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Tr. 485 47. Jahrgang

1. Beilage des Vorwärts

Berlins Notsteuern.

Was wird das Stadtparlament tun?- Bier soll nicht teurer werden.

Die gestern vom Magiftrat in einer Zwangslage befchloffene Bor.  | treten sollen, wird immerhin noch genügend Zeit zur Beratung ver Lage, die eine Erhöhung der Biersteuer, die Einführung einer bleiben. Kommen die Stadtverordneten zu einer Ablehnung des Gemeindegetränkesteuer sowie einer Bürgersteuer Magistratsbeschlusses, so ist es durchaus möglich, daß erneut der vorsieht, wird eine neue fühlbare Belastung für die Berliner   Be- Oberpräsident eingreifen wird vöfferung bringen und daher in weiten Kreifen auf großen Unwillen ftoßen. Es wird Aufgabe einer verantwortungsbewußten Presse sein müffen, der Oeffentlichkeit vor Augen zu führen, daß es oberste Pflicht des Magistrats ist, den start ins Wanten geratenen Haus­halt einigermaßen zum Auslgeich zu bringen.

Eine andere Möglichkeit als die Durchführung der vom Reichs präsidenten verfügten Notverordnung besteht zur Herbei schaffung der dringend benötigten Mittel nicht. Es darf nicht ver fannt werden, daß es die Sorge um die Bereitstellung der dauernd anwachsenden Mittel für die Wohlfahrtserwerbslosen st, die den Magistrat zu seinem Beschluß veranlaßt hat.

Wie fich das Stadtparlament zu der Magistratsvorlage stellen wird, ist noch völlig ungewiß. Wie der Borwärts" er­fährt, wird es faum möglich sein, die Vorlage noch in der heutigen Sigung den Stadtverordneten zuzuleiten. Der Beschluß bedingt eine umfangreiche Begründung und Klarstellung des Nachtragshaushaltes, so daß die Vorlage wahrscheinlich erst in acht Tagen an das Plenum gelangen wird. Da die neuen Steuern ab 1. November in Kraft

Gefährlicher Gänsebraten.

Parathphuserfranfungen im Kinderheim Westend.  - Keine Lebensgefahr für die Erfrankten.

Unter dem Pflege- und Hauspersonal des Städtischen Kinder­and Müfterheimes in der Rüfternallee in Westend  find Erkrankungen aufgetreten, die als Nahrungsmittelinfektionen anzusehen find. Die bakteriologische Untersuchung hat das Bor­handensein von Paratyphus- Enteritis- Bazillen im Stuhl Erkrankter und in Teilen von Gänsebraten ergeben, so daß der Gänsebraten als Infeffionsquelle anzusehen ist.

Die Gänse wurden, wie das Bezirksamt Charlottenburg   mit­teilt, bei der Lieferung als völlig einwandfrei abgenommen. Es find bei weitem nicht alle Personen ertranft, die von den Gänsen gegeffen haben, so daß nur ein Teil der Gänse Träger des Bazillus gewesen ist. Auch bei vollständigem Durchbraten einer Gans werden die Paratyphusbazillen an den Knochenteilen and im Knochenmart nicht immer abgetötet. Eine Unachtsamkeit fiegt meder bei der Beschaffung noch bei der Bermertung der Gänse vor. Ertrantt find 17 Schwestern von insgesamt 42 vorhan­denen Schwestern, 7 Angestellte vom Hauspersonal und 3 Mütter. Einige Fälle find sehr leicht, die anderen verlaufen so, daß nach dem Urteil der Aerzte Lebensgefahr bei feinem Ba. tienten besteht. Der größte Teil der Erkrankten befindet sich in Behandlung im Krankenhause Westend  . Ansteckungsgefahr von Mensch zu Mensch liegt bei dieser Art des Paratyphus nicht vor. Die Kinder im Heim sind in feiner Weise gefährdet.

Die Deutsch  - Französische   Gesellschaft veranstaltet unter Zeitung bon Staatssekretär Dr. Beismann am heutigen 16. Oftober, abends 8 Uhr, bei Stroll einen Bolitischen Abend, auf dem wechselseitig über das Thema: Bas Deutschland von Frankreich   und Frankreich   von Deutschland   erwartet" der französische   Abgeordnete Pierre Tot vom Auswärtigen Ausschuß der Deputiertenkammer und der deutsche Zentrumsabgeordnete Josef Zoos vom Auswärtigen Ausschuß des Reichstags sprechen werden. Karten zu M. 2.-, 4.- und 6.- in der Geschäftsstelle der Dentsch- Französischen Gesellschaft, Haberlandftr. 2( Cornelius 0503).

Walter A. Persich

17]

Vielleicht

morgen..

Unberecht. Nachdrud verboten. Gustav Kiepenhauer Verlag A.-G., Bertriebsabt.

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Die Frau durfte nicht denken. Sobald sie sich das Ge­schehen jener Nächte vergegenwärtigte und zwangsweise mußte sie sich jede Einzelheit der Liebschaft der Rothaarigen vorstellen stieg ihr Etel in den Mund. Der Widerwille ging an manchen Tagen so weit, daß sie sich abwenden mußte, wenn Werla ruhig seine Mahlzeiten beendete.

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Aber auch in ihrem Körper freisten Säfte. Zelle um Zelle, Kraft und Blut, die sie dem Kind gegeben hatte, er­neuerten sich. Ueber der Stadt brausten die ersten Winde des Frühjahrs, deren flatternder Abfall noch in den Hinterhof quoll wie eine Hoffnung, und es gab schon Tage, da ließ man eine halbe Stunde Sonne ins offene Fenster hinein, und es gab Augenblicke herrlicher Mütterlichkeit, wenn das Kind mit den kleinen Bligen des Gestirns zu spielen begann und gurrend lachte.

Bald wartete Annie wieder an ihrem gewohnten Plag auf das Kommen des Mannes. Es war zum Feierabend nicht mehr dunkel, seine breite, ein wenig nach links gebeugte Gestalt fam durch eine heimatliche Dämmerung auf das Haus zu und er winfte oft, so daß es unmerklich geschah, daß sie freudig wie einst die Tür öffnete und ihn empfing mit Lächeln. An solchen Tagen wußten sie nichts vom Ber­gangenen, die Welt bewegte sich richtig und das Leben war eine schöne Wohnung. Hob Berts Hand dann aber einmal nur ein Messer ungewohnt, lachte er etwas fremd por sich hin, mar sogleich das Gespenst des Gewesenen wieder be schworen: ein Frauentopf schien sich aus dunstigen Massen zu formen und dem Manne zuzuwenden und Annie sprach, ihm nun Rätsel und Anklage zugleich, tein Wort mehr.

Im Magistrat ist man der Meinung, daß die Erhöhung der Biersteuer feine Herauffehung des Bierpreises nach sich ziehen dürfe. Die neue Steuer bedingt eine Erhöhung des Bierpreises um un­gefähr 2 Pfennig pro Liter. Man glaubt nun, daß diese gering­fügige Erhöhung von Gastwirtschaften getragen werden müsse, weil bei der letzten Reichsfestsegung in den meisten Fällen bereits ein Aufschlag auf die Preise stattgefunden habe. Die großen Gast­häuser werden die neue Belastung sicherlich auch leicht ertragen können, während sie für die Besizer kleiner Wirtschaften, die be­reits jetzt schwer um ihre Existenz zu kämpfen haben, um so folgenschwerer sein wird.

Ruhe in Berlin  .

Der geftrige Tag ist in Berlin   völlig ruhig verlaufen. Sowohl der Reichstag   wie auch die Umgebung des Landtages waren durch Schutzpolizei stark gesichert. Zu Zwischenfällen ist es auch in den Abendstunden nirgends gekommen.

Donnerstag, 16. Offober 1930

Der Raubüberfall in Raulsdorf

Das Auto der Täter gefunden.- 500 Mart Belohnung. Der Raubüberfall in Haulsdorf, über den wir bereits ausführlich berichteten, hat sich jetzt insofern geklärt, als das Auto, das die Täter benutzten, vor dem Hause Prinz­Eitel- Straße 78 zu Lichtenberg   aufgefunden und beschlag­nahmt werden konnte. Es handelt sich um einen Wan­dererwagen mit dem Kennzeichen I M 25 297, der in Magdeburg   beheimatet sein muß.

Der Wagen stand herrenlos am Fahrdamm und erregte die Aufmerksamkeit von Passanten, bis jemand darauf fam, daß ein Auto mit ähnlicher Nummer zu dem bereits bekannten Raubüberfall benutzt worden war. Die Kriminalpolizei wurde in Kenntnis gesetzt und stellte den Wagen sicher. Es wurden auch Zeugen ermittelt, die gesehen haben, daß drei jüngere Leute aus dem Wagen stiegen und fortgingen. In dem Wagen wurde noch eine abge schossene Patronenhülse einer großkalibrigen Pistole ge­funden. Dieser Fund allein genügt schon, um festzustellen, daß es fich in der Tat um das Raubauto handelt. Nach dem Ueberfall auf die beiden Geldträger des Arbeitsamtes Oft hatten Schupobeamte und Passanten versucht, die Verfolgung der schnell abfahrenden Räuber aufzunehmen. Aus dem Wagen heraus wurde aber auf die Verfolger noch mehrmals geschossen und beim Abfuchen der Straße wurden die Patronenhülsen entdeckt. stimmen genau überein mit der, die noch im Wagen lag. Immer mehr bestärkt sich die Vermutung, daß es sich um einen vorbereiteten Plan handelt. Die beiden Geldträger, die den Weg nach Kaulsdorf  jede Woche viermal machen, sind von den Tätern sicher beobachtet und auf ihren Gängen verfolgt worden. Es müssen jüngere Leute, etwa im Alter zwischen 20 und 30 Jahren, gewesen sein. Einer hat am Tatort eine Müze verloren, die ebenfalls beschlagnahmt wor­den ist. Es ist eine violette, blautarierte, fast neue Müze mit hellem

Sie

Wohnquartier in 200jähriger Hausruineled Butter. Beugen erklären, daß auch die anderen Inſaſſen des Autos

Diefes 200 jährige, in seinem Oberstock bereits völlig zerfallene Kaus in Ketzin   a. H.( etwa 50 km hinter Berlin  ), dient im Erdgeschoß noch als Wohnung.

Nacht, in der sie wieder miteinander schliefen und in der Annie feine Wärme und er ihre lautlose Zärtlichkeit spürte, die alles hinwegnahm.

Die Welt bewegte sich wieder im Taft. Andere Dinge machten ein wichtiges Gesicht, die beiden Menschen konnten abends in der Küche sizen, Annie nähte, der Mann betrachtete mit Stolz den Jungen, und der erste Sommer tam mit Duft und Staub in abendlichen Spaziergängen. Daß man im Dunkelwerden heimkehren mußte, weil der fleine Ferdinand unnachsichtig seine Nahrung verlangte, erfüllte mit Stolz, Erwartung und Dant.

Die Tagessonne warf Ballen Hige auf Dächer und in Fenster, tochte Menschen, zermürbte die Stadt, aus der Ferienkolonnen in Bäder flohen. Das Volk schuftete, faulenzte, belagerte die Wohlfahrtstassen weiter, fehrte Straßen, addierte und subtrahierte in Büros, feuerte Gasteffel und Elektrizitätsöfen, ließ Straßenbahnen staubwirbelnd flingeln. Es würde schnell jo heiß, daß man glaubte, die Schlüssel schmölzen in den Hosentaschen. Ledern hing das Laub, die Männer in den Fabriken arbeiteten halb nadt, die Büro­angestellten trippelten mit flatternden Schlipsen auf ihren Oberhemden bedrückt und träge durch die Räume..

An einem dieser Vormittage ließ sich die alte Hanek bei ihrer Tochter sehen, es ging beffer mit ihren Beinen und sie wollte Sonntag in den Grunewald  . Frau Guhlmann war ihr begegnet und hatte sie auf die Idee gebracht. Sie meinte, auch für Annie sei das eine gute Ablenkung. Man vergesse allerlei lebles bei so einem netten Ausflug. Ob sie damit Bestimmtes sagen wolle? erfundigte sich Annie.

Frau Hanet wehrte mit gesteigertem Nachdruck ab. Eine Frau, die sich mit Sorgen um Essen, Trinken und Gesund­heit des Kindes plage, fönne so einen Tag wirklich vertragen. Bert hätte sicher nichts dagegen...

Sonntag früh versammelte sich die Marschkolonne auf dem Hof, bespigelt von den Köchinnen der Vorderhäuser. Frau Melanie Hanet hatte sich in ein phantastisches Kleider­bündel aus Voile und Chiffon verwandelt. Als Zug ordnerin ließ Frau Guhlmann alle ihre Würde spielen, zu der sie sich als Gattin sowohl aus repräsentativen Gründen verpflichtet fühlte, wie aus erzieherischen berechtigt hielt. Eine ihrer Nichten, eine kleine Berson mit runden Beinen und neugierigen Augen, tänzelte albern umber; endlich standen Es war schwer, für ihn und für sie, sich nach solchen Beauch Werlas bereit, den neuladierten Kinderwagen, an dem gebenheiten zurechtzufinden. Wie oft ging man schlafen, er zwei Feierabende mühsam und eifrig gepinselt hatte, vor ohne sich ein gutes Wort zu gönnen! Aber doch kam der sich. Die Eroberung des Grunewalds konnte beginnen. Tag, da solche Stimmungen seltener wurden- und jene Nod) war ein Hauch der Sprengwagen in den Straßen,

berartige Mügen getragen hätten. Der Fundort des Autos ist in unmittelbarer Nähe der Endstation der Straßenbahnlinie 176. Möglicherweise haben die Täter nach Verlassen des Wagens die Flucht mit der Straßenbahn fortgesetzt.

Für Mitteilungen aus dem Publikum, die auf die Spur der Räuber führen fönnen, ist von der Kriminalpolizei eine Be­lohnung von 500 Mart ausgesetzt worden. Auch die Stadt Berlin   wird wahrscheinlich noch eine Sonderbelohnung ausschreiben. Um die Herkunft des Autos festzustellen, ist in Magdeburg   angefragt morden, denn in den letzten Tagen ist in Berlin   und seiner Um­gebung ein Wandererwagen nicht als gestohlen gemeldet. Alle Nachrichten, die zur Aufklärung und Festnahme der Täter führen tönnen, werden an das Raubdezernat A 5 im Polizeipräsidium erbeten.

Fünfzehnjährige Berlinerin vermißt.

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Seit Montag, den 13. Oftober, wird die 15jährige Christel Mezdorf aus Berlin   Wilmersdorf  , Nassauische Straße 23, vermißt. Das junge Mädchen wohnte bei den Eltern. Es war mit seiner Mutter während der Ferien zu Besuch in Danzig  . Die Mutter begleitete das junge Mädchen am 13. Of­tober bis Marienburg und setzte sie dort in den Berliner  D- 3ug, der 12.22 Uhr abfährt. Die Mutter fuhr dann nach Danzig   zurüd. Die Eltern vermuten, daß ihre Tochter, trotzdem sie einen Paß bei sich hatte, im polnischen Korridor zurückgehalten wurde. Mitreisende, die über den Verbleib Auskunft geben fönnen, werden um schleunige Mitteilung an die Eltern unter Telephon Cornelius 4978 oder an die Vermißtenzentrale im Polizei­präsidium Berlin gebeten. Das junge Mädchen war mit weiß- schwarz fariertem Mantel, gelber Bastenmüße, schwarzem Rod, rotem Wolljumper und modfarbenen Schuhen und Strümpfen be­fleidet.

| Menschen gab es faum, Autos wenig, die Stadt lag frisch zu ihren Füßen, man fam gut vorwärts und pendelte schon nach einer guten Stunde über eine Chaussee, zeitweilig von den Schmugwolken der Tourenwagen gänzlich eingehüllt. Ein Restaurant an einem teichähnlichen Gebilde aus Morast und Wasser erklärte mittels Rundschrift auf einer Tafel: Hier können Familien Kaffee tochen!

Das war das rechte! Lints schwentt marsch", tomman­dierte Werla, der langsam auf den Geschmack der Sache fam. Ein Röter bellte und ein Kellner empfing sie, Tische wurden gerückt, die Frauen stürzten in den Küchenraum und die Männer bauten Vorräte von solcher Fülle auf, daß eine Polarexpedition Monate mit diesem Proviant vor Hunger geschüßt gewesen wäre.

-W

,, Achtung, Achtung hier Berlin  , Stettin  , Magdeburg  , Königswusterhausen meine Damen und Herren, mir bringen ihnen jezt unser Sonntagsfrühkonzert.

,, Mensch", brüllte Guhlmann, der schweigsame Omnibus­führer und Hausverwalter, den feiner seiner Mieter je reden gehört hatte, das ist vielleicht ein geriebener Halunte, der Wirt! Hat sich hier in die Wand' n ganze Lautsprecheranlage einbauen lassen..

Ueber die frenetische Konstatierung dieses Wunders hin­aus reichte sein Mut nicht. Er ließ die andern über drohen­den Streit, die Hiße und ein Tortenrezept reden. Nichts brachte ihn aus der Ruhe, ein Stüd Kuchen nach dem andern verschwand zwischen seinen staunenswerten Riefern, bis seine Frau ihm den Teller fortnahm.

,, Schad' nischt eine Zigarre ist auch nicht zu ver­achten, wie?" Werla reichte die Tüte hinüber und beide stießen den Rauch in spizen Kringeln in die Luft.

Die Gesellschaft faß   in einer natürlichen Laube, durch deren Blätter das Licht festlich schimmerte. Brummer und Libellen kreisten über dem Tümpel und Bienen um die Köpfe der Frauen. Bert nahm den kleinen auf den Schoß und ließ ihn mit einem Birkenzweig spielen. Dünne Melodien aus dem Lautsprecher übersprudelten das Reden der Frauen, die Nichte ficherte und drängte unter dem Tisch ihr Bein sehr nahe an erlas Sonntagshose. Er war ein netter Kerl, für ihre Begriffe; gegen ihren Onfel wirfte er in feinem hellgrauen Anzug mit dem gestreiften Oberhemd bei­nahe wie ein Weltmann. Werla rückte ein Stückchen weiter, überließ sich der Ruhe des Tages und freute sich, wenn das Kind einmal das Geficht verzog, was nach Meinung der ver­ständigen Frauen als Lachen zu deuten war. ( Fortsetzung folgt.)