Morgenausgabe
Nr. 585 A 294
47.Iahrgang
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W'" w G. � NerUner Soltsblatt
Sonniag 1.4. Dezember 1930 Groß-Äerlin 15 pf. Auswärts 20 pf.
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Linksruck in Frankreich . Durch Tardieu selbst herbeigesühri.- Wohlwollende Neutralität der Sozialisten.
Paris , 13. Dezember.(Eigenbericht.) Die neue französische Regierung, die der ehemalige Generalresident von Marokko , Steeg, in der Nacht zum Sonnabend nach langem Bemühen zustande gebracht hat, ist zwar kein Kartellkabinett, wie es die Rechtspresse am Sonnabend- nachmittag behauptet, wohl aber em Ministerium mit ausgesprochen demokratischen Tendenzen. Sein politischer Schwerpunkt liegt bei den bürgerlichen Links- Parteien, den rechten Flügel bildet die„radikale Linke ' Loucheurs sowie einige Dissidenten aus deni Lager des rechten Zentrums, die, angewidert von Tardieus Ueberheblichkeit und Anmaßung, ihrem bisherigen Führer den Rücken gekehrt haben. Im Senat ist das neue Kabinett dank der Mitwirkung von Cheron und Barthou einer mehr als ausreichenden Mehrheit sicher. In der Kammer dagegen versügen die Parteien, die offiziell in der Koalition Steegs zusammengeschlossen sind, über nicht viel mehr als 2<)<Z Stimmen. Das Ministerium Steeg ist danach, um existieren zu können. aus die parlamentarische llnterstühung der 107 Sozialisten an- gewiesen. Irgendwelche Verabredungen erfftieren darüber nicht. Immerhin ist man in der sozialistischen Fraktion bereit, dem neuen Kabinett � wohlwollende Neutralität entgegenzubringen, die sich von Fall zu Fall unH unter Voraussetzung einer wirklich demokratischen Politik zu aktiver Unterstützung verdichten kann. Tardieu selbst, der bis'zuletzt nichts unversucht gelassen Hot. um auch das Experiment Steegs zum Scheitern zu bringen, hat mit seiner verbohrten Obstruktion nicht nur seine eigene Mehrheit zerschlagen, sondern auch erreicht, daß statt des Kabinetts der republikanischen Konzentration, zu dem auch die Radikalen grund- sätzlich bereit waren, ein bürgerliches Linksministerimn sein Nach- solger geworden ist. Es hat sich hier die gleiche politische Um- s ch i ch t u n g wiederholt, wie in der Kartellkammer von 1924.
Damals hatte in einer ausgesprochen links orientierten Kammer, unter Führung von Poincare , die auf die Rechte und Mitte gestützte Regierung der nationalen Einheit die Zügel an sich reißen können. Jetzt ist in der Kommer von 1928, in der die Reaktion der absoluten Herrschast sicher zu sein glaubt, die Führung der französischen Politik an die Linke übergegangen. Noch in der Nacht zum Sonnabend hatte Tardieu, während im Quai d'Orsoy Steeg sein„Ministerium der Entspannung und der Einigung' bereits fertig zu haben glaubte, in diktatorischer Uebcr- heblichkeit seine Mitarbeiter zu einer Art Nebenregierung versammelt und durch sein Veto die Mog-inot, Flandin und Pietri zur Ablehnung der im Prinzip bereits angenommenen Porteseuilles gezwungen. Die Vermessenheit dieser Anmaßung, mit der sich Tardieu dem Willen des Parlaments entgegenstellen zu tonnen glaubte, ist ihm zum Verhängnis geworden. Sicher wird die neue Regierung mit der schärfsten Opposition des gestürzten Ministerpräsidenten zu kämpfen haben. Da aber das neue Kabinett der vollen Unter st ützung Poincaräs sicher ist, wird es sich dank seiner unbestreitbaren moralischen Autorität wenigstens für die nächste Zeit gegen alle prinzipielle Parteifeindschaft durchsetzen können. Alle Anzeichen deuten daraus hin, daß Tardieu auch im zweiten Gang seinen Verzweiflungskampf um die Erhaltung der Macht verlieren wird. Selbst der„Intransigeant', der sich stramm aus die Seite Tardieus geschlagen hatte, gibt zu, daß die neue Regierung für die ersten Wochen einer ausreichenden Mehrheit sicher sti. Wenn aber wirklich, wie der„Paris Midi'. ankündigt, P o i n.c a r e später selbst in das Kabinett eintreten sollte, wie er es am Freitag schon mit Steeg verabredet haben soll, dann dürste Tardieus Opposition sich ohnmächtig totlaufen. Das neue Kabinett tritt am kommenden Dienstag zu einem ersten Ministerrat zusammen, um die Regierungserklärung fertig- zustellen.' Wahrscheinlich wird es sich am Donnerstag der Kammer vorstellen.
Ziechtsausschuß aufgeflogen. Nationalsozialisten beschimpfen das Zentrum aufs neue.
Der Rechtsausschuß des Reichstages trat am Sonnabend unter Vorsitz des Abg. Frank II zusammen. Vor Ein- tritt in die Tagesordnung erhob Abg. B o k i u s vom Zentrum gegen die Fortsetzung der Geschäfte des Vor- sitzenden Abg. Frank II Einspruch. Dieser habe im Plenum gesagt, das„Zentrum mißbrauche den Glauben für seine schmutzigen, polittschen Geschäste". Dadurch seien die Z e n- trums Mitglieder beleidigt und er beantrage, daß der Ausschuß sich vertage und daß eine Entscheidung über den Wider- spruch des Zentrum- im Aeltestenrat darüber herbeigeführt werde, ob der Vorsitzende durch die Mehrheit des Ausschusses abgesetzt werden könne. Vorsitzender Frank II erklärte, daß er eine Vertagung des Ausschusses bedauern würde, da ihm am Herzen läge, dringende Punkt« der Tagesordnung zu erledigen. Abg. M a r u m(Soz.) wies darauf hin, daß, wenn«ne große Fraktion einen Wunsch auf Vertagung stelle, man diesem Wunsch statigeben müsse. 1924, als es sich um einen Widerspruch der Rechten gegen den Vorsitzenden des Rechtsausschufses Abg. K a tz gehandelt habe, seien auch die Deutschnationalen für ein« Aenderung im Borsitz des Aus- schusses eingetreten, und der damalig« Reichstagspräsidcnt, der deutschuationale Abgeordnete W a l l r a s f, habe dem Abg. Kotz na heglegt, selb st aus den Vorsitz im Rechtsaus- schuh zu verzichten. Das möge auch der Abgeordnete Frank II tun. Abg. Karpen st ein(Raff.) bestritt, daß eine Beleidigung der Zentrum-Mitglieder vorliege. Abg. R u p p(Rats.) konstatierte, daß die gesamte national- sozialistische Fraktion die beanstandete Aepßerung des Abg. Frank für richtig halle, das Zentrum mißbrauche in der Tal den Glaubea für seine schmutzigen politischen Geschäste. Dr. Rosenseld(Soz.) konstatierte, daß die Nazis im Gegensatz zu dem Abgeordneten Frank, der in der früheren Sitzung seine Be- leidigung dem Zentrum gegenüber abgeschwächt habe, die Beleidi- aungen noch unterstrichen. Da die Frage, ob der Ausschuß das Recht habe, einen Vorsitzenden abzusetzen, weitgehende Konsequenzen haben könne, sei es richtig, diese Frage zunächst im Aeltestenrat zu verhandeln. Wenn dem Abg. Frank die auf der Tagesordnung stehend« Angelegenhett wirtlich am Herzen läge, würde er selbst den
Weg zur ordnungsmäßigen Behandlung freimachen und auf den Vorsitz verzichten. Bei der A b st i m m u n g lvuft« ein nationolsozialstischer Antrag auf Uebergang zur Tagesordnung über den Zentrunisantrog mit 12 gegen 12 Stinimen a b g e l« h n/'und der Antrag des Zentrums auf Vertagung und Ueberweisung der Frage an den Aeltestenrat mit den 13 Stimmen des Zentrums, der Sozialdemokraten, der Staatspartei und der Deutsche » Volkspartei gegen 11 Summen angenommen.
Das Reichsbanner marschiert! Am Montag, dem 15. Dezember 1930, 20 Uhr, in folgenden Lokalen:„Neue Well",„Saalbau Friedrichihain",„Pharui-SÄle" und„Splchcrn-S&le" Pretestkundgebungen Das Reichsbanner rult die Frontkämpfer, Kriegsteilnehmer und Republikaner auf, gegen das von den Rechtsradikalen ertrotzte Verbot des Filmes: ,1m Westen nichts Neues* zu protestieren Als Redner sind gewonnen word-n: Major a.D. Hauff, MdL.; Franz Kfinsiler, MdR; Ernst Lemmer , MdR.; Karl Lilke, MdR.: Dr. Mierendorf, MdR.; Philipp Scheide- mann, MdR.; Dr. Kail Sdirelr.er; Gerhard Seeger, MdR.. Ministerpräsident a. D. Stelling, MdR. und Dr. Braubacfa Es gilt, Protest zu erheben gegen die Un terdrOckung der Wahrheit Ober den Krieg und gegen das Zurfldcwetchen der Urheber des Verbotes vor Horden unreifer Hakenkreuzanbeter. Parteisenossen I Nehmt teil an den Kundgebungen des Reichsbanners! Verstärkt die Wucht des Protestes! Der Bezirksvorstand
Eine Zierde der Nation. Zur Beurteilung eines Urteils. I« dem Prozeß Hilgenberg gegen den„Vorwärts", über den wir im Abendblatt ausführlich be» richteten, verkündete der Einzelrichtcr Amtsgerichts» rat Dr. P u e s am Sonnabendnachmittag unter großer Spannung das Urteil: Ter Angeklagte wurde wegen übler Nachrede zu einer Geldstrafe von 500 Mark verurteilt.
Wird Herr Hugcnberg über dieses Urteil glückuck) sein? Das ist kaum anzunehmen! Hat er doch durch einen seiner drei Anwälte, Herrn Donner, für den verantwort- lichen Redakteur des„Vorwärts", Dr. Curt Geyer ,„eine empfindliche Freiheitsstrafe" verlangen lassen. Dazu hat es nun, trotz des Aufgebots einer quantitativ so großen Uebermacht von Rechtsanwälten doch nicht gereicht. Es wäre auch wirklich grotesk gewesen, wenn für den Krach der Land- dank und der Ostbank just kein anderer zum Sitzen gekommen wäre als ein Redakteur des„Vorwärts"! Ob man für einen Kritiker, von dem man weiß, daß er in vielem recht hat, eine Gefängnisstrafe verlangt oder nicht, das ist eine Frage des Geschmacks. Es ist ebenso eine Frage des Geschmacks, ob* man sich von seinen Anwälten als„eine Zierde der Nation" preisen läßt. Eine andere Frage aber ist es, ob— die Rechtsanwälte des Herrn 5)ugenbcrg de- haupten es— ein Aufsichtsratsvorsitzender eine unantastbare Zierde der Nation auch dann bleibt, wenn seine Unternehmun- gen pleite gehen. Damit kommen wir zur Sache. Die Sache ist die, daß zwei Banken in Ostdeutschland , in denen Herr Hugenberg Aufsichtsratsvorsitzender war, pleite gemacht haben, und daß Herr Hugenberg den Zusammenbruch nicht verhindern konnte. Die Verantwortung aber, die jeder Aufsichtsratsvorsitzende einer Gesellschaft trägt, die nicht mehr weiter kann, lehnt Herr Hugenberg ab! Die Firmen des Hugenberg-Konzerns sind die gefchäst- liche Grundlage des politischen Einflusses, den der Leiter des Konzerns ausübt. Er nimmt es hin, daß er als der geniale Kopf des Konzerns gefeiert wird, er benutzt die Stärkung seines politischen Ansehens und die Ausbreitung seiner poli- tischen Wirkungsmöglichkeiten, die ihm die Konzernfirmen und seine geschäftlichen Positionen gaben— aber er will nicht ver- antwortlich sein, wenn geschäftliche Verluste eintreten oder gar Zusammenbrüche! Das Renommee könnte darunter leiden— denn das Renommee des P o l i t i k e r s Hugenberg ruht auf dem Nimbus, der den Herrn vom Film und Presse, den Konzerngründer und Konzernleiter umgibt. Das Renommee kommt aus dem Ge- schäftlichen: denn der Politiker Hugenberg hat bislang noch keinerlei schlagende Beweise für seine politische Sendung als Retter Deutschlands erbracht— es sei denn der geniale Sieg über seine eigene Partei, der aus einer der stärksten Parteien Deutschlands eine Splittergruppe gemacht hat. Das Konto Hugenberg darf daher mit geschäftlichen Mißerfolgen nicht belastet werden. Für sie müssen andere herhalten: die schlechte Wirtschaftslage, der preußische Staat, böswillige Ausstreu- ungen übelwollender Gegner. Herr Hugenberg ist eben nicht nur Kouzerngründer, er ist zugleich der Erfinder der genialen Gleichung: Hugenberg- Geschäft ist gleich Interesse des Vaterlandes. Woraus sich wieder ergibt, daß jeder, der die Hugenberg- Geschäfte nicht fördern will, ein Feind des Vaterlandes ist. Eine Konsequenz, die von der Presse des Herrn Hugenberg mit aller Schärfe gezogen wird. Denn die Presse des Mannes, der sich beleidigt fühlte, weil ihm seine geschäftliche Verantwortung energisch vorge- rechnet wurde, handhabt die Methode der Diffamierung des politischen Gegners mit der größten Skrüpellosigkeit. Herr Hugenberg ist ein Monopolist in bezug auf das Vaterländische — es darf keine vaterländische Gesinnung außerhalb seines Geisteskouzerns geben! Run erhebt er gar noch Anspruch daraus, daß seine Organe die Verkünder der alleinigen Wahr- heit und der Hort der Anständigkeit in der Politik seien! Seine Vertreter glaubten eine zweite Gleichung aufstellen zu können: Hugenberg-Propaganda gleich An- ständigkeit des politischen Kampfes. Wer lacht da nicht? * Es ist in diesem Prozeß ein Nimbus zerstört worden: der Nimbus des großen genialen Mannes, der der wahre Retter