Nr. 101.
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Vorwärts
13. Jahrg.
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Redaktion: SW. 19, Beuth- Straße 2.
Bum Prozeh
gegen Hinke und Genossen.
Donnerstag, den 30. April 1896. Expedition: SW. 19, Beuth- Straße 3:
das Recht zu suchen und zu finden hatten, die Organisation| Reichstages sind. Wäre man deshalb berechtigt, der sozialdemokratischen Partei bis zum letzten Augenblick eine solche Zusammenkunft als eine Versammlung der Verhandlungen ein Buch mit sieben Siegeln ge- von Reichstagsmitgliedern zu behandeln? In beiden blieben ist. Fällen rührt die Personalunion davon her, daß eine Daß dieser Prozeß sich Hinge und Genossen nennt, ist Der Kern der zu entscheidenden Rechtsfrage war der, politische Partei, die gleichzeitig mehrere Organisationen einer jener merkwürdigen Schicksalsfügungen zu danken, ob die fragliche Zusammenkunft als eine zwanglose mit Kräften zu versorgen hat, faft immer nur auf einen die seit längerer Zeit die Aufmerksamkeit des liebevollen Versammlung der Gehilfen des sozialdemokratischen kleinen Kreis von Personen angewiesen ist, die gleichzeitig Beobachters unserer Rechtspflege fesseln. Ursprünglich hieß Vertrauensmanns im zweiten Berliner Reichstagswahlkreis auf verschiedenen Gebieten der Partei ihre Thätigkeit widmen er nämlich Antrick und Genossen. Da unter den oder, wie die Anklagebehörde behauptet hatte, als eine müssen.
56 Angeklagten nach alphabetischer Reihenfolge der illegale Sigung des vorläufig geschlossenen sozial- Wie muß es wirken, daß Staatsanwaltschaft und Genosse in der Front marschirte, hätte man glauben demokratischen Wahlvereins im zweiten Berliner Reichstags- Gerichtshof sich in diese Verhältnisse durchaus nicht hineinsollen, daß er seiner Pathenstelle bei diesem Prozeß wahlkreise anzusehen sei. Stundenlang gaben sich die denken konnten.
in
im natürlichen Verlauf der Dinge nicht würde ent- beiden Vertheidiger und einige der Angeklagten die red- Auch sonst haben die gestrigen Verhandlungen vor dem hoben werden. Denn haben wir nicht aus dem Munde lichste Mühe, dem Gerichtshof begreiflich zu machen, daß in Berliner Schöffengerichte bei unseren Parteigenossen das des Oberstaatsanwalts Herrn Drescher versichern hören, ganz Deutschland fast in allen Wahlkreisen neben einander Ansehen der Justiz kaum erhöht. Eine ganze Anzahl von daß die Umtaufung des Prozesses gegen Pfund und zweierlei sozialdemokratische Organisationen bestehen und Theilnehmern haben beispielsweise aus der Prozeßführung Genossen in einen Prozeß Dierl und Genossen, wodurch bis zur Auflösung der Wahlvereine auch in Berlin be- seitens des Vorsitzenden den Eindruck gewonnen, als hätte besagter Prozeß vor die Brausewetter- Kammer gerieth, nur standen haben, nämlich das Vertrauensmänner- System dessen Urtheil über die Schuldfrage schon bei Beginn der Berder Ehrfurcht der Staatsanwaltschaft vor dem ge- zur Veranstaltung öffentlicher Parteiversammlungen handlungen festgestanden. Und während der Verhandlungen heiligten Brauche der alphabetischen Reihenfolge bei und der Sammlung vont Geldern, und in den verstärkte sich die Befürchtung, daß nicht blos der Staatsder Auswahl eines Prozeßpathens zu danken sei? einzelnen Wahlkreisen oder Orten besondere Vereine, anwalt, sondern auch der Vorsitzende nicht genügend tief in Welche überwältigenden Gründe müssen in diesem denen in erster Reihe die Pflege des Zusammenhaltes unter das Verständniß dafür eingedrungen sei, welch' scharfe Falle die Staatsanwaltschaft zur Abweichung von jenem den Mitgliedern und die politische Heranbildung der jüngeren Trennung in der sozialdemokratischen Partei- Organisation geheiligten Brauche genöthigt haben! Wie ist das merk Genossen, bei den Wahlen unter Umständen aber auch zwischen Wahlvereinen und Vertrauensmann bestehe und mürdige Naturspiel zu erklären, daß die anfänglichen Au- eine direkte politische Bethätigung obliegt. Nun war, daß es allen Thatsachen widerspreche, wenn immer wieder trick und Genossen in Hinge und Genossen umgetauft nachdem die bestehenden Organisationen in Berlin die Annahme auftauchte, es seien Gelder des Vertrauens wurden? Wir sind um so weniger in der Lage, eine durch den Köller- Koup aufgelöst waren, an stelle mannes in die Kasse des Wahlvereins geflossen oder es irgend wie plausible Erklärung dafür anzugeben, da der der Wahlvereine kein Wahlvereine fein neuer Verein getreten. An seien Angelegenheiten im Wahlverein besprochen und bePathe Hinze weder als Zusammenberufer, noch stelle des„ aufgelösten" Vertrauensmannes hatten die schlossen worden, die immer und ausnahmslos als Leiter, noch als Redner in der gesprengten Genossen des Wahlkreises sich indeß in öffentlicher Veröffentlichen Volts beziehungsweise Parteiversammlungen und dann inkriminirten Zusammenkunft irgendwie hervor sammlung einen neuen erwählt, der seine nach unserer Auf- verhandelt wurden. getreten ist. Wie also löst sich dieses Räthsel? Vielleicht fassung durchaus legale Thätigkeit mit Hilfe einiger von So erklärt es sich auch, daß die Angeklagten wegen hat Herr Oberstaatsanwalt Drescher die Güte, das tiefe ihm zu bestimmten Arbeiten herangezogener Genossen fort Fortsetzung der Thätigkeit des geschlossenen Wahlvereins Gesetz zu enthüllen, das, stärker als das Gesetz der alphabetischen gesetzt hat. Trotzdem nun Staatsanwalt und Gerichtshof verurtheilt worden sind, während es sich thatsächlich um Reihenfolge, ihn in diesem Falle zwang, den Namen Antrick zugaben, daß die fragliche Versammlung von diesem Ver- keine Fortsetzung gehandelt hat, und von all den Punkten, durch den Namen Hinge zu ersehen, gerade durch den Namen trauensmann, demi Genossen Kizing, einberufen worden war, die in jener Zusammenkunft der Genossen des zweiten WahlHinge unter noch 55 anderen, die ihm zu Gebote standen. wurde sie doch von demStaatsanwalt und schließlich auch von dem freises besprochen wurden, auch nicht ein einziger jemals im Also über die Gründe zur Umtaufung des Prozesses Gerichtshof als eine Sitzung des aufgelösten Wahlvereins Wahlverein behandelt worden ist oder bei Weiterbestehen wissen wir nichts; nur die Wirkung kennen wir. behandelt, unter anderem auch deshalb, weil bis auf einen desselben behandelt würde. Die Wirkung der Umtaufung war die, den Prozeß vor die übrigen Theilnehmer sämmtlich Mitglieder des auf- Befremdend für jeden, der die Entwickelung des diejenige Abtheilung des Schöffengerichts zu bringen, der gelösten Wahlvereins gewesen sind. Wie wenig dies deutschen Richterstandes in den letzten zwanzig Jahren der Amtsgerichtsrath Wien to wsti vorsitzt, der näm- ein Beweis dafür ist, daß die Zusammenkunft als eine nicht miterlebt und mitangesehen hat, war auch die forsche, liche Herr, der vor kurzem im Prozeß gegen Zetsche und Sigung des aufgelöften Vereins zu betrachten wäre, das schneidige" Art der Leitung der Verhandlungen. Genossen ein solch start entwickeltes Feingefühl für sozial- hätten sich Staatsanwalt und Gerichtshof füglich an Man war dies früher anders gewöhnt. Ein Ans demokratische Bösartigkeit bewiesen hat. einem Vergleich klar machen können. Die Mitglieder des geklagter- und es handelte sich um Arbeiter, die keine preußischen Abgeordnetenhauses sind zum großen Theil akademische Bildung, keine zwanzigjährige Sprachdressur geidentisch mit denen des Reichstages. Es wäre sehr leicht nossen haben gebraucht z. B. den Ausdruck:" Ich konfür den Präsidenten des Abgeordnetenhauses, zu irgend stative" sofort wird er vom Vorsitzenden unterbrochen: einem Zweck eine Zusammenkunft einer größeren Anzahl" Sie haben gar nichts zu konstatiren, höchstens leitender Persönlichkeiten der verschiedenen Parteien zu etwas anzuführen". Wir zweifeln sehr, ob der Einem jeden Sozialdemokraten, der ihr beiwohnte sammenzuberusen, bei denen es sich herausstellen würde, Angeklagte den Gedankengang des Vorsitzenden sofort mußte es flar werden, daß denjenigen Persönlichkeiten, die daß sie gleichzeitig sammt und sonders Mitglieder des verstanden hätte, wenn nicht der Ton die Musik
Was sich da nun in dem kleinen Schwurgerichts- Saal des Landgerichte Berlin I abgespielt hat, ist nach mehr als einer Hinsicht charakteristisch für unsere Rechtspflege, wenn sie sich mit politischen Angelegenheiten zu befassen hat.
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Tene.
man sonst eine Taglöhnerfrau genommen. Am Samstag ( Nachdruck verboten.) Nachmittag lief sie nach Katzengrün, um das Sonntagfleisch Roman von Nicolaus. Krauß. zu holen; bald kannte sie auch alle Nachbarlehrer. Nur nach Maria- Kulm ließ sie die Tante nie allein gehen. Zum Lene war die eifrigste, wenn es galt, die Kosten für Hoftienholen mußte immer der Kaspar mit. Die runde die Schulkinder- Fastnacht aufzutreiben. Mit einem zwei- Holzschachtel, in welche die gekauften Oblaten kommen räderigen Karren zogen Mädchen und Buben von Dorf zu sollten und das Geld, erhielt aber Lene, der Kaspar war Dorf, in jedem Hof sprachen sie vor, sagten ihr Sprüchlein sozusagen nur ihr Gardebub. Der Frater, welcher den auf und erhielten Getreide, Schmalz und Eier. Alles Kindern in dem rußigen Loch, das man die Hostienbäckerei nahm die Lehrerin in Empfang, und sie buck dafür nannte, die Oblaten herausgab, war eine mitleidige Seele, Faschingstrapfen, ganze Waschkörbe voll. Am Faschings- und er schenkte ihnen jedesmal einige von den mißrathenen dienstag wurde die Schulstube ausgeräumt, der Lehrer oder zu braun gerathenen Fladen, aus denen man keine saß oben auf seinem Podium und spielte die Geige, Hoftien stechen konnte. Das aus reinem Wasser und Weizendie Kinder tanzten, aßen in den Pausen Knackwürste, mehl bestehende Gebäck schmeckte Lene nicht übel, besser aber Krapfen und tranken Kaffee, vorn bei der Thür saßen noch dem Kaspar. Kaum war man wieder aus dem Flecken und standen die Eltern und freuten sich über die Freude heraus, fing der Bub schon zu seufzen an: ihrer Sprößlinge.
,, Ach, Lene, ich bin so müd! Geh, komm', setzen wir uns ein bis'l in den Straßengraben!"
Beim Eiertippen" zu Ostern hatte Lene bald alle Vortheile weg. Sie nahm stets die kleinsten Eier, weil Lene folgte seinem Wunsche, und beide Kinder schauten sich diese als die festesten erwiesen. Stand sie einem schlauen hinab auf die sonnüberflossenen Fluren des Egerlands, über Gegner gegenüber, und wollte der ihr trotz aller Kniffe die vielen Dörfer, die sich balo lang gestreckt an einer und allen Zuredens nicht die breite oder lange Seite seines Straße dahinzogen, bald im Klumpen sich um die ZwiebelEies bieten, dann schob sie während des Zuschlagens im tuppel eines Kirchthurms ballten. Und bis zu den blauen letzten Augenblick den Daumennagel vor; das that zwar Kämmen des Erz- und Fichtelgebirges schweifte ihr Blick. weh, aber das Ei des Mitspielers wurde doch eingedrückt Aber Kaspar dachte an ganz was anderes. Ganz plötzlich und gehörte nach der Spielregel ihr. Wenn in der fragte er: Charwoche die Glocken verstummt waren, durfte Lene allein" Du, Lene, wie viel hat Dir der Pater heut' Hostien von allen Mädchen mit den Buben die alte, große Thurm- gegeben?" ratsche drehen, in welcher es rumpelte und pumpelte wie" Hundert und zwanzig.". in einer alten Kapellen. Und wenn einmal einer der Buben gegen ihre Theilnahme protestirte, war sie gewiß früher als diese in der Kirche, zog eine schwere Lade auf die Fallthür, durch die man zum Thurm emporstieg, setzte sich darauf und gab den Durchgang nicht eher frei, bis man sie wieder mitratschen ließ. Lene machte freiwillig den Pfingstschwanz" und sprang mit aufgenommenem Rock Er hielt ihr mit lauernden Augen die Hand hin. über das Johannisfeuer wie ein Junge. Zornig griff Lehne nach der Holzschachtel, schüttete die Oblaten in ihre Schürze und begann zu zählen.
Im Sommer fielen ihr all' die Botengänge zu, für die
Slette mal waren's nur hundert... Hm!... Weißt, Lene, das glaub' i net." Was?
" Daß's so viel sind.. Du mußt Dich verzählt haben... Kein Mädel kann ordentlich zählen. Was wetten wir, daß i recht hab'?"
-
-
Halt aus!" sagte der Kaspar und rutschte ganz nahe heran, ich will auch mitzählen." Achtzig!" zählte Lenc.
" Falsch ist's," schrie Kaspar. Da liegen zwei untereinander. Hab' ichs nicht g'sagt, daß D' net zählen fannst?"
Seine Hand fuhr in die Schürze, es gab ein kleines Prasseln, und eine Oblate lag in Stücken. " Jessas!" schrie die Lene entsetzt.
,, Das hab' ich net g'wollt," log der Bub... ,, Bleib sizen, Lene, sonst geh'n noch mehr drauf Was fang'n wir jetzt an mit der Zerbrochenen?... Wenn sie der Vater sieht, gieb's was außa... Weißt was, Lene? Thuen wir sie essen?"
Und schon hatte er den einen Theil in den Mund ge schoben. Auch die Lene aß, aber sie nahm sich vor, die Sünd ' ganz gewiß beim nächsten mal zu beichten. Und wieder ging man ein Stück.
,, Lene, ich bin so müd!"
Hau? Hätt'st epper wieder Appetit?" ,, Lene, wahrhaftig, ich kann nicht weiter
Das Mädchen gab keine Antwort und schritt räftig
fürbaß.
D'
,, Lene, wenust D' mich im Stich läßt, sag' ich's, daß eine Hoftie' gessen hast."
Mit einem Ruck fuhr sie herum: ,, Lump, dreckiger!" Aber Kaspar ließ sich nicht einschüchtern.
' s ist eine ungerade Zahl, und da sieht der Vater gleich, daß eine fehlt... Essen wir noch eine!"
Lene überlegte. Das war richtig. Sie hielt ihrem Begleiter die offene Schachtel hin:" Da!"
Kaspar ließ sich nicht lange bitten. Diesmal aß er die Oblate ganz allein.
"
Wenn Du eine ißt, kann ich auch eine essen", sagte Lene ganz in Zorn und Wuth.
Jetzt ist's wieder ungerade!" lachte Raspar. ( Fortsetzung folgt.)