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Technil"," Blid in
Vorwärts
Beeliner Boltsblatt
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Tardieu gestürzt.
Das Intereffentenhäuflein
Bäckermeister Drewiß spielt verrückt.
Erfolgreicher Borfloß der Linfen im Senat/ Kommt Poincaré ? gierungspartelen verloren gegangen, das Landbolt und
Paris , 4. Dezember. ( Eigenbericht.) Das Rabinett Tardieu, das seit einer Woche einen verzweifelten Kampf um seine Existenz führt, ist heute abend im Senat gestürzt worden. In der Abstimmung wurde die von der demokra tischen Linken eingebrachte Tagesordnung, gegen die Zardieu die Vertrauensfrage gestellt hatte, mit 147 gegen 139 Stimmen angenommen. Die Regierung ist danach mit 8 Stimmen in der Minder heit geblieben.
Unmittelbar nach Verkündung des Abstimmungs ergebnisses hat sich Tardieu an der Svizze seiner Mitarbeiter ins Elysee begeben, um dem Präsidenten der Republik seine Demission zu überreichen.
Nur selten ist in der bald sechzigjährigen Geschichte der französischen Republit eine Regierung im Senat gestürzt worden. Im allgemeinen behält sich die aus den direkten Wahlen hervorgegangene Deputiertenfammer die Beseitigung einer Regierung vor und es muß schon mit dem Ansehen eines Rabinetts fehr arg bestellt fein, wenn der sonst grundsätzlich regierungsfromme Senat sich dazu entschließt, eine Krise aus zulösen.
Das Ministerium Tardieu hatte seit dem Ausbruch des grožen politischen Finanzifandals um den Börsen chieber Duftric jedes Prestige verloren. Bon den zwei Dutzend Ministern und Unterstaatssekretären, die Tardieu feinerzeit, ols er im Sommer 1929 die Nachfolgerschaft des erfrankien Poincaré übernahm, um sich fammelte, find mehrere arg tom promittiert morden mon mußte einstweilen nur nicht, wie viel: der Justizminister Béret und zwei Unterstaatssetretäre hatten nacheinander die Konsequenzen ziehen müssen, andere, darunter der Finanzminister Reynaud , standen auf der Kippe". Das war ein unmöglicher, unwürdiger Zustand. Tardieu felbst, der in der Bergangenheit in manche dunkle, nicht vergessene Kolonialgeschichten verstrickt war, stand diesmal rein da. Noch vor wenigen Tagen hatte ihm Léon Blum am Ende einer erregten Debatte in der Kammer zu
gerufen:
Ich erfläre Ihnen, daß Sie nicht im Ante bleiben können. Wenn es nur nach unserem sozialistischen Parteiinteresse ginge, dann tönnten wir uns nichts Besseres wünschen, als 1932 in den Wahlfampf gegen eine solche Regierung und gegen eine solche Regierungsmehrheit zu treten. Aber nein, wir wollen das nicht, weil das Land fo etwas nicht verdient, weil sie selber, Herr Ministerpräsident, ein besseres Schicksal verdienen, ais bruch st üdweise zu verenden."
Doch Tardieu rettete sich mit 14 Stimmen Mehrheit also weniger als die Zahl seiner eigenen Kabinettskollegen er blieb und ließ sogar vor drei Tagen, entgegen aller Wahr fcheinlichkeit, entschieden dementieren, daß in dem letzten Ministerrat die Gesamtdemission ermogen worden sei. Gr hoffte eben, sich einstweilen noch mit fnappen Mehrheiten retten zu können, bis die Duftric- Affäre in Bergessenheit geraten würde. Er hatte nicht mit dem Senat gerechnet, der gerade dann einzugreifen pflegt, wenn die Mehrheit der Rammer versagt.
Scheinbar ist Tardieu durch eine Interpellation über die allgemeine Politik der Regierung gestürzt worden. Der Interpellant hatte nicht nur vom Duftric- Stardal gesprochen, sondern auch die reaktionäre Innenpolitik Tardieus angegriffen und sogar seine Außenpolitit fritisiert. Diesen Umstand hat Tardieu geschickt benugt, um in seiner Antwort den Finanzskandal nur furz zu streifen, um so ausführlicher aber den bisherigen außenpolitischen Kurs zu begründen, weil er hoffte, auf diese Art eine Mehrheit doch noch zusammen zubringen.
Diefe Ablenkung half ihm aber nichts. Denn die demofratische Linteso nennt man im Senat die Gruppe der bürgerlichen Radikalen sowie die kleine sozialistische Fraktion waren entschlossen, ihn wegen des Finanzstandals zu stürzen. Wer tommt nun an Tardieus Stelle? Die allergrößten Aussichten hat Poincaré , der unbeliegt und freiwillig die parlamentarische Bühne vor nahezu 11 Jahren verließ und nach glücklich überstandener Operation wieder aftiv tä ig ist und auf seine Stunde wartet. Der Siebzigjährige wird vermutlich von Doumergue betraut werden und auch sehr wahrs lich annehmen, obwohl er noch am Donnerstagvormittag diese Absicht ausdrücklich bestritt und sich mit Tardieu solidarisch erflärfe.
Die Raditalen, die auf ihrem jüngsten
Kongreß zu Grenoble gezeigt haben, daß sie oppo fitionsmüde find, merden zweifellos ein Konzentrationsangebot", besonders aus der Hand Poincarés, annehmen, menn nur das Schwergewicht des neuen Ministeriums einigermaßen auf der linten Seite des Parlaments liegt.
Man kann natürlich die Beurteilung des neuen Kabinetts nicht vorwegnehmen, so lange nicht einmal feststeht, ob sich die naheliegende Bermutung der Rückkehr Poincarés erfüllt. wird allerdings sein, ob Briand Außenminister Wesentlich für die fünftige internationale Entwicklung bleibt oder durch einen anderen, eima durch Herriot, erjegt wird. Das Berhältnis zwischen Briand und Boincaré war niemals ein sehr herzliches, obwohl sich letzterer in den Jahren 1927 und 1928 allmählich auf die Verständigungspolitik im Zeichen von Locarno umzustellen begonnen hatte. Seitdem er aber feine Handlungsfreiheit wiedergewonnen hatte, war Poincaré sehr bald wieder der alte geworden. In seinen allwöchentlichen Artikeln für das argentinische Blatt Nacion", die stets auch im Pariser , Excelsior" erschienen, griff er mit zunehmender Schärfe Briands Verständi gungspolitit an. Die deutschen Reichstags folgten, haben sein altes Mißtrauen gegen Deutsch wahlen, die so turze Zeit nach der Rheinlandräumung and selbstverständlich verschärft. Und es ist leider nicht zu verkennen, daß ein großer Teil des französischen Volkes, bis tief in die Reihen der Raditalen hinein, heute dazu neigt, in Poincaré , den ungehörten Warner zu erblicken, dem die Ereignisse nur zu sehr recht gegeben hätten, und in Briand den allzu vertrauensseligen Idealisten, der sich von Deutschland habe hineinlegen iaffen. Bielleicht gehört gerade Herriot, der vielfach seit seiner Rede in Grenoble als der fommende Außenminister genannt wird, zu denen, die diese enttäuschte und mißtrauische Stimmung weiter Kreise der französischen Demokratie am stärksten verkörpern.
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Der Reichsregierung sind ganz unterderhand zwei Res die Wirtschaftspartei. Die eine will gegen die Notverordnung stimmen, die andere hat gleich einen Mißtrauensantrag gegen die Regierung eingebracht, ob gleich ihr eigener Minister noch nicht die Tür des Kabinetts Tür und Angel steht. Bäckermeister Drewitz gegen Reichsvon draußen zugemacht hat und seit Tagen zögernd zwischen fanzler Brüning!
hat, ist allerdings ausgeblieben, dafür gab es eine andere Die Sensation, die Herr Drewih fich davon versprochen Sensation um die Wirtschaftspartei, und die war heiterer Natur. Herr Bredt, der wegen Krankheit beurlaubte Reichsjustizminister, unterhielt sich im Wandelgang mit Herrn Drewiß, dem Führer der Wirtschaftspartei. Unterhaltung war sehr fräftig, so daß ihr Inhalt nicht verborgen blieb. Herr Bredt wollte nicht zurückgetreten werden, und Herr Drewig wollte ihn zurücktreten.
Die
frant. Allerdings nur als Minister. Er war also nur als Eigentlich war Herr Bredt gar nicht da, denn er ist offiziell Parteimann anwesend. Als Parteimann hat er in seiner Partei noch weniger zu sagen als Minister. Herr Drewitz be= handelt ihn, als sei er nicht da. Herr Bredt schlug erregt auf den Tisch, daß es knallte, aber es half ihm nichts. Herr Drewig brachte feinen Mißtrauensantrag ein, und der wird heute Herrn Bredt aus der Stellung zwischen Tür und Angel herausbringen.
das ist es, was dieses Interessentenhäuflein mitsamt seinem Heißt Politik! Ein Objekt für stürmisches Gelächter Minister ist. Um dieses Interessentenhäufleins willen aber hat feinerzeit der Reichskanzler Brüning gemeinsam mit dem Finanzminister Dietrich die Konsumvereinssteuer gemacht!
Man foll indeffen abwarten, wie die neue Regierung zu fammengefeßt sein wird. Aber schon jetzt will es uns scheinen, als ob die internationale Bolitit allein durch die Latfache des Stabinettswehfels, und mag er fcheinbar noch so sehr nach links" erfolgen, zunächst das Gegenteil einer Entspannung erfahren wird. Deutschlands Stellung in der Welt ist seit dem 14. September nun einmal schwer er schüttert, seine feitherige Haltung, insbesondere die in Genf in der Abrüstungsdebatte übertrieben betonte Solidarität mit den beiden Diktaturstaaten Italien und Rußland , hat das französische Mißtrauen nur noch gesteigert. Sollte im Strudel des Sturzes von Tardieu auch noch Briand auf der Strecke Politik? Nein, nur der fläglichste Dilettantismus eng bleiben, dann beginnt eine neue era der europäischen Be- stirniger Interessenpolitiker, die in Aufregung geraten, wenn ziehungen, und, wie man befürchten muß, keine erfreuder Brotpreis sinft oder die Mieten nicht steigen. Eine liche.
( Weitere Meldungen auf der dritten Seite.)
Gegen Chriftlich- Soziale und Heimwehr gewählt.
Wien , 4. Dezember. ( Eigenbericht.) Der Nationalrat hat den Sozialdemokraten Eldersch in der Stichwahl gegen den Kandidaten der Christlich- Sozialen mit 80 Stimmen der Sozialdemotraten und Großdeutschen zum Präsidenten gewählt. Eldersch appellierte nach seiner Wahl an das Haus, seine Tätigkeit vornehmlich der Bekämpfung der Wirtschaftstrise und der fürchterlichen Arbeitslosigkeit zu widmen und fich als Hüter der demokratischen Verfassung zu betätigen.
Im weiteren Verlauf der Sikung gab Präsident Eldersch die Ernennung der neuen Regierung bekannt. Im Anschluß daran erschienen die Minister im Saal und nahmen ihre Pläke ein. Am Freitag wird die neue Am Freitag wird die neue Regierung dem Parlament ihr Programm vortragen.
Mathias Elbersch war Textilarbeiter in Brünn . Seit feiner Jugend gehört er zu den eifrigften Werbern unserer Bruderpartei, zu deren führendem Sozialpolitiker und Krankenversicherungsfachmann er heranwuchs. Schon 1901 wurde er ins altösterreichische Abgeordnetenhaus gewählt und ist seitdem ununterbrochen Parlamentarier. Er mar Der erste Innenminister der Republik und stets einer der Bräsidenten des Nationalrats. Dabei kommt ihm neben so langer parlamentarischen Erfahrung auch sein föstlicher Humor zustatten.
Zweiter Bräfident ist der ehemalige Bundeskanzler Dr. Ramet( Chr.- Soz.), dritter Präsident ein Großdeutscher.
Gruß an den Reichstaa.
Der neugewählte Nationalratspräsident Eldersch hat an Reichstagspräsidenten Löhe ein Telegramm gerichtet, in dem er der gefeß, gebenben törperschaft des Brudervolles bergliche Grüße in der Hoffnung auf ein immer engeres 3ufammenarbeiten ber beiben beutschen Parlamente entbietet.
und Retter Deutschlands gefühlt, und Herr Bredt mußte in Seitdem hat sich Herr Drewitz als Diktator des Kabinetts feinem Auftrag im Kabinett und in der Deffentlichkeit verrückt spielen. Wie das Ultimatum auf Ultimatum regnete! Herr Bredt hat sogar schon einmal demiffioniert und hat sich dann wieder in das Kabinett hineinfomplimentieren lassen!
Mischung aus Bäckermeistergesichtspunkten und Hausagrarierbegehrlichkeit. Drewig und Colosser.
Die braven Leute haben eben erst einen großen Krach miteinander ausgemacht, wobei jeder dem anderen unverblümt vorwarf, daß bei ihm Verdienen groß geschrieben werde und daß seit dem Anbruch ihrer Abgeordnetenherrlichkeit ihre Vermögenslage sich rapid nach oben entwickelt habe. Inzwischen haben die Herren das Kriegsbeil untereinander be graben und spielen zur Abwechslung ein wenig Ministers stürzerei.
Als im Jahre 1924 der Landbund die Einrichtung eigener Ihre Aufregung tommt immer aus dem gleichen Punkte. Brotfabriken plante, gerieten sie in hele Empörung, und jetzt hatten sie taum das Wort Preisabbau gehört, so spielten sie die wilden Männer. Dazwischen liegt ihre gesamte Politik, reaktionär und borniert. Die Arbeiterjugend wollen sie mit Arbeitsdienstpflicht beglücken. von dem berüchtigten Stadtrat Busch nahmen sie Wahlgelder, und da sie einander kennen, verlangten sie vor der Wahl von 1928 in Hannover von ihren Kandidaten die Ausstellung eines Sichtwechsels über 20 000 m., der fällig werden sollte, wenn ein Gewählter sein Mandat nicht niederlege!
Wir nehmen an, daß sie von Herrn Bredt feinen Sichts wechsel hatten, so daß sie ihn mit der schweren Artillerie eines Mißtrauensantrages vergewaltigen mußten.
Politif? Aber feine Spur! Vor einem Jahre ergrimmte ein prominenter Hugenberg- Mann, der Dr. G. W. Schiele, über die Wirtschaftspartei, und schrieb ihr folgendes ins Stammbuch:
In der antiken Belt fannte man den Begriff der Banausen.
Das Wort heißt eigentlich Handwerker"; es wurde aber zu einem Begriff für Engstirnigkeit und rein materialistische Eine tellung gegenüber der vaterländischen Politit. Dieselbe Erscheinung taucht in unserer Zeit wieder auf. Die städtische Wirtschaftspartei ist eine buchstäbliche Partei der Banausen. Das engste, materielifte Geschäftsintereffe fall partelbildend sein. Dagegen Rationalpolitit, Kulturpofitit. Staatspolitit find nur Handelsobjekte
Gegenüber der ftarten einheitlichen Weltanschauungspartei der Margiften werden diese beiden Splitterparteien oder Banaufens