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ttr. 579* 47. Jahrgang

2. Beilage des Vorwärts

Donnerstag, 44. Dezember 49Z0

Wer nimmt, muß geben. Können wir einen Systemwechsel in der Handelspolitik ertragen?

Die Landvolkpartei hat kürzlich einen Antrag im Reichstag eingebracht, der die Aufhebung der allgemeinen Meist- bcgiinstigung fordert, auf der nicht blast der deutsche chandelsoerkehr mit dem Ausland, sondern der gesamte innereuropäische Waren- austausch beruht. Der Reichslandbund verlangt sogar die Lösung aller Zollbwdungen für Agrarprodukte, eventuell durch Kündigung von Handelsverträgen, sowie für die Zukunft ein Verbot jedweder Zolloercinbarungen über landwirtschaftliche Erzeugnisse. Die Annahme der Forderungen des Reichslandbundes und der Reichstagsanträge würde unabsehbare Folgen für die deutsche Industrie und damit auch für den Ar- b e i t s m a r k t nach sich ziehen. Der Wiederaufbau des deutschen Indusirieexporis ist allein der gesteigerten Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie und der Cxporterleichterung durch die auf dem Prinzip der Meistbegünstigung aufgebauten Handelsver- träge zu danken. Ein Industrieland wie Deutschland bedarf unbedingt der Sicherung durch Handelsverträge und Zoll- Vereinbarungen. Durch die Meistbegünstigung genießt Deutschland (von wenigen Sonderfällen abgesehen) auf den aus- ländischen Absatzgebieten die gleichen Vergünstigungen, die anderen Industrieländern zugebilligt wurden, konkurriert also unter gleichen Bedingungen. Deutschland hat in besonders hohem Maße dem Mcistbegünstigungssystem seine Exportersolge zu verdanken. Der Leiter der deutschen Handelspolitik, Ministerialdirektor Posse, sagt mit Recht:Für Deutschland init seiner vielfältigen Ausfuhr nach allen Ländern ist das System der Meistbegünstigung die einzig brauchbare Grundlage der Handelspolitik." Durch die Handelsverträge und Tarisabkommen, die wiederum die deutschen Kundenländer untereinander abgeschlossen haben, kam Deutschland automatisch, auf Grund der Meistbegllnstigungs- klausel, in den Genuß weiterer Zollherabsetzungen. So hat Frank- reich nach dem deutsch -französischen Handelsvertrag mit anderen Ländern, der Schweiz , der Tschechoslowakei , Belgien usw. Verträge abgeschlossen: die in diesen Verträgen ausgehandelten Abschläge der französischen Zollsätze haben dem deutschen Export neue Absatzwege geöffnet. Der deutsch -französische Handelsvertrag bietet überhaupt den besten Anschauungsunterricht für den Wert der Handelsverträge: Der deutsche Export nach Frankreich betrug 1323 ungefähr 500 Millionen Mark, erhöhte sich bis 1329 auf rund 330 Millionen Mark und dürfte im laufenden Jahre nahezu 1,2 Milliarden Mark erreichenl Mit Frankreich , Italien und Spanien waren Handelsverträge mir erreichbar bei gleichzeitigen vcrtra.glicl'en Vereinbarungen über die Höhe der deutschen W e i n z ö l l e. Holland und den skandi- navischcn Ländern sowie den Randstaaten mußte Deutschland für die Erleichterung seines Jnduftrieexport bei der Einfuhr von L i.« h, Fleisch und Molkereierzeugnissen entgegenkommen. Dabei stellen aber diese Vertrags zolle für Erzeugnisse der Bich- Wirtschaft, des Gemüse-, Obst- uich Weinbaues eigen noch immer recht beträchtlichen ZoNfchutz für die deutsche Landwirt- schaft dar: austerdem besteht bei einzelnen Lebensmitteln ein zufätz- licher Bedarf, der von der einheimischen Erzeugung entweder gar nicht oder nicht gleichwertig gedeckt werden kann. Die am agra- rischcn Export interessierten Länder werden auch keinesfalls bereit fein, auf die ihnen in Verträgen zugesicherten Einfuhrmöglichkeiten Verzicht zu leisten. Eine Aufkündigung der Handelsverträge, «n denen Zollbindungen für die agrarischen Erzeugnisse enthalten sind, wäre die Katastrophe des deutschen Exports und des deutschen Arbeitsmarktes, da die in Frage kommenden europäischen Länder mit starken agrarischen Interessen etwa mehr als die Hälfte der deutschen Industrieausfuhr aufnehmen. Die zahlreichen anderen agitatorischen Forderungen des Reichs- landbundes gegen ausländische Agrorerzeugniss« sind so ver- antwortungslos, daß sie die schärfst« Zurückweisung erfordern. Der Reichslandbund fordert ein Nerkaufsverbot von aus- ländifchen landwirtschaftlichen Erzeugnissen in Markthallen, den Boykott des Import Handels mit ausländischen Lebens- niitteln, die Beseitigung der jetzt bestehenden Erleichterungen für denkleinen Grenzverkehr", die Ermächtigung der Regierung, die agrarischen Zollsätze nach Belieben zu erhöhen und volle Wiederherstellung des Einfuhrfcheinwesens, endlich noch das Staats- mopopol für Südfrüchte und für Reis mit dem Ziel der völligen Abdrosselung oder wenigstens schärfsten Verteuerung und selbstverständlich eine neue sofortige Zollerhöhung für Kartoffeln, Vieh, Milch und Molkereiprodukte. Holz usw. In einer Eingabe des Auhenhandelsverbandes an den Reichskanzler heißt es über die Forderungen des Reichsland- bundes, sie seien so unüberlegt, zweckwidrig und schädlich, lassen in kurzsichtigem Egoismus jede Rücksichtnahme auf das gemeinsame Interesse der deutschen Wirtschaft völlig vermissen". Das ganze Maß von Rücksichtslosigkeit und Derantwortungs- losigkeit der heutigen. Führung der Landwirtschaft gehört dazu, in einer Zeit dringendst notwendigen Preisabbaus und ohnehin kritischer Exportlage Forderungen zu erheben, die die Massen zum Hungern und die deutschen Aussuhrbeziehungen zum Verdorren bringen müssen.

Kontingents- und Gegenfeiligkeitsverträge helfen nichts. In dem schon erwähnten Antrag der Landvolkpartei wird die Forderung erhoben, das System der Meistbegünstigung zu beseitigen und in unseren Handelsverträgen in Zukunft nur noch Gegen- feitigkeitsvereinbarungen(Reziprozität) oder die Einräumung von begrenzten Einfuhrkontingenten zuzu­lassen. Kontingentsvereinbarungcn haben in letzter Zeit bereits aus den Einfluh des Landbundes hin in Handelsverträgen Eingang ge- sunden. So ist Schweden ein Kontingent für die Einsuhr von Schlachtrindern, Finnland für die Einfuhr von Butter zuge- billigt worden. Diese Kontingente haben die deutsche Handelspolitik bereits schon geschädigt und die allgemeine Mißbilligung der euro - päischen Vertragsstaaten gefunden. In Dänemark und Holland konnte nur mit Mühe ein zur Abwehr organisierter Boykott des deutschen Jndustrieexports verhindert werden. Di« s o z i a l d e m o- kratischeNeichstagssrattionhat dem deutsch -finnländischen Zusatzvertrag, der«ine solche gefährliche Durchlöcherung der Meist- begünstigung darstellt, deshalb ihre Zustimmung versagt. Das System der G ege nf e i t i g k« i t s v e r t r ä g e (Reziprozität) hat nicht nur im agrarischen Lager Anhänger, sondern auch verschiedene industrielle Stimmen empfehlen es neuerdings mit dem Hinweis auf die starre Zollpolitik etwa der Vereinigten Staaten und England.(Gegenüber dem Sonder-

fall Ruhland mit seinem vollkommenen staatlichen Handels- Monopol wäre es möglich, daß andere Wege der Handelspolitik eingeschlagen werden müssen.) Dieses System schließt aber die Ver- allgemeinerung der Zollermäßigungen auf alle Vertragsstaaten aus und ist glücklicherweise in Europa zu Grabe getragen worden, nachdem auch Frankreich sich von ihm abgekehrt hat. Gerade die wesentlichsten Ansprüche, die Deutschland als Industriestaat an die Handelspolitik zu stellen hat(Stabilität der Zolltarife, gleich« Wettbewerbsbedingungen mit allen anderen Lieserländern sowie die Tendenz zur Senkung des Zolltarifs), können durch beschränkte Gegenseitigkeitsvereinbarungen nicht erfüllt werden. Jede Einzel- zusage, die einem Handelspartner gewährt wurde, muß sofort zahl- reiche neue Verhandlungen mit den anderen Vertragsländern noch sich ziehen, die die gleiche Vergünstigung beanspruchen. Deutschland würde sich mit diesem System in Widerspruch zu der gesamten euro- päischen Handelspolitik und auch zum Völkerbund setzen, der aus- drücklich die Aufrechterhaltung der allgemeinen Meistbegünstigung anempfohlen hat. Es bleibt zu hoffen, daß diese Forderungen der Agrarier auch die eindeutigste Ablehnung der bürgerlichen Rlittelparleien finden. Die zoll- und handelspolitische Ausrüstungspolitik, die den not- wendigen Preisabbau verhindert und gleichzeitig unsere Ausfuhr- beziehungen aufs Spiel setzt, darf nicht weiter fortgesetzt werden. Der Reichstag wird demnächst auch das Zollfrledensabkommen vom März 1323 zu beraten haben, das bereits von zahlreichen euro- päischen Ländern, aber noch nicht von der Regierung Brüning ratifiziert worden ist. Die Zustimmungserklärung durch den Reichstag und die Ratifikation des Abkommens durch die Reichs- regierung muß unverzüglich erfolgen, damit von deutscher Seite her diesen für uns besonders wichtigen Abkommen keine weiteren Schwierigkeiten in den Weg gelegt werden.

Die Arbeitslosigkeit in Berlin . 402 646 Erwerbslose Ende November. Räch dem Bericht des Landesarbeitsamtes Brandenburg stieg in der zweiten Rovemberhälste die Zahl der Arbeit- suchenden in Berlin , Brandenburg und der Provinz Grenzmark um 18 241 aus 558011 Personen. Der Zuwachs an Arbeitsuchenden hat sich verlangsamt; in den beiden letzten Oktoberwochen betrug er rund 22 500 und in der ersten Rovemberhälste sogar fast 42 000. In Anbetracht des Weihnachksgefchäsles ist der Zustrom von über 18 000 neuen Arbeitsuchenden, obwohl er sich auch aus Saisongründen in der Hauptsache erklärt, doch beträchtlich. In Groß-Berlin waren Ende Rovcmber 40? 646 Personen arbeitslos. Unter diesen befanden sich 173 866 houptunterstühungscmpsänger und 75 318 Srisenunterstützte. Da- nach wurden also von der städtischen Wohlsahrlssürsorge bis zu 153 000 Personen unterstützt, eine Talsache, die die ungeheure Be- lastung der kommunalen Finanzen kennzeichnet. während die Außenberuse trotz der verhältnismäßig günstigen Witterung schon in großem Umfang Arbeitskräste abgebaut haben, zeigen sich noch in keiner Konjunkturindustrie Besserungen.

LtGA. in Oeuischland� Department of Eommeree stellt fest: für SSV Millionen Mark Betriebe in Deutschland . Die Amerikaner haben an Europa geborgt: 414 Milliarden Dollar in Form langfristiger Anleihen und etwa 6 Milliarden Dollar in Form von Staats- und Kriegsdarlehen. Europa ist also allein binsichtlich dieser beiden Formen des Kapitalexports zu über 10 Mil- liarden Dollar an Amerika verschuldet. Im Jahre 1323 war aber, wie wir kürzlich auf Grund nmerikansscher Quellen zeigten, der europäische Kapitalabfluß nach Amerika in Form von Zinsen, Dividenden, Rückzahlungen größer als der Kapital- export Amerikas nach Europa . Neben den langfristigen Darlehen ist die unmittelbare Kapitalbeteiligung an ausländischen Unternehmungen und die Errichtung von Tochtergesellschaften die umfangreichste Form des Kapitalexports. Ihr Gcsamtumfang wurde kürzlich vom Depart- m e n t o f Commerce auf 7,5 Milliarden Dollar geschätzt, wovon 1,35 Milliarden(rund 5,7 Milliarden Mark) auf Europa entfallen. Den Hauptteil dieser Anlage bilden Fabrikunternehmungen (2,6 Milliarden Mark), Tankstellen und sonstige Petroleum- und Bcnzininteressen(370 Millionen Mari). Die größten un- mittelbaren amerikanischen Kapitalanlagen bestehen in Groß- britannien mit 2,04 Milliarden Mark. Es folgen Deutsch - landmit307, Frankreich mit 609 und Italien mit 475 Millionen Mark. Bon den deutschen Geschäftsanlagen entfällt der größere Teil(580 Millionen) auf Fabrikationsbetriebe, der Rest hauptsächlich auf Tankstellen. Die sogenannte amerikanischeUebersrcmdung" wäre also in England noch mehr al» doppell so groß als in Deutschland . Bisher war der Umfang dieser Geschäftsanlagen nur schätzungs- weise bekannt. Die Unterlagen für die neuen Ziffern des amerika - nischen Wirtschaftsamts bilden Befragungen amerikanischer Firmen durch das Department of Commerce . Der November brachte für die Automobilindustrie eine der niedrigsten Produktionsziffern: es wurden 146 00!) Wagen hergestellt gegenüber 154 000 im November 1323. Die höchste Ziffer des laufenden Jahres wurde im April mit 443 000 verzeichnet. In den Monaten Januar bis November wurden 1923 fast 5,50 Millionen, 1930 dagegen nur 3,36 Millionen Wagen produziert. Die j ü n g st e

Zeit scheint einen kleinen Aufschwung zu bringen. So hat z. B. beim Eeneral-Motors-Konzern die Herstellung von Cheorolet-Wagen, die im November 1923 46 000 betrug, im November 1930 über 47 000 betragen. Für den Dezember zeichnet die Gesellschaft mit einer Ziffer von etwa 60 000. Ein Direktor der Republic Steel Corporation rechnet mit einer allmäh- lichen Fortsetzung dieses Wiederanstiegs und schätzt die mutmaßliche Automobilproduktion für dar kommende Jahr auf 4'-4 Millionen gegenüber 3¥j Millionen 1930 und 514 Millionen 1929.

Roggenpolitik.

Eosinroggen um S Mark verteuert. Kartoffelstärkekartett in Funktion. Wie WTB.-Handelsdienst meldet, ist der Verkaufspreis für Eosffnroggen, dessen Bezug eine Zollverbilligung bei der Ein- fuhr von Futtergerste zur Folge hat, mit sofortiger Wirkung um 5 M. auf 175 M. je Tonne erhöht worden. Das ist möglich, nachdem kürzlich der Einfuhrzoll für Futtergerste von 12 auf 18 M. je Doppel- zentner erhöht worden ist. Nach den Absichten S ch i e l e s ist aber zu befürchten, daß diese Verteuerung erst einen Anfang darstellt, und daß Herr Schiele auf die scharfen Proteste aus deif bäuerlichen Kreisen noch Rücksicht'nehmen mußte. Für die bäuerliche Schweinemast bedeutet die Verteuerung ein« neu« Venach- teiligung. Die Sozialdemokratie wehrt sich gegen die Verteuerung der Futtermittel ganz allgemein und hat natürlich nicht das geringste Interesse daran, daß der als Höchstpreis gedachte Mischpreis von 170 M. in der jetzigen Zeit erreicht wird. Im Handelsregister des Amtsgerichts Berlin-Mitte ist als neue Gesellschaft die Stärke- I n d u st r sie- V e r k a u f s g e s e l l s ch a f t G. m. b. H. eingetragen worden, die das neue Kartell der Stärkeindustrie darstellt. Nachdem der Stärkeindustrie beim Abschluß des Maizena-Abkommens indirekt- eine Subvention von I Million Mark zugewiesen worden ist und auch neuerdings noch durch den Beimischungszwang von Kartoffelmehl zum Weizengebäck gestützt worden ist, hat diese neueste Schöpfung Schieles zunächst einige Aussicht zur Entwicklung. Eine Verringerung des Roggenanbaus in Deutschland um rund 10,2 Proz. gegenüber dem Vorjahre ist in einer Vorschähung des Preußischen Statistischen Landesamtes festgestellt worden. Der An- bau von Winterweizen ist um 6,6 Proz. und von Wintergerste um 1.8 Proz. gegenüber dem Vorjahre gestiegen. Diese bedeutsame Wandlung muß auch in der offiziellen Roggenpolitik nachdrückliche Beachtung finden. Oer neue Papier - und Zetlstofftruft. Die Generalversammlung der Feldmühle Papier- und Zell st offwerke A.-G. in Stettin hat jetzt den Vertrag mit der Königsberger Zellstoff-Fabriken und Chemische Werke A.-G. Koholyt genehmigt. Der Feldmühle-Konzern, der erst vor 114 Jahren durch die Aufsaugung der Reisholzpapier-A.-G. einen großen Machtzuwachs erhielt, wird dadurch das weitaus stärkste Unternehmen der deutschen Papierwirtschaft. Zur Durchführung der Aktion mit Koholyt wird das Kapital der Feldmüchle A.-G. von 26,2 auf 35,6 Mill. Mark herauf- gesetzt. Wie die Verwaltung noch mitteilte, hat das Unternehmen die schweren Krisenzeiten bisher sehr gut überstanden und die Be- triebe waren da- ganze Jahr über voll beschäftigt. Durch die Angliederung der Koholyt-Betriebe wird besonders die Zellstoff- Produktion und die chemische Verarbeitung bei der Feldmühle aus- gebaut. Die Preiseinbrllche auf dem Papier - und Zellstoffmarkt konnten durch Rationalisierungsmaßnahmen ausgeglichen werden. Wenn auch über die Dividende keine bestimmten Angaben gemacht