Nr. 610 47. Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts Dios. 31. Dezember 19
Der Welt schönster U- Bahnhof
Nad jahrelangem Buddeln und Wühlen zoischen alten Fundamenten un dem Labyrinth der Stützen für die provisorische Straßerdecke, nadh Konstruktionsarbei schroierigster Art in beträchtlicher Tiefe, ist nun der eue Untergrundbahnhof
Alexanderplatz , der mit Recht als der schönste und modernste U- Bahnhof der Welt bezeichnet woorden ist, seit einiger Zeit in Betrieb. Während auf dem Platze selbst noch ein wüstes Darcheinander herrschte, wo der Fußgänger über Steine und Balken stolperte, sich an Bretterzäunen entlang schieben mußte und sein Blick meist nur auf Ruinen und halbfertige Bauten traf, ist dort unter der Erde ein Wunder der Technik vollendet worden. Eine ganze Stadt ist es, die man hier in die Tiefe hineingebaut hat. Steigt man eine der Zugangstreppen hinab, so gelangt man nicht direkt auf den Bahnsteig, sondern das erstaunte Auge sieht eine unterirdische Straße mit Schaufenstern und Läden, in schönen Farben gehalten und apart beleuchtet. Vielleicht wird auch noch einmal ein Restau
Schönheit der Technik:
Eisenträger als hochaufstrebende Säulen
rant hier entstehen. Nach allen Seiten gehen Gänge ab, bringen uns Treppen zu Nebenstraßen, die meist galerieartig angelegt, interessante Bilder und Durchblicke zu den eigentlichen Bahnsteighallen bieten. Imposant stellt sich besonders die große Mittelhalle der Ostlinie dar; ein prachtvoller Raum, imponierend durch seine Abmessungen. Schlanke Stahlstützen tragen die Decke und verstärken noch den Eindruck der Höhe, in vierfacher Reihe gliedern sie harmonisch den Raum. Treppengeländer, Bänke, Signalapparate und Fahrtrichtungsanzeiger, Kioske und Diensträume sind zweckentsprechend
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gestaltet und passen sich harmonisch dem Ganzen an. Mit Raum ist nicht gespart worden; man hat für die Zukunft vorgesorgt. Die Hauptaufgabe der neuen Linien ist, die Heere der Arbeiter auf schnellstem Wege zu ihren Werkstätten zu bringen und hier soll der Mittelpunkt des Verkehrs sein. Wenn für die Wirtschaft wieder bessere Zeiten kommen, dann erst wird sich die Bedeutung dieses Bahnhofs in ihrer ganzen Größe zeigen, und seine Straßen und Hallen, seine Stiegen und Rolltreppen, Ein- und Ausgänge werden ein Abbild der werktätigen Großstadt sein.
Selbstmord eines Gelehrten.
Infricatuau VOI cinc Vorortzug geworfen.-Schwermut als Grund.
Auf dem Wannseebahnhof in Friedenau stürzte sich gestern der 30jährige Doktor der Staatswissenschaften Mag Aribert von Reichenbach vor die Räder eines einfahrenden Vorortzuges. Der Lebensmüde wurde von der Lokomotive noch meterwelt mitgefchleift, ehe es dem Zugführer gelang, den Zug zum Halten zu bringen. Obgleich der Unglückliche sehr bald aus seiner entjehlichen Lage vom Jug- und Bahnpersonal befreit werden konnte, trat bereits auf dem Transport zum Augusta- Biftoria- Krankenhaus in Schöneberg der Tod ein.
Der junge Gelehrte wohnte bei einer älteren Verwandten, der Baroneß von Puttlig, in der Hortenfienstraße 29 in LichterfeldeWest. Wie es heißt, glaubte er seine Stellung zu verlieren und aus Furcht, seiner Verwandten dann zur Last zu fallen, beging von
W.Seemann
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O.Wöhrle
Unternehmer.
Unvermittelt dachte er an seine Geschwister, die Brüder, die Schwester. Auch Sandom fam ihm in den Sinn. Wo steckten die eigentlich? Wie ging es ihnen allen?
Er wußte, daß der Aeiteste irgendwo in Rußland gefallen mar. Die Witwe saß da mit zwei Kindern. Die mußter jezt auch so im Sechzehnten sein oder so ungefähr. Heiß stieg es ihm in die Augen. Mit voller Wucht strömte ein Behl des Erinnerns und des Helfenwollens auf ihn ein und du. brach den Panzer des Egoismus, der in den letzten Jahren sein Herz umfruftet gehalten hatte. Morgen wollte er die Witwe aufsuchen. Jawohl, morgen in aller Frühe aufstehen. Es war nur seine Menschenpflicht, wenn er half. Jawohl..
Unwillkürlich faßte er seinen alten Herrn unter und mußte sich Mühe geben, nicht lautlos zu weinen.
Komm, Bater, wir wollen fahren, wenn dir das Laufen Mühe macht!"
Dem Alten war Ludwigs Bewegung entgangen. ,, Nicht nötig das Fahren, Junge! Aber eine Pause tönnten wir einschieben!" Arm in Arm verschwanden Vater und Sohn im nächsten Bierlofal. Die Trauergesellschaft war verwundert, sie auf einmal nicht mehr zu sehen.
*
In seiner Wohnung herrschte trübe Stimmung. Maria lief mit weinenden Augen umher. Auch scha weinte. Nur Franz blieb gleichgültig und fehrte das Rauh bein heraus. Seine Mutter fragte ihn etwas. Er gab nur freche, pazige Antworten.
Ludmig hörte sich die Reden des Jungen zweimal an, dann schlug er ihm die Hand auf das Lästermoul:„ Dir werd ich helfen, Jungchen, deiner Mutter solche Antworten zit geben! Mert dir, es ist jetzt kein Krieg mehr! Die Flegeleien haben aufgehört!"
Bon da ab ließ er Franz volle vierzehn Tage links liegen. Das traf den Jungen mehr als ein vollgerütteltes Maß
Reichenbach offenbar die Verzweiflungstat. Wie von anderer Seite gesagt wird, hat der Lebensmüde die Tat aus Schwermut begangen.
Frauenmord?
Schauriger Fund in einer Torfgrube.
Bad Laufid, 30. Dezember.
Gestern mittag fanden zwei junge Männer aus Frauendorf bei Bad Lausick in den sogenannten Torfgruben in einer mit Boumstämmen und Holzpfählen überdeckten Grube die Leiche eines etma 20 Jahre alten Mädchens, die etwa 30 Zentimeter tief
Brügel. Diese Nichtbeachtung von seiten seines Vaters war er gar nicht gewöhnt. Wie ein Schatten schlich er umher. Ludwig beobachtete sein Verhalten und dachte, na, die Medizin hat mal gewirkt. Doch die Erziehung des Jungen war für den Augenblick nicht so wichtig. Die große Frage, die er täglich von den Augen seiner Frau ablas, hieß: Was wird aus meiner Mutter?
Bon sich aus hätte Maria fein Wort davon gejagt. Er merfte aber, wie in sich gefehrt und bedrückt sie war. Eines Abends sprach er mit ihr darüber.
,, Du mußt mir noch etwas Zeit lassen, Maria!" jagte er. Hier in den Stuben ist ja alles zu eng. Nicht mal mehr ein Bett läßt sich aufstellen. Ich werde mich aber sofort nach einer größeren Wohnung umtun. Dann kann deine Mutter zu uns ziehen."
Am Morgen nach dieser Unterredung ging er sehr früh fort.
Er suchte die Witwe seines gefallenen Bruders auf. Als die Frau nachher nach seinem Weggang in der Küche aufräumte, fand sie in der Küche unter dem Tassenteller ein Bäckchen Banknoten; für sie ein Vermögen.
*
Im Januar 1919 bezog Ludwig Eifermann eine Fünfzimmerwohnung in einem noch ziemlich neuen Hause in der Frankfurter Allee .
Von dem alten Hausrat nahm er so gut wie nichts mit, sondern richtete sich vollkommen neu ein. Nur der Schwiegermutter erlaubte er, ihre alten Möbel mitzubringen.
Die neu angeschaffte Einrichtung war schlicht und einfach. Zu einfach für Maria. Sie hätte gern Bilder an den Wänden gehabt, Kristall für das Büffet, bunte Decken und Kissen für den Diwan und hundert andere Kleinigkeiten, die eine Woh nung gemütlich und anheimelnd machen. Aber Ludwig, dem fie mehrfach mit ihren Bitten fam, winkte jedesmal energtsch ab: Sei mal froh, ein ordentliches Dach überm Kopf zu ab:., Sei mal froh, ein ordentliches Dach überm Kopf zu haben. In dieser schweren Zeit fann man sich keinen Lugus leisten!"
Wirklich, die Ausstattung der neuen Wohnung war feine geringste Sorge.
Viel mehr beschäftigte ihn der Gedanke, sich eine neue Existenz zu schaffen.
Noch immer brodelte es in Berlin wie in einem Herenteffel.
Die politische Erregung hatte noch nicht abgeflant. Hunger und Elend sorgten für immer neue Zusammenstöße."
Mittwoch, 1930
vergraben und bereits start in Bermesung übergegangen war. Offenbar liegt ein Verbrechen vor, da die Leiche Kopfverletzungen aufweist. Ueber den Täter fehlt zunächst jeder Anhaltspunft. Bermutlich hat die Leiche etwa vier bis fünf Monate am Tatort gelegen.
Mädchen unter dem Autobus.
Gelbstmord einer unglüdlich Verliebten.
Jim Norden Berlins, an der Ede Usedom - und BrunnenStraße, spielte sich gestern nachmittag eine Schredensszene ab. Ein junges Mädchen lief plötzlich auf den Fahrdamm und warf sich vor die Räder eines Autobus der Linie 29. Der Führer des Wagens tommte infolge der furzen Entfernung nicht mehr rechtzeitig bremsen und das schwere Gefährt ging über den Oberkörper der Unglücklichen hinweg. Die jugendliche Lebensmüde, eine 20jährige Marie Waschke aus der Puttbusser Straße 55, wurde mit furchtbaren Verlegungen ins Lazarus- Krankenhaus gebracht, wo sie furze Zeit nach ihrer Einlieferung star b. Unglückliche Liebe ist das Motiv zu dem Berzweiflungsschritt.
Berlins Schupo in der Neujahrsnacht.
Wie in jedem Jahr, wird aus diesmal die Polizei am Silvesterabend und in der Neujahrsnacht mit starken Kräften auf dem Plan fein, um Verbrechen am Leben und Eigentum möglichst zu verhüten und besonders gegen Roheitsdelifte einzuschreiten. Im übrigen aber wird sich unsere„ Schupo" größter Zurüdhaltung befleißigen, wenn es sich um Ausbrüche harmloser Fröhlichkeit handelt.
Wie zu Weihnachten, werden auch zu Neujahr wieder alle Kräfte und Reserven der Schußpolizei eingefeßt. Doppelpatrouillen follen die Straßen abstreifen, und wo es nötig sein sollte, werden auch Kommandos auf Kraftwagen zur Stelle sein. Auf den Straßen und Plägen, wo sich erfahrungsgemäß ein besonders starter Fußgänger- und Wagenverfehr zu entwickeln pflegt, werden Ver= tehrsbeamte Aufstellung nehmen. Die Polizeistunde ist für die Neujahrsnacht wie der Borwärts" bereits gemeldet hat - aufgehoben. Ganz besonders warnt die Polizei wieder vor dem Abbrennen von Feuerwerkskörpern( Knallfrösche, Raketen usw.), die besonders in der Hand von Kindern schon manches Unheil anrichteten und bei der Explosion in dichten Menschenmassen und in der Nähe von leicht entzündbaren Gegenständen eine Katastrophe zur Folge haben fönnen.
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Die„ entführten" Gänse.
In einer Gänsemästerei in Neu- Friedland bei Neutrebbin haben in der vergangenen Nacht Einbrecher übel gehaust. Der Inhaber der Mästerei hatte 120 Gänse, die schon geschlachtet maren, zum Abtransport nach Berlin bereitgelegt. Die unbekannten Diebe, die ein Fuhrwerf bei sich gehabt haben müssen, nahmen ihm die
Arbeit ab und entführten sämtliche Gänse.
Sonntagsrückfahrkarten zu Neujahr.
Die von einem Hugenberg- Blatt verbreitete Nachricht, die Sonntagsrückfahrkarten seien vom 29. Dezember bis zum 2. Januar 1931 gültig, ist unrichtig. Die Sonntagsrüdfahrtarten gelten vielmehr zur Hinfahrt erst von heute, Mittwoch, den 31. Dezember, ab 12 Uhr. Die Rückfahrt muß bis zum 2. Januar vormittags 9 Uhr angetreten sein.
Das goldene Ehejubiläum begeht am 1. Januar 1931 Genosse Friedrich See, Berlin N. 65, Torfstraße 14, mit seiner Frau Anna Freude seit annähernd 25 Jahren zu den treuen Abonnenten des geb. Baumgarten. Wir übermitteln dem Jubelpaare, das zu unserer Borwärts" gehört, unsere besten Glückwünsche!
In der Frankfurter Allee , ganz dicht in der Nähe von Ludwigs neuer Wohnung, hatten aufständische Arbeiter Barrifaden gebaut und sie im Feuerfampf tagelang gegen die lebermacht der belagernden Regierungstruppen gehalten.
Der größte Teil der Bevölkerung sah dem ungleichen Rampf abgeftumpft und unintereffiert zu. Mochte gewinnen, wer wollte. Die Hauptsache war, man kriegte Brot und Arbeit.
Die Regierung hatte Millionen Plakate drucken und anschlagen lassen: Nur Arbeit kann uns retten!"
Ein schöner Spruch, ein wahrer Spruch! Nur hatte er den Fehler aller Marimen: er ließ sich nicht der Wirtschaft aufdrängen.
Wie soll man Arbeit finden, wenn keine da ist? Ludwig rannte herum wie ein Rasender. Ueberall, wo er bei seinen früheren Kunden vorsprach, wurde er abgewiesen. Die Leute zuckten bedauernd die Schultern. Jetzt nichts zu machen, später vielleicht, wenn mal der Bürgerkrieg vorbei war. Vorläufig haben ja noch die Arbeiter das Heft in der Hand. Da gehörte ja jeder totgeschlagen, der neues Geld in einen Betrieb steckte! Mal abwarten, wie die politische Konstellation wird. In einigen Monaten vielleicht ließe sich über neue Aufträge reden, vielleicht auch erst in einem Jahr.
Ludwig war anderer Meinung. Er betrachtete die politischen Wirren als unmaßgeblich für die fich anbahnende ge= schäftliche Entwicklung. Er überlegte folgendermaßen: Der Auftrieb muß fommen; denn an allen Eden und Enden fehlt es an Möbeln und sonstigen Dingen des Hausrats. Bier Jahre lang standen während des Krieges die meisten Tischlereien leer. Die paar Fabriken, die sich über den Krieg hinüberretten fonnten, produzierten längst nicht so viel, daß auch nur der dringendste Bedarf gedeckt wird. Beweis: die feitengroßen Inserate im Innungsblatt, in denen die Möbelgroßhändler nach leistungsfähigen Tischlereien fuchen. Jetzt oder nie war die Zeit gekommen, sich auf das Werdende einzustellen. Aber großzügig mußte die Sache angefaßt werden, fabrikmäßig, wenn sie etwas einbringen sollte. Die Holzinappheit hatte aufgehört, Schnittmaterial gab es wieder in Hülle und Fülle. Also los!
Sandow, den er aufsuchte, war der gleichen Meinung. ,, Der Markt schreit nach Ware!" sagte er.„ Paß auf, sobald die Unruhen einigermaßen abgeflaut sind, wird in Deutschland eine Betriebsamkeit losgehen, daß der Boden schüttert vor Maschinengestampfe!"
( Fortsetzung folgt.)]