Im 6. Heft cüter funkelnagelneuen„nationalen" Zeitschrift „Das freie Deutschland ", das vorläufig noch unter Ausschluß der Oeftentlichkeit erscheint, berichtet als„neutraler" Ausländer Prof. Dr. B ö ö k, Mitglied der Schwedischen Akademie in Stockholm , über seine Eindrücke in Berlin am Wahlsonntag, also am 14. Sep- tember 1930. Diese Eindrücke, die er dankenswerterweise nicht sür Schweden , sondern für uns Deutsche in dem erwähnten Heftchen niederschrieb, sind zu köstlich, als daß sie der Vergessenheit anheimfallen dürfen. Wir erfahren da so allerlei Dinge, die uns Berlinern bisher völlig unbekannt waren, und wir beeilen uns, die Ergebnisse einer tiefgründigen Forschungsarbeit unseren staunenden Landsleuten mitzuteilen. Also am Wahlsonntag warf sich der hochgelehrt« Mann studien- halber und todesmutig in ein Auto, um das„proletarische Berlin " kennen zu lernen. Offenbar in der Absicht, aufregende Abenteuer wie auf einer australischen Buschexpedition zu erleben, fuhr er einige Stunden in Neukölln h«rum. Aber Neukölln hat ihn bitterlich enttäuscht. Er traf dort keine Kopfjäger, die in Lehmhütten oder Pfahlbauten Hausen: „Der Eindruck fft ja nicht direkt erschütternd, und einige von uns, die ganz neulich in London East-cnd herunigswandert waren, konnten nicht unterlassen, Bergleiche anzustellen. Die Proletarier in Berlin residieren in Miethäusern, die sich recht oft vollständig bürgerlich ausnehmen und am ehesten den weniger luxuriösen Quartieren auf Oestermalm in Stockholm gleichen." So kam der wissensdurstige Mann in Versuchung, sich vor einer Reihe schmucker, fünfstöckiger Häuser erstaunt die Augen zu reiben. Endlich wachgeworden, bemerkt er, daß Stockwerk sür Stockwerk mit roten Flaggen geschmückt ist, die entweder die kommunistische Liste 4 propagieren oder— ebenso energisch— den Anschluß an Listet der Sozialdemokraten verkünden. Cr erkennt mit tiefschürfender Gründlichkeit weiter, daß die letzteren in der Mehrheit sind. Und wieder ist er enttäuscht: „Aber die beiden Hauptsekten(!) von Karl Marx schienen nicht schlecht miteinander auszukommen, zwischen den streitenden Anhängern wurden keine Bomben ausgetauscht, sogar kaum Schimpfworte." Das ist beruhigend! Aber nun macht der alte Schwede eine Mitteilung, die geeignet ist, in Parteikrersen ungeheures Auf» sehen zu erregen: „Jeder bezieht, wie behauptet wird. 5 Mark cm» der Wahl. kasse seiner Partei als Belohnung für die Dekorationen, und die „Gesiniurngstuchtigkeit", die dadurch zum Ausdruck gebracht wird. ist vielleicht ein« Grundlage für das gegenseitige Verständnis." Also davon müssen wir erst über das neutrale Ausland er» fahren! Die Neuköllner Parteileitung muß Hunderttausend««mf diese Wesse frivol vergeudet haben, die sie sicher ganz geheim von dem schwedischen ZündhÄztrustmagnaten Kreuger erhalten hat.
Die berliner zu faul zum Kurze-Pfeife-Tiauchen? Dann wird die gute Anordnung der zahlreichen Wahllokale gelobt und festgestellt, daß die Wähler an dem schönen September- somrtag noch Zeit genug haben, nach Köpenick , Grunewald oder Wannsee zu fahren. Aber was tun die Wähler, die zu Haufe bleib«»? „Die Valkone in den Prolelarierquartieren prunkten in reichem Blumenschmuck, weiße Dahlien, violette Astern und gelbe Kressen bildeten zusammen mit den roten Tüchern und Standarten kräftige Farbenakkorde. Bequem gegen da» Balkongeländer gelehnt saßen die Hausväter in weißen hemdärmeln und schmauchten ihre Pfeife— nicht die kurze englische Pfeife, die mit Körperbewegung vereinbar ist. sondern die bürgerliche lange Pfeife, die in Deutschland noch weiterlebt, die harmonisches Gleichgewicht, meditatives Denken und ruhiges Grübeln voraussehl." Der scharfsinnige Gelehrte beobachtet dann weiter den Rauch, der in weißen und blauen Spiralen aus kunstvoll geschnitzten Pfeifen aussteigt, freut sich über die Triller der Kanarienvögel, die in ihren Bauern draußen zwischen all den roten Fahnen hängen und schlußfolgert als oller Romantiker gerührt: „lieber dem proletarischen Berlin liegt noch ein schwacher. aber deutlich spürbarer Duft von den Idyllen und Genrebildern S p i tz w e g s. So sieht es in Neukölln aus! Es folgt nun eine politische Betrachtung, die sich nach dieser stimmungsvollen Ein- leitung darauf stützt, daß die deutschen Arbeiter samt und sonders spießbürgerliche Spitzwegfiguren sind. Das gelehrt« Haus ist weit davon entfernt, die Achseln zu zucken über das Bedürfnis der Arbeiter in einer 4-Mi2ionen-Stodt, Sonntags in Schrebergärten Erholung zu suchen. Cr rückt Neukölln in den Mittelpunkt der Weltgeschichte mit dem Fundamentalsatz: „Wir wollen dies« Neigung das Schrebergartentemperament nennen. Dieses Temperament sst ein moralisch-politischer Faktor gewesen, der dag Schicksal Europas ensschleden hat und der desien Zukunstsproblem in sich birgt." Die Arbeiter leben wie die Made im Speck! Und weiter schreibt der Herr Professor: „Was soll eigentlich ein Franzose oder ein Eng» länder denken, wenn er vor diesen blumengeschmückten Wohn- Häusern steht? Wahrhaftig, so gut wohnen die Arbeiter in Pari» oder London nicht, die Armenquartiere sehen anders
au» an der Themse und an der Sein« als an den Ufer» der Spree ." Wie kommt es aber, daß die deutsche Arbeiterschaft wie die Made im Speck lebt? Hier haben wir die Lösung: „Es war das rückständige und undemokratische Deussche Reich, das auf diese Weise für die Arbeiter gesorgt, ihren Lebensstandard gehoben und ihre Ansprüche gesteigert hat. Das sind die Früchte ein«r Sozialpolitik, die in die achtziger Jahre der Aera Bismarcks zurückgeht, einen Zeitpunkt, wo man in England und Frankreich noch nicht über den Raubbau hinaus- gelangt war." Wer mag dem Hern Professor diesen Unsinn erzählt haben! Wir empfehlen ihm, ehe er solche Behauptungen ausstellt, ein gründliches Studium der deusschen Geschichte der letzten zwei Jahr- zehnte des verflossenen Jahrhunderts. Er wird dann erfahren, daß die Anfänge der deutschen Sozial- polikik Herrn Otto von Bismarck von der Sozialdemokraiischen Partei abgerungen wurden. Aber dies« im warnenden Ton gehaltene schiefe Darstellung ist kein Irrtum, also nicht absichtslos. Der ganze Artikel hat die Tendenz, zu beweisen, daß Deutschland seine Reparationslasten nicht aufbringen kann, well die Wirtschast durch Sozialpolitik überlastet sst. Dadurch wird die deutsche Industrie tonkurrenz- unfähig. Aber das begreifen die Gläubigerstaaten nicht, und mit ihnen nicht— der deutsche Arbeiter. „Die wirtschaftlichen Rassonnements gehen über seinen Horizont, und wahrhastig, man kann ihm keinen Vorwurf daraus machen: denn gelehrtere Männer als er wollen den Zusammen- hang nicht einsehen."
Wir wollen aus Höflichkeit dem Herrn Professor gegenüber dieser Selbsterkenntnis nicht widersprechen. Aber woher dieser beschränkte weltpolitische Horizont des deutschen Arbeiters? Auch darüber bekommen wir cm« bündige Auskunft: „Er ist vollständig bereit, Schadenersatz und Kriegst ribul« xu bezahlen, denn«r gehört zur Sozialdemokratischen Partei, die die eigentliche Grundlage des hohen Baues der Erfüllungspolitik bildet; für nationalistische Gefühle und störrischen Patriotismus sst er ziemlich unzugänglich. Mag die deutsche Industrie be- zahlen; das ist Sache der Jndustrieherren." Man merkt nur zu deutlich, von welchen Kressen dies«„obfek- tive Darstellung eines neutralen Gelehrten" beeinflußt ist, wenn er behauptet, daß der deussche Arbeiter völlig zufrieden ist, wenn er „einige Kleinigkeiten" erhält, die er feit SO Jahren bekommen Hot: j hohe Löhne, gut« Wohnungen, Krankenversicherung, Arbeitslosen- Versicherung. In diesen Zeichen sieht der Arkikelfchreiber das; Näherkommen der drohenden Katastrophe. Nur mit schiefen Blicken' könne der Reparationspolitiker diesen verstockten Egois- 1 rnus des kleinbürgerlichen Proletariers betrachten.! der nur von seinem eigenen übertofsen wird. „Da sitzt der Arbeiter, in dem ruinierten, tributpflichtige«» veutschtand und raucht In aller Seelnruhe seine Pfeife ans seine»' Balkon t" Und damit wollen wir diese Zitatenausles« abschließen. Di« blumenreiche Sprach« des schwedsschen Professors gibt schließlich nur wieder, was etwas nüchterner, mit anderen Worten, aber mit denselben Argumenten die deusschen Unternehmer behaupten. In diesem Zusammenhang mit Gegenargumenten zu kommen. halten wir für überflüssig. Wir wollten den Lesern nur Kenntnis davon geben, daß ein neutraler Gelehrter endlich Berlin entdeckt j hat. Neukölln muß einen getoeltigen Eindruck auf ihn gemacht- haben, denn von diesem Stadtteil aus schroeifen seine Gedanken in s märchenhaste, weltpolitische Fernen.-
Otto dleicc.
v« Statistische Amt der Stadt Berlin hat kürzlich ein Büchlein herausgegeben, da» unbedingt zu den Zwergen im deutschen Schrifttum zu rechneu ist.„Berlin in Zahlen" heiß« es. und obwohl 144 Säten stark und mit einer Karle von Berlin «ersehen, läßt es sich bequem m der We st e u l a f ch e tragen. Der wert dieses Büch. leins allerdings steht l«g umgekehrten verhällals zu säuer Größe. Es beantwortet so gut wie olle Fragen, die jemand tu bezug auf Berlin überhaupt stellen kann, es ist ein allwissendes, allzät bereites Auskunstsbüro. Im Grund« genommen sst Berlin eine kalt« Stadt, SS Cis- tagen, an denen die Temperatur unter 0 Grad blieb, stehen nur SHitzetage(über 30 Grad) gegenüber. Auch die Zahl der F r o st-
Do»'
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„VORWÄRTS ist die Zeitung des denkenden Arbeiters!
tage(zeitwellig unter 0 Grad) mit 104 sst bedeutend höher als die der 41 S o m m e r t a g e(mindestens 25 Grad). Geregnet hat es an 150 Tagen, und 73 Tage lang log der Schnee in Berlin . Wir blättern weüer: Zc Hiendorf ist bescheiden, es leistet sich nur ein Bezirksparlament mit 17 Mitgliedern; der Bezirk Köpe- nick sst doppelt so groß wie das ganze Alt-Berlin mit seinen sechs Jnnenbezirken, Berlin beherbergt 12SOOO Kleingärtner und auf seinen Straßen, Plätzen und Grundstücken stehen 480 000 Bäume. 871 Brücke» hat Berlin ! Davon gehören allein 363 der Essenbahn. Recht achtbar sst auch die Zahl der 306 Spiel- und Sportplätze und weiß jemand, daß in Berlin 56 000 Hausholtungen Vieh haben(ohne Hunde und Katzen)? Ja, daß innerhalb der Stadtgrenze sogar 3600 Bienen- Völker hausen und daß auf der landwirtschaftlich genutzten Fläch« Berlins jährlich fast 1000 000 Doppelzentner Getreide. Hackfrüchte und Heu geernW werden? 375 Großfeuer in einem Lahr . Wie immer, war die Feuerwehr unermüdlich; über 13 000- mal wurde sie alarmiert, davon waren 676 Fälle böswilliger Alarm 375mal in einem Jahr«mißten sogar Großfeuer gelöscht werden. Berlin unirde längst eine abnehmende Bevölkerungsziffer haben, wenn dem Sterbeüberschuß nicht der Zugang von außerhalb gegenüberstehen würde. So ist Berlin im Vorjahr aber- mals um rund 50000 Menschen, das sst eine ganze Mittelstadt, ge- wachsen. Berlin sst eine richtig« Proletarierstadt, nur
16 Proz. seiner Bevölkerung bezeichnen sich als Selbständig « oder leitende Personen, olle anderen find Arbeiter(41 Proz.), Angestellt« «ad Beamte(2$ Proz.). 125000 Familien ohne eigenen Haushält. Berlin verfügt bei 1 210 000 Wohnungen(64 Proz. sind Klein. Mahnungen) Wer 1 236 000 Haushaltungen, so daß 96 000 Familien käne selbständige Wohnung haben, wozu noch 32 000 Familien ohne eigenen Haushalt kommen. Im: 3400 Wohnungen hausen mehr als 3 Familien! Bei den Wohnungsämtern sind immer noch 215 000 Wohnungfuchende eingetragen, von denen 37 000 im Vor- jähr Wohnungen zugeteilt werden konnten, aber 76 000 Personen ließen sich sofort neu eintragen. So gibt dieses Seine Buch auf alle Fragen bereitwilligst und eingehend Auskunft. Da steht zum Beispiel noch, daß die Gas- werke am 24. Dezember ihren Höchstverbrauch haben und am 21. Juli ihren niedrigsten, daß Berlin jährlich 3 Milliarden Brief« versendet, daß sich«in Berliner Straßenverkehr 27 000 Unfälle ereigneten, daß bei uns 132000 Ausländer wohnen, wie hoch der ortsübliche Tagelohn, die Beiträg« zur Sozialversicherung und die Ferien für das laufende Schuljahr find. Dann kommen Fahr- presse, Tarif«, Devssenkurfe, Diskonssötze, kein End« will das alles nehmen, und dabei sst dieses Miniaturlexikon doch nur den 32. Tell eines Berliner Zeitungsbogens groß.
V-Bahn nach Lichtenberg . Die Strecken Alexanderplatz-Lichtenberg und Bergstroße-Grenzallee fertiggestellt. Die Antergrundbahnbauten vom Alexanderplatz nach Dichtenberg, die im Dezember 1927 begonnen wurden, gehe« jetzt ihrem Ende eulgegeu. Es sst damit zu rechnen, daß die 7, SS Silometer lange Bahnstrecke, die in neun Stationen ein- geteilt ist. noch Ende Dezember in Betrieb genommen wird. Gleich- zälig wird auch die Verlängerung der U-Bahn von der Station Bergstraße über Neukölln nach Grenzallee mit 1,49 Kilometer Länge dem Verkehr übergeben. Wird der Strom billiger? Sozialdemokraten fordern Nachprüfung des Bewag-TarifeS. Im Skathaus beschäftigt« sich«in Stadtoerordnetenausschuß, der unter dem Vorsitz des sozialdemokratischen Stadtverordneten Robinson tagte, gestern eingehend mit der Aenderung des Bewag« Tarife« und einer eventuellen Herabsetzung der Grundgebühr. Es wurde«in Antrag des sozialdemokratischen Stadtverordneten Amberg angenommen, m. dem es heißt: Die Slatllverordaeteuversammluag ersucht den Magistrat, den Aufsichtsrat der Bewag mifzufordern, in eine Nochprüfung der Tarife äuznträeu.
...98-99-100-1... Wer das vermeiden will, trinke stets coffeinfreien
und so weiter zählen viele, um einzuschlafen. Warum? KAFFEE HA6