föellage Sonnabend, 17. Januar 1931
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Gelte. In einer Seitengasse in der Nähe des Bahnhofs ein langgestrecktes Gebäude. Drei Toreingänge. Ueber dem Haupt- portal ein Glockenturm. Nichts weist auf ein Gefängnis hin. lieber dem Eingang in lateinischer Sprache: Zur Bestrafung der Uebelläter. zur Bewachung der Wütenden und Irrsinnigen aus öffentlich«» Mitteln errichtetes Haus. Darunter ein Maskenrelief, ein schmerzlich verzerrter Männerkopf, eine Kingel. Der uniformierte Gefängnisbeamte öffnet die Tür, dann die Pforte zum V o r h o f. Auch hier deutet nichts auf ein Gefängnis. Die großen vergitterten Fenster könnten auch einem anderen Zweck dienen. Ueber der Tür des Mittelportals ein Wappen mit fran- zösischer Inschrift: Verflucht, wer schlecht darüber denkt— Gott und mein Recht. Die Tür rechts führt zu Verwaltungsräumen. auch zu denfenigen des Direktors. An der linke» Wand ein Tisch, darauf ein von Gefangenen gebastelter großer Dampfer, einige Holzschnitte, einige Bilder, eines mit Blut gemalt— damals waren Farben noch nicht gestattet. An der Wand der Brögersche Spruch: „Die Arbeit, Mensch, nur kann dein Dasein krönen— Und mit der schwersten Schickung dich versöhnen. Auf Arbeit, Friede, Frecheit steh» die Tore Der neuen Zeit, die sich erfüllen soll. Taub bleiben alle Worte unserm Ohre, In denen dieser Sinn nicht mit erscholl." Im Keller ficht man noch heut« den P r ü g e l b o ck und die schweren Ketten und Fesseln, die in diesem'Zucht-
hause gebräuchlich gewesen. Auch ein Eisen, das an der Wand befestigt, mit einem Ring den Hals des Delinquenten und mit zwei weiteren eisernen Ringen, in gleicher Höhe wie der erste, seine Handgelenke umspannen konnte. Ein Symbol der Fesselung des Geistes und des Willens, wie sie noch ganz vor kurzem in den Zuchthäusern geübt wurde. Es ist noch nicht lange her, daß in diese Änswll neuer Geist eingezogen, die Gefangenen sich innerlich freier fühlen. Im nächsten Jahre«feiert" das Zuchthaus Celle sein zweihundertjähriges Bestehen. 200 Jahre der Entwicklung vom Verbrecher oh Geisteskranken unh Geisteskranken als Verbrecher. besten böser Dämon auf dem Prellbock ausgetrieben und besten Wille durch Eisen gezähmt werden sollte— bis zur neuen Verordnung über den Bollzug der Freiheitsstrafe in Stufen, der ein Appell an all das Gute bedeuten soll, das im Menschen, wenn auch oer- schüttet, doch stets in irgendeinem Grade vorhanden ist.«Und ist auch keiner vollkommen gut, so ist ganz ohne Gutes doch keiner", liest man an der Zimmerwand des neuen Direktors Kleist . Sdiwieriges Mcnschcnmatcrial Kein leicht knetbares Menschemnaterial— das im Zuchthaus von Celle . Bon den 450 Gefangenen— 215 rückfällige Diebe und Hehler, nur 29 hier wegen Betruges und Urkundenfälschung, 13 wegen vorsätzlicher Brandstiftung, 17 wegen Meineides. 26 wegen Blutschande, 24 wegen Vornahme unzüchtiger Handlungen, weitere 24 wegen Notzucht, 37 wegen Mordes, 27 wegen Totschlags, 43 wegen Raubes. 35 von den 456 Gefangenen Lebenslängliche, 42 haben mehr als 16 Jahre Zuchthaus zu verbüßen. Versucht man schätzungsweise die Gefangenen gemäß der neuen Verordnung über den Vollzug der Freiheitsstrafen in Slufen in Kategorien einzuordnen, so erhält man folgend« Zahlen: 26 Proz. der Gesamt- zahl sind unvorbestraft, sie gehören in das sogenannte Ein- gangshau» A; 176 erheblich Borbestrafte müßten ins Eingangshaus B. Für das Haus der Geförderten— die ztoeite Stufe— kämen nur 58 in Betracht; als«unverbesserlich" würden etwa 66 zu bezeichnen sein, natürlich nur bedingt— denn was heißt„unverbesserlich?" Sie müßten in das Haus für Schwererziehbare. Etwa 15 dürften als geistig abnorm gellen und schließlich nur 8 waren nach den neuesten Bestimmungen für das Ausgongshaus reif— mit allen seinen Bergünstigungen, wie Urlaub, sonntäglicher Spaziergang usw. Im Augenblick de- finden sich 115 in der zweiten Stufe und 27 in der drillen. Das Zuchthaus, wie es bis jetzt war, bot den Beamten nur geringe Möglichkeit, den Gefangenen näherzukommen, auf eines jeden Individualität einzugehen. Trotz der Berschiedenarligkeit der Handlungen, wegen derer sie ins Zuchthaus gekommen sind, wurden sie mehr oder weniger über einen Kamm geschoren. Fähigkett, die in diesem oder jenem schluminerten, verkümmerten, anstatt daß sie zur Entwicklung gebracht worden wären. Leidenschaften und Webe, die unvermeidlich nach Betällgung drängten, gerieten auf Irrwege, weil keine Abfluß- oder Auslösungsmöglichkeit vorhanden. Ein Gefangener besitzt Z. B. Z c i ch e n t a l e» t. Er ucr- schafft sich auf illegalem Wege Papier und irgendwelches Zeichen- Material und zeichnet und mall unentwegt phornographische Sachen,
„verschiebt" sie an seine Mitgefangenen und hat guten Absatz. Jetzt darf er Papier und Farben haben. Er denkt nunmehr gar nicht daran, phornographische Sachen zu machen; er mall hübsche Bilder, Landschaften und Blumen. .Alte Bekannte: Morder und Lebenslängliche Ein Raubmörder, zum Tode verurteilt und später zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt, besten Tat seinerzeit viel Aufsehen erregt hat, spürt einen unüberwindllchen Drang m sich, finster-visionäre Zeichnungen herzustellen. Da er keine Farben be» sitzt, malt er rot mit seinem eigenen Blut. Auch er hat jetzt Farben. Die Erzeugnisse seiner eigenartigen Phantasie darf er bei sich b«. halten, bis sie fertig sind. Dann muß er sie der Verwaltung ab» geben, die sie für ihn aufbewahrt. Hat er einmal die zweite Stufe erreicht, so erhält er sie zurück. Er ist ein gefährlicher Aus- brecher. Bis jetzt durfte er nicht mehr als eine Stunde draußen verbringen. Der Direktor hat ihm gestattet, sich noch eine Stunde mit Umgraben der Erde zu beschäftigen. Er klebt Tüten und kann frische Luft wohl brauchen; er macht den Eindruck eines Lungen. kranken. Stark geallert ist ein anderer alter Bekannter. Immer noch so klein und zierlich wie in der Gerichtsverhandlung, noch be- scheidener als früher, arbeitet er in der Druckerei und ist zufrieden. Er steht stark unter religiösem Einfluß und hadert im Augenblick nicht mit seinem Schicksal. Wer sich seiner vom Prozeß her erinnert, auf den macht er jetzt einen noch trau- rigeren Eindruck. Ein dritter läßt trotz der vielen Jahre Zuchthaus noch immer nicht in sein Inneres blicken. Er scheint verschlossen und ohne Reue. Beteuert nach wie vor seine Unschuld und betreibt ein Wiederaufnahmeverfahren. Damit sein nicht ganz kräftiger Organismus nicht zu schaden kommt, hat er die Erlaubnis, auf dem Gefängnishofe körperlich zu arbeiten. Er Hilst mll an der Schaf» fung des Sportplatzes. Es tut ihm auch gut, denn viel körperliche Arbeit hat er in seinem Leben nicht geleistet. Wenn man die Meineidigen sieht, frische Bauernburschen, die in Frauensachen falsches Zeugnis abgelegt haben, so bedauert man, daß sie ins Zuchthaus mußten. Einen traurigen Eindruck machen die Sittlichkeitsverbrecher, darunter auch ein 73jähriger Greis, ein anderer über 66 Jahre. Die Widerwärtig- leiten des Lebens liest man in den Gesichtern der vielfach Bor - bestraften, nicht selten trostlose Gestallen. Der alte Strafvollzug, das Zuchthaus, war nicht imstande, mit ihnen etwas anzufangen. Ein noch junger Bursche, etwa im Alter von 27. Jahren, der schon ganze 7 Jahre im Zuchthaus sitzt, leuchtet über das ganze Gesicht, als er gestagt wird, ob es In den letzten Monaten besser geworden wäre.„Ob", sagt er,„natürlich, man fühll sich viel freier; der Druck ist genommen." Und damit hat er das Richtige getroffen. «Der Druck ist genommen." Das besagt: die Gefangenen fühlen sich endlich als Menschen, sie sind nicht mehr der Willkür der Beamten ausgeliefert, sie haben einen Anspruch darauf, gerecht behandelt zu werden, sie wisten, daß die Verwaltung nicht dazu da ist, sie zu schikanieren, ihnen bloß Uebel zuzufügen. Die Ge- fangenen brauchen nicht mehr bei Besuch der Obrigkeiten mit dem Gesicht zur Wand stehen, es herrscht nicht mehr milstärischer Ton,
kein Strammstehen mehr mit den Händen an der Hosennaht, und kein Schweigegebot, kein« Güter zwischen Mann und Frau bei Besuchen, kein Zuschieben des Lesestoffs nach Wahl der Beamten, keine Sitzkasten mehr in der Kirche, kein Dunkelarrest, keine Feste- lung als Strafe usw., usw. Das Selbstbewußtsein des Gefangenen wird nicht mehr systematisch erniedrigt in des Wortes schlimmstem Sinne. Das bleue: Gemeinschaftsräuine, Sport, Musik Der moderne.Strafvollzug ist hier nun Wirklichkeit geworden. Die Reform hat an allen Ecken und Enden angesetzt. In den Anstaltsarbeitsbetrieben hat sich natürlich wenig geändert. Nur daß jetzt in der Schlosserei, der Schmiede, der Buchbinderei, But� druckerei, Tischlerei und in den Unternehmerbetrieben, wie Stuhl- fabrik, Mattenfabrik, während des Sommers durchgehende Arbeits» zeit«ingeführt ist. Im Sommer ist um 4 Uhr Arbeitsschluß, im Winter gibt es eine Mittagspause, dann erst beginnen die Vorführungen bei den Inspektoren, dann erst findet die Schule statt, die Ausgabe der Lücher aus der Bibliothek, erst dann wird geturnt und haben Haustapelle wie Gesangschor ihre Uebungen usw. Im Wohngebäude, im sogenannten Zellenhaus und in den Kojengängen Oft und West, in denen sich nur die Schlasräume befinden— ein Teil der Gefangenen arbeitet in den Zellen selbst—, herrscht reges Leben. Im großen Hof ist von den Gefangenen eine Sportanlage
hergestellt. Bis jetzt wurde weder geturnt noch Sport getrieben. Für die drille Stufe ist ein neuer Spazier» und Spielho! ohne Aufsicht geschaffen worden. Sportseste geben den Sportler" und Turnern die Möglichkell, im gegenselligen Wetteifer die Er- folge ihres Trainings zu zeigen. Feste und Verfassungsfeier, Ein- wechung des Sportplatzes und dergleichen mehr bieten Gelegenheit für gemeinsame musikalische Darbietungen. Aus den Reihen der Bevölkerung hat sich ein Hilfslehrer für die Bodesche G y m n a st i k und ein Studienrat als Sportlehrer zur Verfügung gestellt. Der Zuchthausfriedhof soll in einen Laza- r e t t g a r t e n umgewandelt werden. Ein Teil des Anstaltsgartens steht jetzt auch der dritten Stufe zur Verfügung. Neu entstanden sind die Turnvereine„Hoffnung" und„Heimat", die Hauskapelle, die fast ausschließlich aus Lebenslänglichen besteht, die„Sing, und Spielgemeinschaft Lüneburger Heide ", das Mundharmonikaorchester. Die Räume, zwei Stockwerke mit je fünf Zimmern, in denen früher die besonders schwer zu Behandelnden untergebracht waren, sind jetzt zu Gemeinschaftszimmern für den Aufenthall in der freien Zeit umgewandell, je fünf für die erste und zwelle Stufe. Hübsch angestrichen, mll ansprechenden Beleuchtungskörpern und gefälligem Moblliar versehen, das in der Anstaltstischierei herg»- stellt wurde, atmen sie eine gewisse Behagllchkell. Hier ist die zwelle Stufe jeden zwellen Abend und die drille Stufe allabendlich ohne Aufsicht, ohne Verschluß, mit Türen ohne Spion bei Unterricht in Arbeitsgemeinschaften, bei Lektüre, Radio, Musik. Schach-
spiel, Lichtb ildervorträgen usw. versammelt. Auch der Friseur hat hier seineu Platz gefunden. Einwirkungen auf die Psyche Die früher sogenannten schwer Erziehbaren, gewisser- maßen das Kreuz der Anstalt, sind jetzt in üblicher Weise unter- gebracht und machen, unter die übrigen Gefangenen verteilt, kaum Schwierigkellen. Sie werden nach Möglichkell individuell behandelt. Man bringt ihnen größeres Verständnis entgegen. Die Reibungs» flächen haben sich um vieles vermindert. Reizgeiegenheiten gibt es kaum noch, di« Psychopathen fügen sich der allgemeinen Anstalls» ordnung. Symptomatisch ist, daß, während es früher in das Mini- sterium Beschwerden hagelte, diese jetzt nur spärlich einlaufen. Natürlich gibt es auch heute noch Gefangene, die Schwierigkellen machen und Disziplinarstrafen heraufbeschwören. Im obersten Stockwerk ist ein unbenutzter Arbeitssaal in einen Bortragsraum oerwandelt worden, der durch Schiebetüren, die fast die ganze Breite des Raumes durchschneiden, vom neuen S ch u l r a u m getrennt ist. Beide Räume bieten verbunden einen hervorragenden T u r n s a a l für die Wintermonate, auch die Bibliochek, von einem Gefangenen verwaltet, erhält einen größeren Raum: di« jetzige Schule; das frühere Bibliothekzimmer wird der Hauskapelle als Uebungsraum zur Verfügung gestellt. Erst der Besuch in einzelnen Zellen, die Unterhaltung mll ein- zelnen Gefangenen, gibt eine richtige Vorstellung von der großen inneren Arbeit an den Gefangenen, die eben erst begonnen hat. Sie sind in Gruppen eingeteilt, deren jede einem bestimmten Inspektor als Pfleger unterstellt ist. Dieser hat sich um das Wohl und Wehe seines Schutzbefohlenen ganz besonders zu tum- mern, seine persönlichen Verhältnisse kennen zu lernen, ihn in jeder Beziehung zu betreuen und dafür zu sorgen, daß das Gefängnis nicht an seinen körperlichen und seelischen Kräften zehrt, sondern wenn irgend möglich Aufbauarbeit an ihm leistet. Auf diese Weise soll der unleidliche Mangel an Gefangenenfürsorgern wenigstens einigermaßen wellgemacht werden. Die unbedingte Notwendigkeit, Fürsorger anzustellen, wird dadurch nicht aufgehoben. Was in Sachsen und Thüringen möglich ist, sollte in Preußen nicht unmöglich sein. * 2)ie Umwandlung des früheren Zuchchaufes zur modernen Strafanstalt im besten Sinne des Wortes steht erst am Anfang. Dieser Anfang ist vielversprechend. Das Gelingen des Werkes hängt aber von der harmonischen Zusammenarbell sämtlicher Interessierten ab. Sowohl die oberen als die unteren Anstaltsbeamten müssen den Wunsch haben, diese Umgestaltung Wirklichkeit werden zu lasten. Und weshalb sollten sie nicht? Gewiß stellt der moderne Straf- oollzug höhere Anforderungen an den Beamten. Aber dieser hat die große Genugtuung, seine Arbeit fruchtbar zu sehen. Strafvollzugsreform, eine Notwendigkeit im Intereste der Volksgemeinschaft, kann nicht mll schönen Phrasen gemacht werden. Sie ist auch nicht mit Gefühlsduselei und Sentimentalität identisch: sie setzt voraus unbeugsamen Willen, gepaart mll Sachkenntnis und Menschenliebe. Daß aber diese Eigenschaften der Beamten sich an den Gefangenen auswirken können, ist das Verdienst des modernen Strafvollzugs und feiner Schöpfer.