Beilage
Montag, 27. Oktober 1930
Wilhelm, I. R.
Porträtstudie aus dem Narrenhaus des Kaiserreichs
Hier habe ich das Luder weggejagt!" sagte, auf eine Stelle des Schloßgarten deutend, Wilhelm II. befriedigt zum König von Württemberg, als er sich Bülows entledigt hatte. Der vierte Kanzler genießt seine Radhe falt, indem er in den Denkwürdigkeiten den Kaiser nicht im byzantinischen Lesebuchstil schildert, sondern so, wie er wirklich war. Nirgends hinterläßt das Buch so sehr den Eindruck:
Das wilhelminijche Kaiserreich ein Karrenhaus!
als an den Stellen, wo S. M. naturgetreu abfonterfeit wird, ein mit Macht Ueberhäufter, von dessen Launen ein Siebzigmillionenvolk abhing und der schließlich ganz Europa zum Schicksal wurde, und zugleich ein gemindert zurechnungsfähiger; dem Weltgericht bleibt lediglich die Entscheidung, ob ihm die Wohltat des Paragraphen 51 ganz oder nur zum Teil zur Seite steht.
Die, stets um ihn, ihn genau zu beobachten vermochten, rechneten immer mit einer Geisteskrankheit des Monarchen. Graf Monts berichtete schon 1897, die Aerzte glaubten, daß der Kaiser noch zu furieren sei, daß aber mit jedem Tage die Möglichkeit geringer würde, und der alte bedächtige Reichskanzler Hohenlohe fragte Bülow wiederholt,
ob er Wilhelm II. wirklich für geistig normal halte; er, der greise Fürst, habe schon einmal im Leben das Pech gehabt,
erster Minister eines Souveräns zu sein, der in geistige Umnachtung verfallen sei. Und als auf seiner Orientreise der Hohenzoller in der Erlöserkirche zu Jerusalem jählings zu predigen anhub, in der Galauniform der Gardedukorps, über die er einen sehr malerischen, mit goldenen Fäden durchwirkten, feidenen Umhang geworfen hatte, befürchtete die Kaiserin, wie sich Bülow durch einen Blick überzeugte, ganz offenbar, daß ihr Mann ,,, überwältigt" von der Weihe des Augenblicks und unter dem Eindruck der fürchterlichen Size, ,, nicht mehr ganz seiner Sinne mächtig" sei.
Auch zeigten sich Merkmale des Versoigungswahns, so, wenn er on Bismarc dachte oder wenn er in Ungnade gefallene und entlaffene Minister allen Ernstes als Hochverräter bezeichnete. Von der üblichen Nordlandreise 1900 schrieb Fürst Philipp Eulenburg , ein Intimus Wilhelms, daß der Kaiser sich nicht mehr in der Gemalt habe, wenn ihn die Wut fasse: Gestern sah er nicht einmal, daß Matrosen in der Nähe standen, als er tobte, die jede Silbe hören konnten." Es bleibe michts übrig, als ruhig abzuwarten und Gott zu bitten, daß nicht irgend komplizierte Dinge an Seine Majestät herantreten, denn mehrere Szenen, wie ich sie in Kiel hatte, würden zu irgendeiner nervösen rise führen, deren Form nicht vorauszusehen ist".
Obwohl Bülow gesteht, oft um das ,, seelische Gleichgewicht" des Kaisers besorgt gewesen zu sein, und gelegentlich unverhohlen vom Größenwahn des Monarchen spricht, bestreitet er doch, daß non eigentlicher Geistesfrankheit die Rede sein könne. Dafür erscheint Wilhelm in Bülows Beleuchtung als
Neurastheniter mit außerordentlich labilen Nerven, der in Stimmungen zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt hin- und herfchwankt, geistig empfänglich und beweglich, von rascher Auffassungsgabe, im Grunde gutmütig, aber ein Regent ohne auch nur eine der Eigenschaften, die einen erfolgreichen Regenten ausmachen. Flatterhaft und starrfinnig in einem, dauernd feinem, augenblicklich jedem Einfluß zugänglich, ohne Augenmaß und Rechts gefühl, jeder Logit entbehrend, vorschnell, impulsiv, seine Phantasien für Wirklichkeit nehmend, subjektiv wie ein Heldentenor, fähig, dreimal am Tage die Ansicht über die gleiche Sache zu wechseln das Ganze hieß Wilhelm Imperator Reg. Hatte seine Mutter, die Kaiserin Friedrich , einst dem Feldmarschall von Hahnte gefagt: Wenn Sie jemals annehmen sollten, daß für meinen Sohn andere Motive maßgebend sein könnten als rein persönliche Zwecke und vor allem als persönliche Eigenliebe, so werden Sie fich im Irrtum befinden", so beftätigt Bülow dieses vernichtende Urteil.
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Mit diesem hemmungslosen Ichkult des Kaisers hing alles Bebrige zufammen: seine Sucht,
die Wahrheit so auf den Kopf zu stellen, daß sich sein Kanzler entfeizte, feine verblüffende Oberflächlichkeit, feine ungezügelte Schwazhaftigkeit, die den Gesprächspartner nicht zu Wort tommen ließ, sein Hang, sich mit Gegliger und Geflunker zu behängen, die Steigerung seines Selbstgefühls, wenn er den Feldmarschallstab in die Hand nehmen konnte", sein Drang, immer ganz vorn auf der Bühne zu stehen, seine geschmacklos geschwollenen Renommiſtereien, mit denen er seine innere Aengstlichkeit zu betäuben suchte, und seine Taktlosigkeit, die jedermann vor den Kopf stieß: auf eine Fahrt zu dem ungewöhnlich klein geratenen König Bittor Emanuel von Italien nahm er die längsten Offiziere als Begleiter mit. So fiel er umschichtig allen auf die Nerven, seinem Gefolge wie den deutschen Bundesfürsten; Kaiser Franz Joseph , den die Späße und Kalauer feines Kollegen vulgär dünkten, atmete jedesmal erleichtert auf, sobald der Berliner Besuch aus dem Hause war, und Eduard VII. von England empfand tiefgewurzelte Abneigung gegen seinen faiserlichen Neffen: Er hatte schon den vorwißigen Knaben nicht gemocht, den zu leber hebung und Ruhmredigkeit neigenden Jüngling noch weniger goutiert, und der unruhige, laute, allzu laute Souverän ging ihm erst recht auf die Nerven."
Wenn Miquel fich dahin ausließ, daß der Kaiser, politisch farbenblind" sei, so hatte Wilhelm II , in der Tat feinen Begriff davon, in welchem Jahrhundert er lebte. Sein politisches Ideal mar das restlose
Kabinettssystem des achtzehnten Jahrhunderts; am liebsten hätte er alles Militärische, auch gegen den Kriegs. minister und selbst gegen den Generalstab, durch sein Militärkabinett geregelt und bestimmt, die Flotte mit seinem Marinefabinett gebaut, um dann allein über sie zu verfügen, und durch das Zivilkabinett im Innern regiert". Vorbild für andere Staaten war ihm darum die Türkei mit dem unbedingten, sflavischen Gehorsam ihrer Bewohner gegenüber dem Sultan ; die Zustände in dem verrottetsten aller Länder fand er ,, herrlich"! Alls er in einem Bericht über China die Bemerkung entdeckte: Man gibt Befehle und überläßt es den Untergebenen, wie sie die Ausführung möglich machen", entzückte ar fich: Bravo ! Das ist mein Fall! Bei jeder Gelegen belt griff er han felbfiberrlich ins ben Bang ber Geschäfte ein und
rühmte sich gern, namentlich im Ausland:„ Ich allein bin der Herr und Meister der deutschen Politik, und mein Land muß mir folgen, wohin JCH gehe!"
Stieß er auf Widerstand, so schäumte er. Die Agrarier, die sich gern die Triarier Seiner Majestät" nannten, hatten es wegen ihrer Opposition gegen seine Kanalpläne mit ihm verschüttet; da legte er los:„ Wenn die Hunde es wagen sollten, aus irgendeinem Anlaß fich gegen mich zu wenden in offenkundiger, systematischer, gefährlicher Weise, so fliegen mehrere Köpfe, so wahr ich hier Strich; in den Sozialdemokraten sah er eine Rotte wüster Verfiehe." Aber am heftigsten hatte er die Arbeiterpartei auf dem schwörer und Mordbrenner, die nur auf den Augenblick lauerten, Leitern an das königliche Schloß in Berlin anzulegen, um, ein Messer zwischen den Zähnen und einen Revolver in der Hand, in die Schlafzimmer der Majestäten einzusteigen und sie samt den kaiserlichen Prinzen zu erwürgen". Immer wieder mußte Bülow Ge waltplänen seines Herrn und Gebieters gegen die Sozialdemokratie miderraten. Als es 1899 zu unbedeutenden Streitunruhen in Augs: burg fam, war der Cäsar innerlich befriedigt und entschlossen, zu handeln":„ Ehe nicht," schwadronierte er,
,, die sozialdemokratischen Führer durch Soldaten aus dem Reichstag herausgeholt und füfiliert
sind, ist keine Besserung zu erhoffen. Wir brauchen ein Gesetz, wonach es genügt, Sozialdemokrat zu sein, um nach den Karolinen verbannt zu werden." In dem Wahn befangen, er dürfe jederzeit von sich aus den Belagerungszustand über das ganze Reich verhängen, hoffte er, jawohl, hoffte er auf Plünderung von Geschäften durch Arbeiter, um dann einen sehr starten Aderlaß vorzunehmen"; hinein sputte die Bahnvorstellung, daß er Rache üben müffe für 1848! Aber hinter dieser schnurrbartsträubenden Forsch heit des innerlich Feigen stand nichts, am wenigsten ein fester Wille.
Aehnlich phantastisch, rein gefühlsmäßig, im 3erripiegel seiner wechselnden Launen sah er die auswärtige Politit. Eine Zusammenkunft mit dem Zaren, bei der er den Eindruck ge
Der Abend
Shalausgabe des Vorwäre
mam, fie beide hätten nun endlich und gründlich über die Welt disponiert, machte ihn zum begeisterten Ruffenschwärmer; von einem Besuch in Windsor fehrte er verengländert, sogar 3ivil tragend, zurüd. Im spanisch- amerikanischen Kriege waren seine Sympathien auf der Seite Spaniens , weil die Vereinigten Staaten eine Republik waren. Frankreich ", schwafelte er ein andermal ,,, ist ein sinkendes Bolt mit entschiedener Niedergangstendenz, da s Blut ihres er= mordeten Königs und Adels liegt auf der Nation, die durch Gottlosigkeit zerstört wird." Nach dem Jameson- Einfall in Transvaal verbohrte er sich in die verrückte Idee, daß Deutschland in Afrifa
Schulter an Schulter mit den Buren
gegen die Engländer fämpfen könne, während anderwärts zwischen beiden Staaten Frieden herrschte; derselbe Wilhelm sitzt zur Zeit des füdafrikanischen Krieges eines Morgens auf dem Bettrand des britischen Botschafters in Berlin , bei dem er schon um 8 Uhr früh eingedrungen ist, um ihm einen blutig dilettantischen
Feldzugsplan zur Vernichtung der Buren aufzuschwaßen, den ER ersonnen und entworfen hatte! Denn was immer Wilhelm II , anpadte, sei es innere, sei es auswärtige Politit, er betrieb das Spiel wie Ernst und nahm den Ernst als Spiel. Daß die Umwelt, Kriecher, Weihrauchsaßschwinger, Speichelleder, Lafaienseelen, die den Monarchen bei Stimmung" erhalten mollten und deshalb nie eine Silbe des Widerspruchs wagten, seinen Größenwahn steigern halfen, gibt Bülow zu, aber verschlossen bleibt ihm die Schuld des Systems, der von ihm als ..genial" gefeierten Reichsverfassung Bismards, die das Tollhaustreiben Wilhelms erst möglich machte. Noch weniger erfennt er die riesige eigene Schuld. Er mochte sich als Irrenmärter porfomumen, ohne dessen Aufsicht und Fürsorge der Kranfe noch. größeren Unfug anrichtet, aber wer dem Hohenzoller Bergleiche mit dem großen Kurfürsten und Friedrich dem Großen ins Ohr flüsterte, wer das persönliche Regiment vor der Oeffentlichkeit ableugnete, wer den Kaiser immer wieder vor dem Volke deckte, wer ihn so zu
neuen Purzelbäumen geradezu ermunterte, war allemal Bülom. 3ur italienischen Schwiegermutter des Fürsten sagte schon anfangs der neunziger Jahre die Kaiserin Friedrich tiefbefümmert:
Mein Sohn wird das Berderben Deutschlands sein!" Daß diese düstere Prophezeiung vor Ablauf von zwei Jahrzehnten schauerliche Wahrheit ward, daran trägt Fürst Bülow nicht geringe Schuld. Hermann Wendel
Ein unruhiger Kontinent
Erregte der Sturm, der gerade in diesen Wochen das politische| thoden Einwendungen erheben oder gar ihre Zustimmung verLeben Südamerikas aufwirbelte, in unserem nicht nur geographisch, sondern auch kulturell durch eine halbe Welt von dem Schauplaz jener Ereignisse getrennten Europa wahrer Heberraschung, so kam diese Katastrophe den Wetterkundigen doch kaum unerwartet. Denn diese wußten seit langem, daß unter einer gewaltsam ruhig erhaltenen Oberfläche alle die Elemente ihr Spiel trieben, denen nur ein fleiner Anlaß das Signal zum Durchstoß zu geben brauchte. Die schaffende Bevölkerung hat an diesen Revolutionen feinen Teil, denn wie wir sogleich sehen werden, steht hier nicht Sozialismus gegen Kapitalismus , sondern Personalinteresse gegen Berjonalinteresse.
weigern wollten, war auf einer fleinen Insel, Callao gegen über, eine Freistätte errichtet, für die man sehr leicht lebenslängliche Unterkunft erwerben fonnte und in der sich, durch eine merkwürdige Verfettung des Schicksals, Herr Leguia jest selbst befindet. Die Sozialgefeßgebung auch dieses Landes ist erschreckend rüdständig, und sie mußte die Mißstimmung, die das diktatorische System auch sonst auslöste, nur noch fördern. Diese war bereits anfangs dieses Jahres auf einen Grad gestiegen, auf dem auch die schärfste Disziplin den Ausdruck der öffentlichen Meinung nicht mehr zurückzuhalten vermochte. Mag nun die in dem benachbarten Bolivien vorangegangene Revolution, die dem Präsidenten Siles
Bewegung auch in Peru gegeben haben, jedenfalls hat der Diktator innerhalb weniger Stunden eine jahrzehntelang behauptete Position fampflos aus der Hand geben müssen. Daß die neuen Machthaber trotz hochtönender programmatischer Verkündigungen keinen System-. sondern nur einen Personalwechsel herbeigeführt haben, werden sie der enttäuschten Deffentlichkeit übrigens bald genug beweisen.
Auch aus Chile , welches seit einigen Jahren unter der Militärdiftatur des Generals 3banez lebt, tamen gerade in den letzten Wochen Nachrichten über eine im Süden des Landes ausgebrochene Aufstandsbewegung, und es wäre nicht verwunderlich, wenn auch Chile von der Revolutionswelle ergriffen werden sollte.
In Venezuela , der nördlichsten der südamerikanischen Re- seine Stellung gekostet hat, den greifbaren Anlaß zum Ausbruch der publiken, fühlen wir uns in die dunkelsten Zeiten des Feudalismus zurückversetzt. Werden hier zufolge drakonischer Strafgeseze die fleinen Diebe. vernichtenden Maßnahmen preisgegeben, so werden dagegen die großen in die höchsten Stellungen des Staates erhoben. In furchtbaren Ausmaßen fördern die staatlichen Einrichtungen die Ausnutzung naturgegebenen Wohlstandes zugunsten einzelner Privilegierter. In Gegenden, die mit Reichtum an Del, Kaffee und anderen Naturprodukten gesegnet sind und die einer bedeutend größeren als ihrer jezigen Einwohnerzahl reichliches Auskommen sichern würden, lebt die arbeitende Bevölkerung in einem wirtschaftlichen und kulturellen Tiefstande, der für einen Europäer des 20. Jahrhunderts kaum noch vorstellbar ist. Der Reichtum des Landes liegt in den wenigen Händen der Regierungsmit glieder und ihres Anhanges somie in denen der Aus= länder, die in der Verbundenheit durch kapitalmächtige Trusts das Ausbeuterrecht auf Delfelder und andere Nuzobjekte erwerben. Zum Schuße dieses nuznießerischen Systems hat die Regierung das Land schon vor mehr als einem Jahrzehnt unter eine Ditta tur gestellt, an deren Spize bis vor etwa zwei Jahren offiziell als Präsident der Republik und seit dieser Zeit inoffiziell als Chef des Heeres der General Juan Vicente Gomez steht, der in den Jahren feiner Regierung mehrere hundert Millionen Bolivars zusammengescharrt hat. Dieser Mann, der mit den Wissen schaften des Lesens und Schreibens noch heute auf bedenklichem Kriegsfuße lebt, versteht sich ausgezeichnet auf die Kunst des Rechnens. Es fonnte nicht ausbleiben, daß sich gegen seine diktatorische Regentschaft, die aus dem Kongreß zu Caracas ein Scheinparlament machte und durch Einführung striktester Zensur jede öffentliche Kritik unterband, Angriffe geltend machten, die nur deshalb zu keinem Erfolg führten, weil sie mit Gewalt im Keime erſtickt wurden. Man erinnert sich hierbei des revolutionären Ausflugs, den der deutsche Dampfer alte" unternahm, sowie des lleberfalls venezolanischer Revolutionäre auf Curaçao , der dem Waffenarsenal der holländischen Polizeitruppe gegolten hatte und dessen Folge ein vergeblicher Angriff auf eine venezola nische Küstenstation war. Brachte nun der große Taffiter mit seinem offiziellen Verzicht auf die Präsidentschaft der allgemeinen Stimmung ein Opfer, so laufen die politischen Fäden heute doch nicht weniger als sonst in seiner Hand zusammen. Und so herrscht im Augenblick der Zustand einer gewaltsamen Ruhe, von der man noch nicht weiß, ob und inwieweit sie von der Erregung der Schwefterrepubliken berührt werden wird.
Gelangen wir an der pazifischen Küste weiter füblich nach Callao, dem Haupthafen der Republit Peru , so befinden wir uns in einer Sphäre, die der venezolanischen nicht eben unähnlich ist. Im ehemaligen Palast der spanischen Vizekönige in Lima wohnte bis vor furzem Augufto Leguia, Finanzfachmann und Präsident der Republif. Herr Leguia hatte schon vor langem die Innenpolitik seines Landes mesentlich vereinfacht, indem der Kongreß nur noch die Auf gabe batte, den vom Präsidenten vorgelegten Gesetzentwürfen seine Suftimmung au erteilen. Für Abgeordnete, bie nach veralteten Me
Argentinien , mit den unendlichen Weideflächen seiner fruchtbaren Tiefebenen, die Reichtumsquelle der Farmer und somit das erste in größeren Ausmaßen von europäischen Auswanderern besiedelte Land Südamerikas , hat infolge der hieraus sich ergebenden Rassenvermischung seiner Bewohner gewisse europäische Traditionen übernommen, die sich in seiner politischen Struftur im Sinne größerer Freiheitlichkeit aussprechen. Die Politik der Regierungen konnte sich daher zu den Mitteln einer Diktatur nie vorwagen. Die zeichnerischen und literarischen Karikaturen, die zum Ergößen des Bublikums in den Zeitungen täglich über Irigonen, bisher Präsident der Republik , erschienen, ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen. Als Führer der Personalistas" und damit Befürworter einer Stärkung der Position des Staatspräsidenten, nährte er die Stimmung, die sich immer mehr gegen ihn ausbreitete und deren Ausbruch ihn vor wenigen Wochen endgültig zu Fall brachte. Es ist nicht anzunehmen, daß ein Mann, der, wie er, auf sein Gehalt verzichtete, in einem bescheidenen Privathause wohnte und aussah wie ein alter Oberlehrer, dem die Pension gekürzt war, aus seiner Stellung persönliche Bereicherung erfahren hat. sich dagegen nach dem erfolgten Umsturz erwiesen hat, ist die Tatsache, daß er den Bereicherungsgelüften seiner Mitarbeiter allerdings nicht gesteuert hat, und der Pensionsfonds der Republik ist mit einigen hundert Millionen argentinischer Besos überzogen. Auch Brasilien befindet sich im Zustande vollster Gärung. Ehr- und geldfüchtigen Politikern, denen das Vaterland zwar dauernd Gegenstand patriotischer Ergüsse, niemals aber Ziel selbstlofer Arbeit ist, gilt die vernichtende Wirtschaftslage, in die das Land durch die Kaffeekrisis geraten ist, nicht als Hindernis für die ge waltsame Durchsetzung persönlicher Infereisen. Die Ideenlosigkeit des Kampfes, der mit den Mitteln, aber nicht mit dem Willen der großen Massen geführt wird und zu dem gerade in diesen Stunden die Kanonen aufgefahren find, kennzeichnet sich durch die rein machtpolitischen Beweggründe, aus denen die Partelen nicht den geringsten Hehl machen Einen Monat, bevor der neue Präsident sein Amt antreten soll, tritt sein früherer Gegenkandidat aufs neue mit Ansprüchen hervor, in denen der Süden des Landes ihn gegen den Staat Sao Paulo , dem sein Gegner angehört, unterstützt. Noch läßt sich nicht absehen, wie und wann dieser Kampi enden wird.
Siegmund J. Müller.