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Nr. 497 47. Jahrgang

1. Beilage des Vorwärts

Donnerstag, 23. Offober 1930.

231 Opfer der Todeszeche

Weitere Tote in den tieferen Sohlen.- Verhängnisvolle Dynamitlagerung?

Die Katastrophe von Alsdorf hat nach den letzten| Gestein, mit dem sie ihr Leben lang fämpften, fie find vergiftet von

amtlichen Feststellungen bisher 231 Todes opfer gefordert. In diese Zahl einbegriffen sind die in ben Krankenhäusern Verstorbenen. leber das Schicksal einer ganzen Reihe von Ver­misten, die sich in der untersten Sohle befanden, besteht noch Ungewißheit. Unter Tage befinden sich noch 61 Tote, die in die Zahl der 231 Toten miteingerechnet sind. 96 Verletzte liegen in den Krankenhäusern.

Ursache noch immer ungeflärt.

Alsdorf , 22. Oktober. ( Eigenbericht.)

Der Unfallausschuß der Grubensicherheits­fommission des Oberbergamtes Bonn , der am Mittwoch bis jieben Uhr abends tagte, teilt zu der Alsdorfer Gruben tatastrophe folgendes mit:

,, Der Unfallausschuß hat am 22. Oftober in Anwesenheit von Vertretern des Grubensicherheitsamtes Berlin , des Oberberg­amtes Bonn und der zuständigen Bergrevierbeamten unter Hinzu­ziehung der Sachverständigen der Hauptrettungsstelle Essen und der Versuchsstrecke zu Dortmund - Herne sowie der Chemisch- Technischen Reichsanstalt die Grube Anna II befahren. Im Anschluß an die Befahrung fand eine Zeugenvernehmung und eingehende Beratung statt. Die Ursache des Unglüds ist noch nicht geflärt. Fest steht, daß die Sprengstofflager auf sämtlichen Sohlen der Grube in Ordnung sind. Die zunächst angenommene Explosion eines Sprengstofflagers scheidet somit als Ursache des Unglüds aus. Soweit weiter festgestellt werden konnte, ist auch an dem Unglücks­tage fein Sprengstofftransport in die Grube hinein erfolgt. Bei der Befahrung der Grube find bisher Anzeichen einer Kohlenstaub­explosion unter Tage nicht ermittelt worden. Die Befahrungen und Untersuchungen werden am 23. Oftober fortgesetzt.

Bermißt sind nach den bisherigen Feststellungen noch 41 Mann. Am Mittwochnachmittag find noch drei Mann lebend ge= borgen worden. Die Bergungsarbeiten gehen mit allen zu Gebote stehenden Mitteln weiter."

Die Aufbahrung der Zolen.

Erst am Mittwochnachmittag war es der Berwaltung der Grube ,, Amma" möglich, ein genaues Bild von den furchtbaren Folgen der Katastrophe zu geben: 231 Bergleute und Angestellte haben den Tod gefunden. Unter den Trümmern des Verwaltungsgebäudes und des Förderturmes werden noch einige Leichen vermutet, und von den 96 Schwerverletzten und Schwerertranften ringen mehrere mit dem Tode. Seit vielen Jahren ist im Bergbau eine so große Zahl von Todesopfern nicht zu beflagen gewesen. Man erinnert sich in Alsdorf an die letzte schwere Katastrophe, die 1917 67 Todesopfer forderte. Aber das große Sterben am Dienstag hat die Gemeinde Alsdorf ins Mart getroffen. Zahlreichen Familien ist der Ernährer, vielen Eltern der unterstützende Sohn genommen. Hinab und herauf geht der Förderkorb; er führt heute tote, talte Körper, für die es fein Erwachen gibt. Sie sind zerstört von dem

Walter A. Persich

23]

Vielleicht

morgen..

Mann und Frau mochten nicht in den leeren Wagen hineinblicken. Sie hätten das vertraute Gesicht, die dunklen Augen gesucht, die geballten Babyfäuste, sie hätten ihn viel­leicht für eine Sekunde auf der Wäsche liegen sehen und dann bemerkt, daß er doch nicht da war.

Langsam drehten sich die Räder. Eines mußte geölt werden, es quietschte gräßlich. Schon gingen Menschen an ihnen vorbei, Arbeiter und Angestellte, hinten flingelte die Straßenbahn die Straße erwachte, Leute traten in Ge­schäfte Glocken bimmelten, ein Autobus brummte heran. Ihre Füße gingen vorwärts. Jeder Schritt tat weh.

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An der Straßenkreuzung bogen sie um die Ecke. Neben dem Schild der Haltestelle hielt Annie den Wagen

an und wartete.

,, Es ist spät geworden. Hoffentlich kommst du noch rechtzeitig zur Arbeit, Bert."

Werla sprach nicht. Sie erwartete auch feine Worte. Ihre Herzen waren eng beieinander.

Die Bahn tam, hielt, mechanisch ging der Mann auf das Trittbrett zu und sprang in den kaum haltenden Wagen, der sofort wieder anzog. Als Werla sich auf der Plattform umwandte, sah er, wie Annie immer noch blieb und ihm nachblickte.

Sie fann ja nicht einmal mehr weinen, dachte er und war erschüttert, man müßte ihr doch helfen!

Jetzt wollte er zurüd, wenigstens heute wollte er bei ihr bleiben und nach guten Worten suchen, denn es war ja aus mit dem Kind! Er allein wußte es und Annie hatte an der Qual ihrer Hoffnung, der sie selbst nicht glaubte, zu tragen. Heute einmal die Arbeit liegen laffen, einen Tag fonnte jeder fehlen der Wagen quietschte in einer Kurve, Annie verschwand hinter der Häusermauer. Abspringen!

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Die Steine des Fahrdamms schossen, krause Muster, nah

dem Gas, das sich vom Stein befreite.

In langen Reihen werden die Toten in einer leeren Halle zwischen frischem Tannengrün aufgebahrt.

Sanitäter halten Totenmacht und erweisen das letzte Werk der Nächstenliebe, indem sie verhüllen, was graujame Gewalten an menschlichem Leben zerstörten.

Infolge der abseitigen Verkehrslage des Reviers fönnen mur unter den größten Anstrengungen die Betriebe aufrechterhalten werden. Durch hohe Frachtsähe ging der süddeutsche Markt, durch modernen Ausbau der holländischen Gruben der Auslandsabjayz verloren. Die daniederliegende Aachener Industrie zählt kaum noch als Abnehmer; die Steigerung der Koks- und Gaserzeugung, das als Ferngas nach Köln gelangt, fann den Verlust der Absatzgebiete nicht voll ausgleichen. Neben der selbstverständlichen Pflicht der Versorgung der Hinterbliebenen wird deshalb die Frage der Absatz­förderung im Aachener Revier, die auch die Möglichkeit zur Ber besserung der Arbeitsbedingungen bringt, in der nächsten Zeit nicht nur bergbauliche Kreise, sondern auch Staat und Reich beschäftigen müssen.

Fahrlässigkeit mit Dynamit.

Köln , 22. Oftober.( Eigenbericht.)

Die Kölnische Zeitung " schreibt über die vermutliche Ursache der Explosion in Alsdorf u. a. folgendes: Nach den neuesten Erfahrungen scheint es sich zu bewahrheiten, daß es

feine Explosion von unten war, sondern umgekehrt eine solche von oben nach unten. Wir haben von einer doppelten Waggon­ladung Dynamit berichtet, die am Montag noch eingefahren sein soll. Es scheint sich zu bewahrheiten, daß diefe Menge nicht in den Schacht geschafft worden ist, sondern noch an der Oberfläche lagerte und sich dort entzündet hat. Diese Annahme wird erhärtet durch die unerhörte Wucht der Explosion an der Oberfläche. Fachleute und Rettungsmanschaften sind der Ansicht, daß niemals ein Bergwerfs= unglüd, selbst eine größere Dynamitentzündung in der Tiefe, eine solche Wirkung an der Oberfläche gehabt hätte. Der beste und sicherste Beweis für diese Theorie ist die Tatsache, daß alle Türen unten im Schacht nach innen eingedrückt sind, auch die Pulver­fammern. Die Toten liegen alle mit dem Rüden vom Eingang abgemendet, sie wurden also vom Schacht aus in die Gänge hinein. geschleudert." geschleudert." Im Laufe des Mittwochpormittag tamen die Rettungsmannschaften nach der Kölnischen Zeitung " an eine Stelle, wo sie etwa 25 Leichen fanden. Auf den Eisenwänden der Hunde, zwischen denen die Knappen tot lagen, sah man

Abschiedsgrüße mit Kreide geschrieben.

Daneben hatten die Knappen einzelne Phasen ihres langjamen Erstickungstodes aufgezeichnet. U. a. stand da zu lesen: Wir sterben, aber wir können vorläufig noch atmen. Wie lange noch? Gas im Schacht!" Dann die einzelnen Zeichen des langsamen Todes: um 9.30 Uhr ist die Schicht noch kräftig, dann wird sie von Stunde zu Stunde schwächer. Um 14.30 Uhr erfolgte die letzte Inschrift, zittrig. schwach, dann nichts mehr."

Berichte der Geretteten.

Da erzählt ein Bermann von seinen und seiner Kollegen Irr fahrten durch die verschiedenen Strecken alles war voll Gas und Qualm, scheinbar gab es überhaupt für leinen eine Rettung mehr. Einige taumelten, fielen, blieben liegen, erstickten. Andere besaßen noch Kraft und arbeitsfähige Lunge genug, um zu irgendeinem abgelegenen Stollen zu flettern, den sie durch Schließen der Fördertür vom Eindringen der Gase sichern fonnten. Die. Fortsetzung dieser Rettungsexpedition auf eigene zitternde Fauft führte durch zu Bruch gegangene Stollen, führte an Leichen, an stöhnenden Berlegten vorbei. Und zwischen den Stöhnrufen der Berletzten hörte man auch Siljerufe: Nehmt mich doch mit! Nehmt mich doch mit!"

Nicht minder erschütternd die Erzählungen der Rettungsmann schaften. Da fand man in einem Bruch, in dem eine Schar Toter lag, an einem fleinen Grubenwagen letzte Lebenszeichen ange­schrieben. schrieben. Ungelente, zittrige Finger hatten hier Beitangaben niedergelegt. Statistik des Lebens? Nein, Statistik des Todes. 8.30 Uhr, 10.30 Uhr, 12.30 Uhr, 2.30 Uhr je weiter die Zeit fortschritt, desto kleiner wurde die parallellaufende Ziffer der noch Lebenden;

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Ein anderer Rettungsarbeiter erzählt, wie er von der Sohle 360 ins zehnte Revier stieg und hier nur verbrannte und verstümmelte Menschen vorfand. Aber der Gipfel des Grauens sei im fiebenten Revier erreicht gewesen, denn hier hätten fast nur noch verkohlte Leichen umhergelegen. Wuchtige Gesteins­massen hätten die Menschen hier förmlich erdrückt. Waffer, Blut

an den Augen vorbei, ein Radfahrer läutete Sturm Faust des Schaffners packte seinen Aermel: Nicht Kollege! Willst dir wohl alle Knochen zerschlagen, he? triege nachher die dicke Meldung!"

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14.

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die

doch,

Ich

Tropfen, Tropfen fielen die Minuten. Jede einzelne traf den brennenden Kopf. Die Zeit schlich hörbar im Kreise. Sobald Annie an das Kind dachte und wann einmal fonnte sie es vergessen! hämmerte das Herz. Die Furcht sprang auf von ihrem unsichtbaren Stuhl, tam irgendwoher aus dem Dämmer der Wohnung, packte an Handgelenken, am Hals, überall.

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Einmal, zwischen zwei Arbeiten, wollte Annie Werla nach dem Kinde sehen. Um sie her war es so still. Sie hatte gewaschen, gebügelt, genäht. Der Junge mochte wohl schlafen und dann sah sie nur den überflüssigen Wagen, jah aber auch, verschwommen ein wenig, dort, wo sonst der Küchenschrant stand, das Gemäuer des Krankenhauses. Ihre Hände griffen nach der Wand da war Glas und ein Schlüssel, die Wirklichkeit des Schrantes trat aus dem Sput hervor. Erschöpft, weinend sant die Frau in den Stuhl. Was mochte jetzt, diese Minute, mit dem Kinde geschehen? Litte es Schmerzen, waren die Aerzte und Schwestern freund lich? Nicht einmal den Saal kannte sie, nicht das Bett! Schien dort die Sonne, die das Kind so liebte?

Und wieder am Abend gingen sie zum Kranten­haus. Bert wollte unbedingt mit. Sein Wunsch verriet, daß auch er nichts Gutes erwartete. Auf dem ganzen Wege sprachen sie nichts, jeder grübelte und jeder wußte: du denkst an Ferdinand. Vor dem Tor zögerte sie eine Weile. starrten auf die erleuchteten Fenster, im Geitenflügel sah man eine längere Glasfläche weißblau grellen.

Da schneiden sie an einem herum", sagte Annie müde... vielleicht an dem Jungen, dachten sie beide, mochten sich nicht ansehen und gingen endlich zur Auskunft. Es lag nichts vor... Es lag nie etwas vor.-

So drängte sich der Sonntag durch das Gewühl der Tage.

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und Kohle ein einziger gräßlicher Schlamm. Allein auf Sohlen­stufe 361 haben die Sanitätsmannschaften in der Nacht 78 Lote geborgen. Mit Spizhaden mußten die Leichen herausgehauen, mühsam mußten sie zusammen gesucht werden.

Und oben am Grubeneingang weichen nicht von der Stelle die Frauen und Kinder, die auf ihre bange Frage nach der Rettung des Mannes oder Vaters noch feine Antwort bekommen konnten. 3war weiß man, daß sich die Totenziffer bald auf 300 belaufen wird aber man weiß doch nur in seltenen Fällen die Namen, Die sie umfaßt. Die Grubenverwaltung zögert mit der Herausgabe der Namen. Man fennt die Gründe nicht, die diese Zurückhaltung veranlassen. Bielleicht will man unter allen Umständen Ber wechslungen vermeiden. Aber das eine ist gewiß, daß die Gemeinde Alsdorf , die zu 80 Proz. aus Bergmannsbevölkerung besteht, im Morgengrauen des gestrigen Tages mit einem Schlag zum Totendorf geworden ist.

Hilfe für die Hinterbliebenen.

Zur Linderung der Not, die durch das Aachener Bergwerts­unglüc entstanden ist, haben die Reichsregierung und die preußische Staatsregierung je 150000 Mart zur Verfügung gestellt.

Der Reichspräsident hat als erste Hilfe für die Hinterbliebenen der schweren Bergwerkstatastrophe in Alsdorf aus seinem Dis­positionsfonds den Betrag von 10000 M. zur Verfügung gestellt, der dem Regierungspräsidenten in Aachen überwiesen wurde.

| so viel Zeit und Bert stand am Waschtisch, gequält von der Sorge um den Schlips, der absolut feinen ordentlichen Knoten bekommen wollte. Man wusch sich die Hände, dann famen die Schuhe, dann der Mantel, und es war doch noch eine halbe Stunde zu früh.

,, Ach was", brummte er ungeduldig ,,, wir gehen, Annie. Es ist nicht auszuhalten. Bielleicht läßt man uns etwas früher ein."

Nahe dem Krankenhaus marschierten sie in einer lose gefügten Rolonne, aus allen Richtungen strömten Menschen in die breite Straße, Blumen, Pakete in der Hand, Menschen mit nervösen, mit gleichgültigen, mit hoffnungsvollen und verzweifelten Mienen unter regenfeuchten Hüten, einfache Leute die meisten, unscheinbar und immer ein wenig ver­fortst, und neben ihnen welche in leuchtenden Farben. Ein paar Bürger in der Pilgerfahrt zur Krankheit deplacierten sich selbst.

Dicht standen sie bald, traten von einem Fuß auf den anderen, schimpften, schwazten, quatschten, lachten und waren still, wie es jeder mochte oder mußte.

,, Geht doch nicht...", sagte ein breitschultriger Kerl über Annies Kopf weg ,,, da wird noch Temperatur gemessen, gegeffen, Betten sind zu machen. Hat alles seine Ordnung, geht alles am Schnürchen. Dent doch,' n paar tausend Kranke. Da wird hübsch nach der Reihe operiert, nach der Reihe gesund gemacht oder man trepiert, das geht auch nach der Reihe."

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Die Blumen melkten in den Händen der Wartenden, das Papier wurde feucht und zerdrückt. Wer hier stand, war auf alles böse, auf sich selbst, auf die Beamten, die reglos vor verschlossenem Eingang auf die Masse starrten. Plößlich gab es Luft dann ein doppeltes Drängen und Stoßen- die Riesentüren schoben sich zurück, der Durchgang zum Garten wurde frei. In einem menschenerfüllten Zimmer erfuhr man bei Angabe des Namens und Einlieferungstages, wo die Kranten lagen in einem Anbau sollte der Junge zu finden sein. Sie trippelten nervös umher, jede minute war tostbar, und sie fanden dann endlich den Seitenflügel. Aber auch hier stauten sich in der Eingangshalle Menschen. Werla überfah die Situation und erklärte: ,, Aha, da steht die Tür nur einen Spalt offen. Die Schwester hält ein Kind dahinter hoch, so, fertig, die nächste..."

Unter Sprühregen hämmerten Glocken, als habe man fie in die Wolken gehängt, dumpf und tot, jemand ließ zum Hof hin seinen Lautsprecher dudeln. Wohlgekleidete Leute gingen lachend über den Hof, die Männer rauchten Zigarren. Annie kleidete sich lange an es war ja immer noch zu ihm...?"

,, Weshalb, um Gottes Willen, kann man denn nicht Fortsetzung folgt.)