten zu errichten. In der dicht bevölkerten Gegend längs der chermonnstraße, die gerade von ärmeren Volksschichten bewohnt wird, ist bisher keine derartig« städtische Einrichtung vorhanden. Die beiden dort vor- handcnen privaten Anstalten mit zusammen 90 Plätzen sind über- füllt. Mit dem Kindergarten soll eine Laufkrippe für ein- bis drei- jährige Kinder verbunden werden. Di« Unterbringungsmöglichkeit von Kleinkindern ist im Bezirk Neukölln   ganz unzulänglich. Die zu errichtende Anstalt soll im Kindergarten 30 Plätze und in der Lauf- kripp« 25 Plätze enthalten. Die Gesamtkoste.i, die von der Hochbaudeputation als angemessen bezeichnet sind, betragen 75 000 M., die aus Hypotheken und aus Haushaltsmitteln für 1930 besckzafft werden. Der Magistrat bittet die Stadtverordnetenversammlung in einer Vorlage, der Errichtung des Kindertagesheims in Neukölln   zuzustimmen. Die Annahme der Vorlage, für die sich besonders die Sozial- demokraten einsetzen, darf als sicher bezeichnet werden.
llnberrcht. Kachliruck verboten. Gustav Aiepenhauer Tcrlag A.-G., Pertriebeabt. Herr, Entschuldigung, das Glas müssen Sie aber be- zahlen..." Der Wirt mit dem breiten Gesicht packte seine Pranke auf Werlas aufgeregt umherfuchtelnde Hand. Quatsch", schrie Köhn.oller Dussel  . Ich habe gesagt. ich bezahle, oerstanden? Los, Meister Knupp, zwei Aquavit und noch einen für dich!" Es wurde ruhig. Alle zehn Minuten bestellte der Buck- lige Aquavit, Bier, Aquavit, Bier man hörte, wie das Aier in die Gläser rann, wie die Zeitung auf dem Schank- tisch raschelte, die beiden 5)ehler waren längst gegangen und um zwölf, als Werla müde, zum Erbrechen müde war, er- klärte Meister KnuppFeierabend,, meine Herren! Um vier Uhr früh können Sie weitersaufen..." Köhn duldete nicht, daß Werla auch nur eine Mark zahlte. Er nahm ihn an den Arm, quälte sich mit ihm die Kellertreppe hoch, torkelte vier, fünf Schritte und erbrach sich an einem Laternenpfahl. Siehst du.. sagte er. immer noch rülsisend,siehst du, Kamerad, dahin haben mich die Weiber getrieben. Wenn du sagst, deine Frau ist anders ich könnte weinen darum, aber glauben glauben kann ich das nicht mehr. Verzeih mir, Kamerad, siehst du, so saufe ich jeden Abend. Und wenn ich kein Geld Hab', klau ich mir im Durchgang ein paar hundert Zigaretten. Ich muß jetzt saufen. Es geht nicht mehr sonst... Verzeih..." und bog, mit einem Male laufend, in eine Seitenstraße und verschwand. Das Dunkel schloß sich um Berthold Werla wie eine runde Wand, über deren Kanten gelbe, dünne und ferne Eitreifen Lichtes stachen wohin, in welche Richtung sollte et gehen? Er lief und lief, und endlich sah«r einen Autobus
in einer fremden Straße, der in seine Richtung fuhr. Mit Lebensgefahr sprang er auf das rumpelnd sausende Gefährt der Aboag, wurde vom Schaffner wie in einem Netz ge- fangen und mit halbschlafenden Augen schließlich richtig ab- gesetzt... ... und dann stand sie da. Hatte gewartet, sechs, sieben Stunden. War auf und ab gegangen, auf und ab, die Augen suchend umhergerichtet die Reimers. Sollte er da ja, sollte er zuschlagen, wie er es eigentlich wollte, grob werden und gemein, sie anschreien? Unter dem Torweg sagte er leise zu ihr..aber, wissen mußt du es: meine Frau ist gut. Und sie ist trank und eigent- lich bin ich gemein. Heute, ich kann nichts dafür, habe ich getrunken. Ich weiß aber alles und du darfst nicht denken, daß ich dich später behalten kann..." Ach, wer hat denn davon geredet", sagte sie nur, fast flüsternd und blickte weg.Ich wollte nur, daß du ein wenig gut zu mir bist..." Fräulein Reimers, das leichtfertige Bürofräulein, brachte ihn ins Bett, er schnarchte sofort, dann kochte sie noch Kaffee, strich Brot für den Morgen, stellte seinen Wecker, räumte ein wenig zurecht und ging auf Zehenspitzen hinaus. Sen Schlüssel warf sie durch den Briefkastenschlitz auf den Flur. Jetzt ging es nicht mehr anders, sie fuhr nun Abend für Abend mit ihm, und es endete nie anders, als am ersten Tage sie behielt ihre sorglose- Keckheit und schien sich nicht eitlen Gedanken über die Zukunft zu machen. Nein, niemals versuchte sie, ihn zu einer Tollheit, einem Unsinn zu bewegen sie tat eigentlich nichts, um ihn zu erschüttern oder in eine verzweifeUe Situation zu bringen. Der Zustand, in dem er dahinlebte und ihren Körper begehrte, war unhaltbar durch die Tatsachen allein. Annie war trank und hatte einen Jungen, bald mußte er sich die Reimers fernhalten diese drei Dinge waren unentwirrbar miteinander verschlungen. Eine Katastrophe mußte eintreten, wenn es ihm nicht gelang, hier Ordnung zu schufen. An jedem Morge'n nahm er sich vor, die Geschichte endlich zum Schluß zu bringen durch ein paar vernünftige offene Worte. Man mußte überlegen, wie sie sich zu dem'unver- ineidlichen Bruch stellen würde. Ihre. Zärtlichkeiten so hatte er noch keine erfahren rissen ihn Nächte an sie würde Fräulein Reimers ihn entbehren können? Und plötz- lich ärgerte es ihn, daß er sie noch immer m feine« Gedanken
mit Fräulein anredete er spuckte verstohlen aus und nahm sich vor, am Abend nicht mit ihr zu reden. Tatsächlich«ing er einfach ins Kino, ohne an der Bahn eine Minute»n warten... 7. Sie. nahm die Entlassungspapicre lächelnd in Empfang und trug sie auch noch in der freien Hand, als sie mit dem Kind im Arm durch das hohe Tor hinaustrat auf die Straße- Es war ein sehr zaghafter April dieses Jahr, sein bißchen Sonne war nicht schneller hochgekommen als Annie aber nun hatte er's doch scheinbar geschafft. Man spürte in den paar Berliner   Straßenbäumen, in den kleinen Rasenflächen neben den Radfahrwegen, man spürte es auch in den Men- schen, daß es nun doch wohl etwas auf sich habe, mit den dünnen Sonneblättchen, die über Dächer und Mauern riesei- ten und auf diesem und jenem Gesicht einfach liegen blieben. Ein Daumen ist die köstlichste Sache der Welt und ver­mutlich würde der Mensch sich viel länger mit dieser Kost- barkeit die Zeit vertreiben, wenn nicht ein gewisses Vorurteil rechtzeitig für Scham sorgte Kinder geben ihn jedenfalls erst so spät wie möglich und sehr ungern auf. Ferdinand Werla konnte es sich erlauben, an diesem Apriltag. wohl- verpackt in ein Eilpe und ein paar Windeln, im Angesicht der Sonne bei seinem Daumen zu bleiben. Seine Augen wanderten flink umher, faßten einen vorübergleitenden Laternenpfahl, einen direkt über seine Nase wegsteuernden Spatzen, ein paar bewegliche Wolken. Köpfe und Hüte von Menschen, hoch übereinandcrklebende Fensterscheiben und ge- legentliche Bäume, seine Blicke wanderten, so weit es ging dann mußte er, da die Stirn sonst schmerzte, wieder ckon vorn beginnen und sich ein anderes Ding weggleiten lassen: so stellte sich ihm der erste Weg in die Welt dar, das Schreiten seiner Mutter, der Frau Annie Werla,' geboren zu Berlin  , wie er, der angetrauten Frau des Arbeiters gleichen Namens. seines Vaters... Wenn auch Ferdinand der Sprache nicht mächtig war und zweifellos schon aus diesem Grunde keine klaren Ge- danken formulieren konnte, so erschien ihm zweifellos dieses weiche, wiegende Davongetragenwerden als eine herrliche Sache. Er sagte nicht einen Ton. sprach seinem Daumen mit außerordentlichem Behagen zu und ließ die Welt, wie alle zufriedenen Menschen, machen, was sie wollte... (Fortsetzung folgt.)