Morgenausgabe
Tit. 575 A 289
47. Jahrgang
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Oiensiag 9. Dezember 1930 Groß-Äerlin 19 Vf. Auswärts 45 pf.
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Oer Theaierprozeß beendet.
K o w n o. 8. Dezember. Wie aus Moskau gemeldet wird, hat das Präsidium des Vollzugsausschusses der Sowselumon nach einem kurzen Vortrag des Vorsitzenden Salinin das Gnadengesuch der Verteidiger des zum Tode verurteilten Ramsin und seiner vier Genossen genehmigt. Die Todesstrafe wurde in eine Gefängnisstrafe von zehn Sohren umgewandelt: ausserdem wurden den verurteilten die Bürgerrechte auf fünf Sahre aberkannt. 3« der Begründung wird erklärt, die Angeklagten seien begnadigt worden, da sie ihre Schuld eingestanden und mitgeholfen hätten, die antisowjetistische Organisation auszuheben. Außerdem sei die politische Lage im Lande so stabil, daß dieser Schritt habe unter- nommen werden können. Ein Musierwirtschastsland. Wenn der Moskauer Prozeßbericht wirklich stimmte... Wer als denkender Mensch die offiziellen Berichte über den Moskauer Schädlingsprozeß gelesen hat, der hat sich aus den Mustergeständnisfen der Musterangeklagten seinen Vers gemacht. Aber der Kommunist denkt nicht, er glaubt. Und von seinem Glauben ist der Mensch schwer abzubringen, die- weil der Glaube selig macht. Deshalb wollen wir unseren Kommunisten zu Gefallen auch einmal den Moskauer Bericht glauben, wir wollen, wie der Jurist sagt, alle Angaben Moskaus über den Schädlings- Prozeß„als wahr unterstellen". Wir finden: wenn das wirk- lich alles stimmt, dann ist es für Moskau noch viel trauriger, als wenn der ganze Prozeß— wofür wir ihn bisher hielten— nur erlogene Mache wäre. Wo gibt es das noch einmal auf der Welt? Eine Schäd- lingsorganifation von einigen Schock Ingenieuren, die— im Solde des feindlichen Auslands stehend— die gesamte Industrie eines großen Landes, namentlich auch mit Hinblick auf einen kommenden Invasionskrieg sabotiert? So sagt es doch der Bericht. Munitionsfabriken wurden so nahe am Strande erbaut, daß feindliche Kriegsschiffe sie bequem zerschießen konnten: Lokomotiven wurden so schwer konstruiert, daß sie die Gleisanlagen in 5tlump fuhren: alles und jedes wurde falsch kalkuliert und falsch disponiert. Und das ging jähre- lang ungestört weiter, brachte die ganze Industrie des Landes in größte Verwirrung, bis endlich die schlaue GPU. dahinterkam. Hier freut sich natürlich der gläubige Bolschewik. Ist doch eine feine Sache, diese GPU.! Ist schließlich doch dahinter- gekommen, ehe es gänzlich zu spät war. Ach, lieber Bolschewik,
solltest du nicht viel eher darüber weinen, daß e r st eine GPU. nötig ist, um zu bemerken, daß seit Jahr und Tag die Gesamtindustrie des Landes systematisch ruiniert wird?! Das ist also das Resultat von 13 Iahren Sowjet- Herrschaft, daß nicht ein einziger kommunistischer Betriebsleiter, daß nicht ein einziger kom- munistifcher Ingenieur gemerkt und weiter gemeldet hat:„Hier stimmt etwas nicht, hier wird sabotiert." Wir verstehen, daß die Bolschewiki bei ihrer Herrschafts- Übernahme zunächst die bürgerliche Intelligenz und das bürgerliche Spezialistentum geradezu mit Gewalt heranziehen mußten. Aber wir schreiben doch nicht mehr 1926, sondern 1939. In dem Jahrzehnt nach den Bürgerkriegen soll doch, immer nach kommunistischer Behauptung, aus gänzlich um- gestellten Hochschulen eine neue Intelligenz re i n p r o l e t a- r i s ch e r Abstammung von ausgesucht bolschewisti- scher Gesinnung hervorgegangen sein. Offenbar hat dieser Nachwuchs aber auf den bolschewisierten Hochschulen so wenig gelernt, daß er den bürgerlichen Spezialisten noch nicht einmal auf die Finger sehen, geschweige denn ihre Funktionen übernehmen kann. Wie wäre es sonst möglich und denkbar, daß nach 13 Jahren angeblicher prole- tarischer Klassenherrschaft alle leitenden Posten der Wirtschaft sich immer und immer noch in den Händen der„bürgerlichen Klassenfeinde" befinden?! Stimmt also der amtliche Prozeßbericht, dann stellt er der Sowjetwirtschaft ein erschreckendes Armutszeugnis aus. Keine eigene wirtschaftliche Leitung, noch nicht einmal wirt- schaftliche Kontrolle. Die vollkommene Desorganisation der Wirtschaft, wie sie sonst in keinem Lande denkbar wäre, muß erst von der Kriminalpolizei in Gestalt eines Komplotts nach- gewiesen werden, ehe die bolschewistische Zentral- regierung Stalins sie bemerkt! Was nun, wenn der Spürsinn der braven GPU. versagt hätte? Nach dem osfi- ziellen Bericht müssen wir annehmen: die gesamte Industrie Rußlands wäre dann in ein grenzenloses Chaos geraten, wäre vollkommen zum Stillstand gelangt, ohne daß sich die bolschewistischen Staatslenker um Stalin dies hätten erklären können. Das ist die Quintessenz des Moskauer Prozeßberichtes. Möchten ihn da nicht selbst unsere deutschen Kommunisten lieber für einen tendenziösen Schwindel halten?! Daß er es ist, beweist die Begnadigung der zum Tode Verurteilten. S i e haben sich durch falsche Geständnisse das Leben er- kauft. Zlber achtundvierzig find vor ihnen ohne Urteil er- schössen worden! Und wieviele werden folgen? (Siehe auch dritte Seite.)
Mussolini rüstet Stalin auf. Die faschistisch-bolschewistische Freundschast tritt immer zynischer zutage.
Rom . 8. Dezember.(Eigenbericht.)' Zm Zusammenhang mit dem von dem russischen Außenminister L i t w i n o w kürzlich erweiterten Abmachungen über den Bau von Ariegoschifsen in dem faschistischen Italien für die bolschewistische Marine ist der Stapcllaus eines drillen Motorschiffes in T r i e st zu verzeichnen, das aus Konto der S o w j e l r e g i e r u n g in Italien gebaut wurde. Der russische Konsul und ein italienischer Admiral wohnten dem faschistisch- bolschewi st ischen Festakt bei. Oer Rüstungsfampf Frankreich -Iialien. Paris , 8. Dezember. (Eigenbericht.) Angesichts der iuuerpolitischen Aufregung der letzten Tage hat man in Paris die jüngsten EreignisseindcrAußenpolitik völlig vernachlässigt. So wußte die italienische Presse vor einigen Tagen zu melden, daß der am 31. Dezember ablaufende R ü st u n g s st i ll st a n d für die Flottenrüstungen in Frankreich und Italien um drei Monate verlängert worden sei. Der Ouai d'Orsay hat diese Nachricht, die wohl mehr ein Versuchsballon sein sollte, sofort dementiert. Aber nur ein einziges Blatt, der „Petit Parisien", hat von diesem Zwischenfall Kenntnis ge- nommen. Wie nun das„Echo de Paris" berichtet, beabsichtigt Italien , das allein aus finanzieller Schwäche einem im neuen Jahr wieder einsetzenden Rüstungswettrennen mit Frankreich nicht folgen könnte, einen Vermittlungsoorschlag zu unterbreiten. Danach soll Frankreich einen Vorsprung von 200 000 Tonnen vor der italienischen Flotte behalten, doch sollen 23 000 Tonnen dieser Ueberlegenheit zur See «»6 U-Booten bestehen, während sich der Rest aus alten Einheiten
der französischen Kriegsmarine zusammensetzen soll. Diese Einschrän- kung setzt natürlich den Wert des italienischen Vorschlages so sehr herab, daß er in Paris kaum Aussicht auf Annahme hat.
Barihou gefcheiieri. Senator Pierre Laval versucht ein Kabinett zu bilden. Paris , 8. Dezember. (Eigenbericht.) Die Regierungskrise in Frankreich läuft in den ehernen Bahnen des traditionellen Programms ab. Nachdem B a r t h o u an der für die Radikalen unannehmbaren Forderung Tavdieus, auch Marin in die Regierung aufzunehmen, gescheitert war, wandte sich Präsident Domergoue an den Senator Pierre L a v a l. Laval hat sich, wie üblich, eine Bedenkzeit von 24 Stunden erbeten, um vor Erteilung seiner endgültigen Ant- wart seine politischen Freunde zu Rate zu ziehen. Laval begann seine Besuchsreise bei Poincare , Briand und Tardieu. Nach einem Frühstück mit Tardieu besuchte er Maginot, de Chappedelaine und Paganon. Mit welchem Erfolg läßt sich vorläufig noch nicht sagen. Die Ausgabe, die er zu lösen hat, ist die gleich«, an der Varthou gescheitert ist: ein Kompromiß zwischen den Radikalen und der allen Tardieuschen Mehrheit zustande zu bringen. Laval bringt für seine Versuche größere Jugend und Elastizität und vor allem größere Sympathien im Parlament mit, als sie Barthou besitzt. Es scheint trotzdem zweifelhaft, ob das Format Laoal der Größe seiner Aufgabe ge- wachse» ist.
Gegen die Kriegshetzer! Organisiert die Abwehr! Eine Woge des nationalistischen Wahnsinns rollt durch Deutschland . Der Wahlerfolg der Nationalsozia- listen am 14. September hat nicht nur die Sieger berauscht. sondern auch die Besiegten aus dem bürgerlichen Lager. Sie starren wie hypnotisiert aus den Erfolg. Die Deutsch - nationalen im Reichstag haben sich vollständig dem nationalsozialistischen Kommando unterstellt. Wirtschafts- parte! und Landvolk, Christlichsoziale und Konservative fürchten, das letzte Stückchen Boden unter den Füßen zu ver- lieren, wenn sie nicht mitmachen. In der Deutschen Volks- partei ist die Neigung, den Weg Stresemanns zu ver- lassen und den Spuren Hitlers zu folgen, keineswegs gering. Zur Mehrheit brauchen die vereinigten Nationalisten ent- weder das Zentrum oder die K o m m u n i st e n. Das Zentrum hält einstweilen noch stand. Aber die Kommunisten haben sich schon wiederholt bereitwillig zur Verfügung gestellt. Ohne sie wären die lächerlichen Beschlüsse des Auswärtigen Ausschusses auf Rückberufung Vernstorffs aus Genf und auf Abbruch aller Wirtschaftsverhandlungen mit Polen nicht möglich gewesen. Auch in Zukunft scheinen die Kommunisten bereit zu sein— sei es auch von ganz anderen Absichten aus- gehend—, zunächst einmal in der Front des bürgerlichen Nationalismus mitzukämpfen. Daraus ergibt sich ein Zustand, der für die Außenpolitik des Deutschen Reiches die allerschwerstcn Gefahren in sich birgt. In der nächsten Zeit wird es sich entscheiden, ob wieder die Kräfte obenauf kommen sollen, die Deutschland ins Verderben gestürzt haben. Der extreme Nationalismus ist im politischen Leben Deutschlands nicht neu. Nur daß er vor dem Kriege sein scharfmacherisches Unternehmergesicht offen zur Schau trug, während er jetzt eine sozialistische Maske vorgebunden hat, macht den Unterschied zwischen einst und jetzt. Diesem Nationalismus war, von Bismarck angefangen, noch jeder deutsche Kanzler, noch jede Neichsregierung in außenpolitischen Fragen viel zu schlapp. Es ist grotesk, daß gerade e r den„Widerruf der Kriegsschuldlüge" verlangt: denn wäre das kaiserliche Deutschland seinen Ratschlägen gefolgt, dann hätte es sich an der Entstehung des Weltkriegs hundertprozentig schuldig gemacht. In Wirklichkeit sind die ehemaligen kaiserlichen Negier ungen, eben weil sie sich weigerten, mutwillig in den Krieg zu gehen, ebenso beschimpft worden wie später die republikanischen. Der Kriegsausbruch wurde nicht als schreckliche Tatsache aufgenommen, die jedermann die Pflicht zur Landesverteidi- gung auferlegte, sondern er wurde mit Jubel begrüßt. Bald danach wurde der kaiserliche Kanzler Bethmann Holl- w e g in geheimen Flugschriften beschuldigt, ein Freund Eng- lands zu sein und zugunsten Englands eine energische Kriegs- führung zu verhindern. Sozialdemokratische Versuche, den Krieg vor der sonst unoermeidlickzen Niederlage mit einem Frieden ohne Annexionen und Entschädigungen zu beenden, wurden als erschießenswürdiger Landesverrat niedergeheult. Man mußte doch Belgien haben, mußte von Amerika Kriegsentschädigungen bekommen-- und als schließlich der ganze Wahnsinn zusammenbrach, wer hatte die Schuld? Natürlich Juden, Pazifisten und Sozialdemo- k ra t e n! Es ist eine niederschmetternde Tatsache, daß große Teile des deutschen Volkes aus der Geschichte nichts gelernt haben! Sie laufen schon wieder dem nationalistischen Schwindel nach und rennen blindlings ins Verderben. Es muß offen ausgesprochen werden, daß die zähe, ge- duldige und keineswegs erfolglose Arbeit, die in den letzten zwölf Jahren geleistet wurde, um die Lage des geschlagenen Deutschland zu erleichtern, mit der Vernichtung bedroht ist, wenn die heulenden Derwische des Nationalismus ent- scheidenden Einfluß auf die deutsche Außenpolitik gewinnen. Jetzt berufen sie sich gern ans Bismarck . War es nicht Bismarck , der in Beziehung auf die auswärtige Politik das Bild von der Artischocke prägte, die man nur blattweise essen kann? Sie aber möchten auf einmal alles haben: Aufrüstung und Erlaß der Kriegsentschädigungen. Minderheitenschutz, Grenzrevision, Kolonien. Sie empfehlen als Mittel, um dies alles zu erreichen, Schluß mit der Verständigungspolitik und Austritt aus dem Völkerbund. Wenn man sie fragt, wie sie ohne Verständigung all das bekommen wollen, wie sie die Minderheiten schützen wollen, wenn Deutschland aus dem Völkerbund austritt und damit auf fein Recht zum Schutz der Minderheiten freiwillig