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BERLIN Sonnabend

6. Dezember 1930

Der Abend

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Nr. 572

B 285 42. Jahrgang

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Der Reichstag in Spannung

Vor der Entscheidung- Deutschnationale Hetrede

Im Reichstag begann heute vormittag die fortgefeßte Etats­bebatte mit einer Rede des Landvollabgeordneten Dompfch. Dann aber stieg das Interesse, da der alte bagerische Bauern bündler Eisenberger wieder einmal die Tribüne bestieg.

Bon ihm erwartet das Haus immer fröhliche Unterhaltung. Er meinte, das Feld sei bereits ziemlich abgegraft. Einige Grasbüschel, fagte er, find ja noch vorhanden. Aber aus ihnen riecht die baby­lonische Berwirrung, und es gehört schon der Magen eines so alten Politifers dazit, sie zu verdauen. Wir fönnen es night oerant. worfen, die Absichten der Regierung zu durchfreuzen, weil forst die Berwirrung noch größer würde Dann beschäftigte sich Eisenberger mit der ausländischen Holzeinfuhr, befonders auch mit der russischen. Die deutschen Holzpreise find bereits unter dem Borfriegsstand. Holzfußböden haben fich feit Jahr. hunderten bewährt und sind viel gesünder als die Betonböden. Die Berwendung ausländischer Hölzer ist beinahe zur Mode geworden, und die Mode ist eine allgemeine Krankheit. In einer Ausschrei bung wird Fußbodenholz mit stehenden Jahresringen verlangt. Was liegt denn da dran, ob die Jahresringe im Fußboden stehen oder liegen. Den füddeutschen Sägewerfen droht der unter. gang auch den Bauern, ble noch ein Sols haben, und Senen es die Krokodile auf den Finanzämtern noch nicht meggeschleppt Haben Ohne unserer banerischen Eigenart zu nahe treten au mollen, muß ich boch sagen, daß die Ausgaben für unsere minifterielle Forstebteilung, und unsere überflüffige Regie. rung zu hoch geworden find. Schließlich appelliert Eisenberger an die Reichsregierung, die deutsche Holzwirtschaft nicht zugrunde zu richten.

Nach Eisenberger fonnte wieder ein Wirtschaftsparteiler viel reben, um zu versagen. Abg. Biener beschwerte sich über die Ueber­gehung der Bädermeister bei der Regelung der Getreidestügung und der Durchführung des Brotgesetzes. Das hätten die Bäder. meister nicht um die Landwirtschaft verdient.

Ein Kleiner als Hetzer.

Abg, Dr. Kleiner( Dnat.) protéftierte gegen die angeblich un­fachlichen Angriffe des Reichsaußenministers gegen Freytagh- Loring. hopen. Der Außenminister habe sich damit seinen Ruf als persön lich achtbarer Mensch verscherzt.( 3uruf von der Deutschen Bolts partei: Unerhört!) Der Redner schildert ausführlich die Bolen greuel gegen die deutsche Minderheit und bezeichnet die Deutsch nationale: Bartel als Bertreterin der übergroßen Mehrheit der Be völkerung Ostdeutschlands ( Lärmender Beifall rechts, Widerspruch lints.) Die Wahlfälschungen Bilfubftis find nicht so aufregend wie die Verhängung des Kriegszustandes über die Grenzgebiete.( Hört! hört! fints. Rufe rechts: Wo ist der Außenminister?) Das interessiert ihn ja nicht!( Ruse rechts: Aufhören bis Curtius kommt! Lärm und Wortgefecht zwischen den Bänken der Deutschnationalen

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und der Deutschen Volkspartel.) Herrn Severings Regime ist schon schlimm genug.( Gebrüll der Kommunisten. Der Außen­minister Curtius erscheint im Saal, von lebhaften Ah- Rufen und Geschrei der Rechten begrüßt.) Allerdings traue ich feinem deutschent Bolksgenoffen, nicht einmal einem Sozialdemokraten, berartige

Schandtaten wie in Bolen zu.( Rufe finfs: Unerhört!)

Der Redner beschuldigt in lautestem Boltsversammlungston die Ulstein- Breffe und den ,, Borwärts", deutsche Freiheitstämpfer" be. fimpft zu haben; in letzterem Falle durch einen Artikel vom 27. No­vember d. J., worin die Studenten? undgebungen als Ausbruch des Irrsinns bezeichnet und von asiatischen Horden, die sich so gern als urgermanisch ausgeben", gesprochen wird, deren es auf deutschem Boden genug gebe. Dann perlangt ber Redner von der Reichsregierung, daß sie das Bolt gegen Polen aufrufe. Die Neuordnung Mitteleuropas werde nicht

Unerhört!

لستالا

Er denkt nach'

Mazizwischenruf während der Rebe Brünings

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Und was fut der Reichsfanzler, während wir mit Er Stintbomben und weißen Mäufen operieren?

denkt nach!- Pfui Teufel!"

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Kommunist Schumann das Wort. Dieser wendet sich gegen den Abbau des Mieterschutzes und verlangt restlose Berwendung der Hauszinssteuer für die Wohnungsbau. Es hat niemand das Recht sich über die Bedrückung deutscher Arbeiter und Bauern aufzuregen, der hier dafür sorgt, daß Millionen hungern!

Abg. Schneider- Breslau ( Natsoz. spricht nach der von den Kom­muniften mit Geschrei aufgenommenen Anrede: Deutsche Bolts genossen! Ich rufe S. O. S.!" den Kommunisten das Recht zur Ver tretung der Arbeiterinteressen ab. Der Redner fordert Schluß mit

der Rationalisierung.

Abg. Troßmann( Bayer. Bp.) liegt über die bayerische Land­wirtschaftsnot. Abg. Graf von Weslarp( Sons. Vp.) ermahnt die Regierung zu tatkräftigerem Auftreten in der Revisions- und Minderheitenfrage vor dem Bölkerbund.

Bei Schluß des Blattes sprich Reichsfinanzminister Dietrich, der die von vielen Rednern scharf angegriffene neue Tabafsteuer

verteidigt.

Die Lüge als Gyfiem.

Ein Opfer roter Mörder"?

Der Berliner Polizeipräsident teilt mit:

In der Berliner Tageszeitung der NSDAP. , Der Angriff" vom mit Frankreich , sondern gegen Frankreich und Polen er 5. Dezember 1930 wird unter der Ueberschrift Ein Opferroter folgen. Als er neue Greuelgeschichten vorträgt, und ein Sozialdemo- mörder die Behauptung aufgestellt, daß ein gewiffer trat Batrinenparolen" sagt, brüllt die Rechte minutenlang wie toll. Heinz Ordung, Oppelner Str. 47 wohnhaft, er mordet worden Schließlich erteilt Bizepräsident Stöhr einen Ordnungsruf wegen des zurufes Berbrecher", den ein Rechter gegen die Sozial fei. Das Blatt knüpft an diese Behauptung eine Reihe von Vor­demokraten geschleudert hat, was freilich in Dugenden Fällen und würfen und Unterstellungen gegen die Polizei und verschiedenem Wortlaut geschehen ift. andere Bevölkerungstreife.

Der deutsch nationale Hehrebner ftellt weiter reid's und preußische Regierungsaufrufe für Ruhe in Oberschlesien den Heßereien polnischer Terroristengruppen entgenen und will damit beweisen, wie falsch die Friedenspolitt fel. Ihre Zeit, Herr Curtius, wird

bald abgelaufen sein!

Gleich nach dieser Rede sucht Außenminister Curtius den preußischen Innenminister Severing auf und hat mit ihm eine Besprechung, permutlich wegen der Beschimpfungen, die Kleiner gegen die preußischen Behörden geschleudert hat.

Während die Nazis den Soal perlaffen, ergreift der thüringische

Demgegenüber muß festgestellt werden, daß der Todesfall Heinz Ordung einwandfrei als Selbstmord durch das Augen­zeugnis zweier Polizeibeamten sowie zweier weiterer Zeugen er wiesen ist. Entgegen den Behauptungen des Angriff ist auch die Pistole am Tatort gefunden und sichergestellt worden.

Der Polizeipräsident muß bei dieser Gelegenheit die verant wortungslose Art, mit der Vorwürfe schwerster Art gegen politisch andersdenkende Bevölkerungsfreise und gegen Polizeibeamte erhoben werden, mit Entschiedenheit zurückweisen.

48 Todesopfer der Giffgafe.

Abgase durch Rebel niedergedrückt.

Die geheimnisvollen Todesfälle in Gemeinden aus der Umgebung von Lüttich , die eine gewiffe Aehnlichkeit mit den vor einigen Jahren plöhlich auftretenden Phosgen­Bergiftungsfällen in Hamburg haben, find, immer noch nicht aufgeklärt.

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Im ganzen find bisher 48 Todesfälle gemeldet worben. ben ersten Todesfällen in Engis bei Lüttich sind hinzugefommen vier Todesfälle in Groß- Flémalle, a cht in Ober Flémalle, fünf in pon- Ramet, zehn in Jemeppe an der Maas unb sieben in Othée. Behn Kranfe murden ins Krantenhaus Dugrée gebracht.

Anfangs vermutete man, daß die Seuche durch die Gase der 3intwerte verursacht worden fei. Allein, diese Erklärung mußte wieder fallengelassen werden, denn die Zinkwerte stehen seit mehreren Tagen still. Die Aerzte vermögen die Ursachen der Er franfungen nicht zu erffären. Nach den letzten Erfündigungen sollen die gemeldeten Todesfälle in der Umgebung der Stadt tal­fächlich auf den dichien Nebel zurüdzuführen sein, durch ben bronchienleidende Personen erstickt wurden. Sehr wahrscheinlic tlingt aber auch diese Erklärung nicht, denn die Mebel werden nicht dider und gefährlicher gewesen sein als die berüchtigten Londonar Rebel. Im allgemeinen und das wird wahrscheinlich das Richtige treffen neigt man zur Annahme, daß der Nebel Don Giftgafen unbekannter Herkunft burchtränft fein müffe. Die Gegend von Lüttich ist start mit Kohlen gruben, Eisen und 3intwerten, sowie chemischen Fabriken besetzt, und es ist nicht nur möglich, sondern wahre scheinlich, daß die giftigen Abgase chemischer Fabriten anstatt wie bei flarem Wetter in die Luft zu ziehen, durch den Nebel zu Boden gedrückt worden sind und Personen, die an sich anfällig oder träntlich waren, einfach erstict. haben.

Briand soll bleiben.

Poincaré lehnt endgültig ab.

Paris , 6. Dezember.( Eigenbericht.) Troy zahlloser Beratungen der Parteien und Fraktionen ist noch fein Anzeichen für die Lösung der Regierungstrife zu erkennen. Der allgemeine Ruf geht nach der Bildung einer Konzentrations. mehrheit. Allein nach den früheren Mißerfolgen erscheint diese Arbeit so schwierig, daß sich die Parteien größter Zurückhaltung be fleißigen, um sie nicht noch zu erschweren. Da Poincaré erneut betont hat, er tönne aus Gesundheitsrücksichten die Regierungs bildung nicht übernehmen, nennt die Breffe heute als aussichtsreichsten Kandidaten den Senator Barthou . Daneben werden mehr oder weniger willkürlich die Namen der Senatoren Albert Sarraut , Steeg

und Laval genannt.

"

Der Matin" erflärt, schon am ersten Tag der Regierungsfrise fei eines immer flarer geworden: teine Mehrheitsbildung sei möglich, wenn Briand nicht im Auswärtigen Amt bleibe. Die übergroße Mehrheit der Kammer lasse über diesen Punkt nicht mit sich reden. Andererseits scheine eine Einigung über die Besetzung des Innen­ministeriums, die der bevorstehenden Neuwahlen wegen be sonders schwierig ist, relativ leicht zu sein, da die Radikalen diefen Boften nicht mehr für ihre eigene Partei beanspruchen würden unter der Bedingung, daß der neue Innenminister cine möglichst neutrale Person sei ebensogut ihnen selbst wie den gemäßigken Parteien annehmbar erscheine. Die Wahl würde unter diesen Um­Ständen beispielsweise auf den Senator Laval fallen können.

Opfer der Gewa'fpolitif. Bon Zettelanflebern niedergeflochen. Cannstatt, 6. Dezember. Der 58 Jahre alte Hausinspektor der Cannftätter Oberrealschule Jafob Stumpp ist heute nacht von Angehörigen der Arbeiterwehr der kommunistischen Pastel niedergeschlagen worden, als er das Ankleben von Propagandazeffeln verhindern wollie Der Gruppenführer versehte ihm einen solchen wuchtigen Schlag mit der Faust, daß er hinstürzte und mit dem Kopf auf das Pflafter aufschlug. Der Tod frat auf dem Transport zu felner nahegelegenen Wohnung ein. Der Täter, der Gärtner Karl Förffner, flüchtete, fonnte jedoch noch in der Nacht festgenommen werden.