Nr. 527 47. Jahrgang
Armin
4. Beilage des Vorwärts
Tegner: Die Straße im Himmel
Mitten aus der mesopotamischen Ebene tauchen die blauen Schatten eines Gebirges auf. Einsam, unberührt, ragt es in den Himmel. Langgestreckte Hügel ziehen sich zu beiden Seiten des Weges wie weite Waldlämme hin. Aber dieses ganze Gebirge ift fünstliches Menschenwerk. Es sind die Schutthügel des zerfallenen Babylon , die unter dem Glanz der aufgehenden Sonne eine unbestimmbare Größe annehmen.
Ich schreite über die höchste Straße der versunkenen Stadt. Man erkennt noch die schweren viereckigen Platten von weißem Kalkstein, mit denen der Weg gepflastert war. Es ist die breite Straße der Prozessionen, die einft zu dem Tempel Marduks führte. Hoch über den Mauern der ausgegrabenen Gebäude läuft sie auf dem Kamme dieses toten Gebirges mitten im Himmel dahin, und man wundert sich, wie man eine Straße bauen konnte, die sich nicht neben, sondern über den Häusern erstreckt.
Die Könige Babylons waren von ständiger Baulust erfüllt. Da ihnen die Paläste ihrer Bäter nicht mehr gefielen, schütteten sie diese zu und errichteten auf den so gewonnenen Hochflächen andere darüber. Da diese Erneuerung mehrmals hintereinander geschah, stiegen ihre Paläste immer steiler in den Himmel. Besonders Nebukadnezar hat während seiner dreundvierzigjährigen Regierungszeit nie aufgehört, seine mächtige Burg zu erweitern:
An der Ziegelsteinmauer gegen Norden trieb mich das Herz, einen Palast zum Schuhe Babylons zu bauen", sagt er selbst in einer alten Ziegelinschrift darüber. Ich legte mein Fundament an die Brust der Unterwelt.... ich erhöhte seine Spize und verband sie mit dem Palast mit Erdpech und Ziegelsteinen und machte ihn wie ein Waldgebirge hoch."
Dieser Aufschüttung verdanken wir die unzerstörbare Erhaltung aller Gebäude, die sich unterhalb dieser Straße befanden und die man zu Beginn dieses Jahrhunderts sorgfältig aus ihrem tausendjährigen Grabe befreit hat. Es war eine der großartigsten Berkehrsstraßen der Welt. Auf Dämmen und Brücken erstreckte sie sich über einen Arm des Euphrat hinweg bis zum Tempel Esagila. Sie war mit quadratischen Kalksteinplatten von einem Meter Seitenlänge gepflastert. Die Steine zeigen feine Spuren von Wagenrädern, aber sie sind glatt, mie blant geschliffen von vielen
weichen Sandalen und nackten Fußsohlen; es sind die Steine, auf
denen Daniel und Darius wandelten und auf die der nächtliche
Schein der Bechfackein fiel, die man neben dem Wagen Alexanders des Großen bei seinem Einzug hertrug.
Auf den Trümmern des alten Babylon . Blötzlich zögert mein Fuß. Das Ischtartor , Zwei mächtige Mauerblöcke erheben sich aus der Mitte der Schuttmassen bis zu einer Höhe von zwölf Metern wie vieredige Türme. Es ist ein Doppeltor mit zwei hintereinanderliegenden Torgebäuden. Ohne jeden Schnörkel und Vorsprung erinnern sie in ihrer würfelartigen Form, ihren glatten Wänden an die monumentale Einfachheit der Betonbauten der Neuzeit.
Den einzigen Schmuck dieser Wände bilden die zahlreichen Reliefdarstellungen von Stieren und Drachen. Ihre wütend geöffneten Rachen sind dem Eintretenden zugewendet. Sie stehen in Reihen übereinander. Jedes Tier hat eine Länge von zwei Metern, und ihre Gestalten sind prachtvoll erhaiten; denn bei der tiefen Verehrung, die die Babylonier diesen Bildern entgegenbrachten, haben sie vor der Zuschüttung die merkwürdige Vorsicht beobachtet, alle Tiergestalten vorher mit Gips zu überschmieren, so daß sie fast unverlegt erhalten geblieben sind. Zwischen ihnen bewegen sich die unheimlich schleichenden Züge des Sirrusch, der gehenden Schlange der Babylonier. Wohin ich mich wende, überall erblicke ich an den Mauern die Gestalten dieser Stiere und Drachen. Es sind mehr als hundert und ihre Zahl muß, als die Mauern unzerstört waren, noch viel größer gewesen sein. Stumm, lautlos auf ihren Katzenpfoten und Husen schleicht das Gewimmel der Bestien unter der glühenden Sonne an den gelben Steinen auf mich zu.
Folgt man der Straße weifer, so liegt dicht hinter dem Ausgang des Ischtartores die Südburg. Hier befand sich der Thron saal, in dem Belsazar sich im Uebermut des festlichen Gelages die goldenen Tempelgefäße tragen ließ, die Nebukadnezar aus Jerufalem geraubt hatte. Die Gäste sollten daraus trinken. Aber während sie tranten, erschien, wie von Menschenhand geschrieben, eine leuch tende Schrift an der getünchten Wand. Weder Priester noch Sterndeuter, nur Daniel vermochte sie zu enträtseln. Mene mene tefel upharfin".( Gott hat dein Königreich gezählt. Man hat dich in einer Waage gewogen und zu leicht befunden.) In der Nacht wurde Belsazar getötet.
"
Ist es wirklich eine Sage? Einige Gelehrte behaupten, in den drei ersten unglückverheißenden Worten Münzwerte zu erblicken, die ein beim Mahl anwesender Perser nichtsahnend mit Kohle an die Wand geschrieben hatte, um seine Forderungen auszurechnen. In den Augen des betrunkenen, von bösen Ahnungen gequälten Königs verwandelten sie sich in seine furchtbare Prophezeiung. Gewogen und zu leicht befunden!" So spielen Wahrheit und Legende ineinander.
"
Am Fuße der Trümmerhügel, hat an das Ufer des Euphrat gedrängt, liegt das kleine arabische Dorf Kmairisch. An seinem Ende erhebt sich das frühere
Wohnhaus der deutschen Ausgraber, die hier im Auftrage der deutschen Orientgesellschaft vor dem Kriege die Reste der alten Stadt bloßlegten. Die Treppe zu den Wohnräumen ist zerfallen, das Geländer eingebrochen. Totenstille, Staub und Verweſung auch hier wie in den Ruinen Babylons .
Fast zwanzig Jahre hat Professor Koldewen, der deutsche Enthüller des wiedererstandenen Babylon , hier fern von der Heimat mit einem kleinen Stab von Mitarbeitern in der Einsamkeit zugebracht. Sein Zimmer glich einst einer Mönchsklause. Geheimnis volles Dunkel erfüllte den Raum, dessen Fenster mit weißem und schwarzem Papier verhängt waren. Staub mischte sich mit dem Tabafsqualm der langen Pfeifen. Papiere, Messer und Dolche, Karten und Pläne lagen umher, ganze Risten voll fleiner, mit Reilschrift bedeckter Tonzylinder, Werke der Anatomie und Astronomie; denn da er alle Wissenschaften der Babylonier studierte, mußte er in den Erfahrungen der ganzen Welt zu Hause sein. Mitten in ell dem stand das verstaubte Bett, in dem der Gelehrte oft monatelang an Fieber ohne jede ärztliche Hilfe völlig verlassen on der Ein
famfeit gelegen hat.
Niemand wohnt heute mehr in den Räumen. Selbst die Netze der Spinnen, die alle Papiere und Bücher der Stube überzogen, find vermeht. Die Fliegen find mager geworden und fehrten auf die Dunghaufen in den Dorfstraßen von Kwairisch zurück. Als die Engländer 1917 Bagdad bejezten, mußte Koldewey fluchtartig das Haus verlassen. Es ist nie wieder an die Stätte feiner Mühen
und Hoffnungen zurückgekehrt. 1923 starb er in Berlin , einsam, wie er gelebt hatte, schon fast vergessen von einer Welt, die von wichtigeren Sorgen erfüllt war, als die Trümmer einer seit Jahrtausenden entschlafenen Stadt seherhaft zu mächtigen Traumbildern in das Leben zurückrufen.
Ich gehe durch das kleine ärmliche Dorf. Machmud, einst der treue Diener der Ausgraber, begleitet mich. Er zeigt mir seine Kinder, die inzwischen heranwuchsen. Sein weißes Gewand, seine gepflegte Art unterscheiden sich von denen der anderen Araber; aber er hat sein Deutsch fast vergessen. Knochen, vertrocknete Palmenblätter auf der Straße, die fliegenbedeckten Gesichter zerlumpter Kinder. Und aus den Mauern der niedrigen Hütten, die die arabischen Dorfbewohner aus den Trümmern des alten Babylon erbauten, schreien noch immer die Ziegelstempel Nebukadnezars die uralte Sehnsucht der Menschheit in die sonnendurchzitterte Dorfstraße:
ich.
M
Nebukadnezar, König von Babylon , Sohn Nabupolassars, bin Marduk , erhabener Herr... ewiges Leben gib zum Geschenk!" Am Ende des Dorfes läuft der Weg in die Sümpfe des Euphrat Frauen, Tonkrüge auf dem Kopf, schreiten langsam zum Flusse hinab. Die schwarzen Büffel heben schnaubend die breiten Nüstern aus dem gärenden Schlamm.
aus.
,, Leben! Schenke ewiges Leben!" rufen die tausendjährigen Steine, rufen die Menschen, die Tiere, die Gräfer in die blühende Landschaft.
Ein Liebesbrief vor 5000 Jahren.
Der Abend legt seine Schatten über die nahe Steppe. Ich zeffionsstraße entlang. schreite noch einmal auf der Höhe die Steinplatten der alten Pro
Im Spiel der Abenddämmerung nehmen die Trümmerhaufen| wieder die Linien ferner Hochgebirge voll erhabener Einsamkeit an. Die Schatten der Palmen unten werden länger. Vor zwei Jahrzehnten standen noch keine Bäume hier; aber die Araber, die zu
Wilhelm Plog: Vor dem Karren
Landstraße einher. Zwei Knaben zogen ihn. Man sah sie taum; Ein hoch mit Holz beladener Karren schwankte auf der holprigen denn sie verschwanden fast unter dem Karren. Ein dünner Regen rieselte vom trüben Novemberhimmel herab. Es ging zur Nacht.
Sonntag, 9. November 1930
vielen Hunderten Erde und Steine für die Ausgraber aus den zerfallenen Häusern hoben, hielten hier ihre Mahlzeit ab. Sie nährten sich wie alle Arbeiter und Bauern Mesopotamiens fast ausschließlich von Datteln, dem Brot des armen Mannes. Die auss gespienen Kerne fielen in den feuchten Ufergrund, teimten und umgeben heute in einem dichten Palmenhain das Dorf.
Meine Füße stoßen an die Steinplatten. Ich sehe im Zwielicht wieder die Inschriften der alten Stempel mit dem Zeichen der Keilschrift vor mir, die mit ihren Strichen und ver= dickten Enden wie der Abdrud von Vogelkrallen im Ton zurückblieben. Meine Sohlen fnirschen auf zertretenen Scherben und den Resten zerbrochener Tonzylinder, in die einst Urkunden, Verträge und Briefe eingedrückt wurden. Wieviel Wissen aus dem Leben dieser Menschen verdanten wir nicht der Tatsache, daß die Babylonier fein Papier tannten. Ganze Archive von Handelsverträgen hat man in großen Tonfrügen verpackt und mit Asphalt verschlossen vorgefunden. Garantiescheine auf die Haltbarkeit mit Smaragden besetzter Ringe, Mietverträge, Ehescheidungsurkunden. Ein kleines zierliches Täfelchen mit einem Liebesbrief kommt mir mieder in den Sinn:
,, An meine Bibi Samas und Marduk mögen Dich um meinetwillen ewig leben lassen. Wie geht es Dir? Schreibe mir doch. Ich bin nach Babylon gegangen, habe Dich aber nicht gefunden. Ich war sehr enttäuscht. Benachrichtige mich, wann Du kommst und ich mich freue. Im Monat Marscheswan sollst Du kommen. Mögest Du um meinetwillen ewig leben!"
Immer tiefer sinkt die Dämmerung. Die Sterne treten am Himmel hervor, groß, strahlend über der weiten, in Nacht versunkenen Ebene. Bis dicht an den Rand der Ebene friechen sie hinab. Was hat sich eigentlich seit jenen Tagen geändert? frage ich mich im Weitergehen. Auch damals schon trug man Goldplomben in den Zähnen, die Spazierstöcke waren mit Aepfeln, Lilien und Adlern als Griffen geschmückt, kunstvoller als die unseren. Die Technik ist ein wenig fortgeschritten; aber die Sorgen und Wünsche unseres Herzens sind die gleichen geblieben..
Plötzlich bricht die Straße unter meinen Füßen ab, als führte fie in den nächtlichen Himmel, mitten in die Sterne hinein.
Als aber die Brüder oben auf dem Berge angekommen waren und nun die Straße leicht bergab ging, da bissen beide in ihr Brot, das schon ganz naß geregnet war. Auch ihre Tränen fielen mun darauf. Sie meinten beide; doch keiner wußte es vom andern. Gerdland:
Lichter blinkien auf in weiten Abſtänden. Die Knaben ſahen nichts, Ein, Frackherr" wartet..
sie stemmten sich vornübergebeugt in ihre Taue, denn die Straße ging bergauf. Sie sprachen auch nicht miteinander. Sie feuchten nur. Der Regen lief über ihre erhitzten Gesichter.
Immer langsamer ging es vorwärts. Der Karren fnarrie, drehte sich bockig zur Seite und blieb dann endlich ganz stehen, als wollte er nicht mehr.
Da setzten sich die Knaben entmutigt auf die Deichfel. Jetzt hörten sie den Regen rinnen und fühlten ihn durch ihre nassen Kleider dringen. Frösteln beschlich fie. Ich hab' noch Brot", sagte Stephan. Er zog ein Stück knisternden Papiers aus seiner Tasche, wickelte langsam sein Brot heraus und fah es an. Dann brach er einen fleinen Kanten ab. Da", sagte er... haft auch ein Stück". Franz nahm es und steckte es in den Mund. So hungrig war er, daß das Brot im Augenblick verschlungen war. Dann saß er da und sah zu, wie sein Bruder aß.
"
Wart doch; ich bin noch nicht so weit", sagte Stephan. ,, Dann iß ein bißchen zu!"
,, Was geht's mich an, wenn du fein Brot mehr hast..." ,, Schmaz' nicht so, du!" schrie Franz ihn an.
Da lachte Stephan: Du Knirps, was fällt dir denn ein! Was willst du eigentlich?"
"
Weiterfahren will ich!"
,, Wenn du allein ziehen willst...
-
Stephan erhob sich von der Deichsel. Dann meinetwegen. Ich hab' noch Zeit." Franz hatte sich in den Strick gestemmt. Er drehte die Deichsel und zog aus Leibeskräften. Von einer Seite taumelte er nach der anderen; jedoch der Karren ging nicht vorwärts. Stephan jah ihm lachend zu. Weiß wohl, was du im Kopfe hast", sagte er. Bist neidisch auf mein Brot."
11
Der Karren begann sich langsam zu bewegen; er fnarrte, holperte und rollte langsam vorwärts, ohne daß Stephan sich am Ziehen be= teiligte. Ganz schräg in seinen Strick gestemmit lag Franz. Einmal fiel er fast aufs Gesicht: er rutschte auf dem schlammigen Boden hin und her. Er biß sich die Lippen wund in seiner Wut.
"
,, Bist neidisch auf mein Brot", hatte der Bruder gesagt. Ihm flang's noch in den Ohren. Er hörte, es immerfort im Singen des Regens und im Knarren der Räder:" Bist neidisch auf mein Brot." Gemächlich legte sich Stephan nun auch den Strick um die Schulter und 30g mit an. Er lachte in sich hinein.
Da tarf ihn ein Fauftschlag ins Geficht. Franz schlug wie ein Besessener auf ihn ein, finnlos, vor Wut. Im Nu waren beide Brüder ineinander verschlungen. Die Schläge hagelten. Franz, der jüngere, war Stephan nicht gewachsen. Er hörte die Schläge dumpf auf Kopf und Rücken trommeln, aber er gab nicht nach. Sie waren verstrickt in ihren Tauen, tamen zu Fall, wälzten sich im Schlamm und schlugen immer weiter. Sie stießen mit den Köpfen aneinander und traten sich mit Füßen Die Stride aber ließen nicht los; die Brüder blieben eingespannt. Bulegt erlahmten ihre Kräfte; sie konnten kaum noch schlagen. Beide waren ganz mit Schlamm bedeckt und glitten aneinander ab, nur von den Stricken gehalten. Da tönte eine hohle, alte Stimme: ,, He! Kinder! steht
doch auf!"
Ein alter Mann stand da. zwei Stöde an feine Knie geftüßt, und faßte die Brüder bei den Schultern. ,, Was schlagt ihr euch?" sprach er mit rauher Stimme. Habt's schwer genug mit eurem Karren. Steht auf und fahrt nach Hause;' s ist Nacht.
Die Brüder fießen voneinander ab, standen auf und sahen verbissen vor sich hin. Schwarz standen die enilaubten Kronen der Bäume jenseits der Landstraße..
Der Invalide zog ein duncles Tuch aus seiner Joppe und widelte etwas aus. Da", sprach er ,,, wollt ihr Brot? Ich mag nichts effen." Er brach das Brot mittendurch, gab jebem eine Häifte. Eßt und fahrt zu! Ich helf' euch auf den Weg!"
Die Brüder hielten das Brot in den Händen. Doch feiner biß hinein. Sie legten sich die Stricke um die Schultern und griffen nach der Deichiel. Der Alte ging nach hinten und schob an. Fahrt u!" rief er.. Da tnarrte der Karten weiter.
Der Regen rieselte; der Wind heulte im Gehölz. Der Alte blieb zurüd; er stond mitten auf der Straße.
Um diese frühe Morgenstunde sind die Straßen am Wedding schon belebt.. Das Heer der Arbeiter und Angestellten strömt in die Fabriken und Kontore. Noch flackert das gelbe Licht hinter den Glasscheiben der Laternen, die Rolljalousien liegen noch vor den Schaufenstern der Geschäfte, und mur einige Friseure und Zigarrenhändler haben ihre Läden fdjon geöffnet. Aber die jungen Burschen und die frisch- kotetten Mädchen, die alten Arbeiter und die Frauen in Umschlagtüchern, alle mit blauen Kaffeepullen oder Aftenmappen versehen, hasten daran vorbei, hinein in die Schächte der Untergrund, in die Autobusse, die Straßenbahnen... Sirenen perkünden heulend und zischend den beginnenden Werktag.
Um diese frühe Morgenstunde geht durch die Weddingstraßen ganz allein ein junger Mann im Frad. Er trägt einen schwarzstumpfen Abendhut, seine Lackschuhe funkeln, aber sein Gesicht ist verwüstet, abgelebt, veramüsiert, wie es scheint. Sein Gang ist torkelnd, und die weißen Lederhandschuhe an seinen Händen leuchten herausfordernd durch den grauen Morgen.
"
Man starrt ihm nach. Höhnische Worte durchschneiden die Luft. Eine alte Frau schreit ihm nach:„ Oller Penner!" Aufgespeicherte Bitterfeit entlädt sich. Die jungen Burschen gehen ganz dicht an ihm vorbei und streifen ihn mit ihren Schultern. Leise und voll verhaltener Wut flingen die Worte:„ Na, Määnsch, haste dir ammestert? Na, sind die Weiber auf dich geflogen? Dem hat der Seft jeschmeckt!" und Määnsch, valier man deine Handschuhe nich. Sonst tannste nich. na du meest schon!" In allen diesen spontanen Ausrufen, in diesen verächtlichen Blicken und Ge bärden, den jäh ausbrechenden Schmähungen liegt die Verwunderung: Was will der hier? Was will der bei uns? Kann der Faßfe nicht auf der Tauenzien bleiben? Will der hier stänkern? Oder läuft er etwa Reklame für einen Schneider, der uns, Weddingmenschen, ausgerechnet Fradanzüge machen will? Hat dir deine Olle raus jeschmissen?" ruft ein Junge von seinem Fahrrad. Und da ist plöglich Stimmung da. Aus dem höhnischen, verbissenen Gelächter ergibt sich ein humoriges Lächeln: Kinder, Kinder, ihr könnt ja gar nicht wissen, was mit dem da überhaupt passiert ist!
Die Anwürfe verstummen, brechen ab, die höhnischen Blicke weichen mitleidigen, denn der Herr im Frack hat vor einer Pfandleihe Halt gemacht. Das Laternenticht ist erloschen, und im grausam grauen Tageslicht merken die Leute, daß seine Eleganz schäbig und auf neu gebügelt ist, daß sein Gesicht überanstrengt und müde, aber nicht veramüsiert, und daß sein Gang schlotternd, aber nicht tortelnd ist
Der Herr im Frack geht vor dem Haus der Pfandleihe auf und ab, immer auf und ab. Er wartet.. Er wartet auf die Deffnung des Pfandhauses. Mit einem harten Grauen nehmen die zur Arbeit hastenden Weddingmenschen jetzt die Fadenscheinigkeit des Frads leihe ja nichts anderes ist als ein sogenannter„ Fracherr" im Film, zur Kenntnis. Sie ahnen, daß der junge Mann da vor der Pfandein fleiner Komparse. ein armseliger Extra, der nur diesen Kleidungsstücken seine Beschäftigung, seine miserablen Gagen vers Sie ahnen, daß der junge Mann während einer Nacht aufnahme mieje Statistinnen fnutschen mußte, daß er müde ist, hundemüde In westlichen Bezirken würden die Leute thren Spotf in sich hineinfressen, würden sagen: Aha, ein Fracherr! Ja, richtig, der Stoa dreht ja in Babelsberg einen Gesellschaftsfilm!" Die Weddingmenschen ahnen das. Und es ist ganz seltsam der arme Komparse sehnt sich jest nach den bissigen Zurujen von vorhin, nach diesen Blicken und diesen Gebärden.
Danft
Da steht por einem Pfandhaus im Viertel der Berliner Proletarierquartiere ein Fracherr", der darauf wartet, seinen Alltagsanzug einlösen zu können, den er verletzt hat, um den Frod aufbügeln zu lassen, den Frack, in dem er bessere Zeiten erlebt hat, den Frad, der ihm über die schwersten Klippen hinweggeholfen hat; als Kellner, als Filmfomparse hat er ihn getragen, diesen Frack, der wohl bald vor Altersschwäche den Dienst quittieren wird
Da steht im grauenden Morgen ein„ Frackberr". Und das Heer der Arbeiter und Angestellten zieht an ihm vorbei. Und zu weilen trifft ihn ein mitleidiger Blid...