Nr. 29 48. Jahrgang
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1. Beilage des Vorwärts
Hotel Pannkarton
Die Zeiten des Bürgerkriegs und der Hungersnöte ließen in Rußland den Typ des„ Besprisorny" entstehen. Entwurzelte, vagabundierende Kinder, die, in Banden auftretend, nur allzu schnell den Weg vom verbummelten Taugenichts zum hartgesottenen Verbrecher machten. Buchstabengetreu übersetzt ist ein ,, Besprisorny nur ein Unbeaufsichtigter. Wenn wir jedoch den Ausdruck„ Vermahrloster" wählen, treffen wir den Typ des ,, Besprisorny" besser. Die Wirtschaftskrise in Deutschland , die mit besonderer Schwere auf der Millionenstadt Berlin lastet, warf Tausende und aber Tausende blut junger Arbeitsburschen, Lauf jungen, Hotelpagen aus ihrer ohnehin schon schmalen Bahn. An der Grenze zwischen dem Konfektions- und dem Zeitungsviertel ist einer ihrer hauptsächlichsten Schlupfwinkel. Im nachstehenden Bericht ist jedes Wort bittere Wahrheit.
Grammophon, Rasiermesser und Schlüffelbund. Auf einer Bank am Dönhoffplatz findet sich zu nächtlicher Stunde hungernd und frierend der erste. ,, Hast du teine Bleibe, Jung?" ,, Mann, ich habe heute mein Schlafgeld nicht zusammengefriegt, ich sehe auch keinen von meinen Kumpels. Die würden mir schon die Mart pumpen." ,, Wie ist denn das in deiner Penne, gibt's da Strohjäcke oder Federbetten?"" Feine Federbeiten, mein warmes Bett nuß ich haben. Aber trotzdem ich schon ein dreiviertel Jahr im Hotel Pappfarton wohne, will der Vater dort jeden Tag Geld sehen."„ Warum heißt denn der Laden
Hotel Pappfarton?" ,, Weil die Leute alle nur Papptartons haben, die bei uns wohnen. Wenn sie überhaupt noch einen Pappkarton in ihrem Schrank zu stehen haben." Wie lange fann man denn zu euch fommen?" ,, Die ganze Nacht." Dann fönnen wir ja noch einen Becher trinken."
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Wir schlendern durch die verlassenen, winfligen Gassen des beginnenden Süd o stens. Mehr Süd als Ost. Als wir eine Kneipe vorschlagen, lehnt der Junge ab, da hätten er und neun feiner Komplicen unlängst den Budiker über den Ladentisch gezogen und fürchterlich verdrofchen. Welf er ihnen tein Bier ausschenfen wollte, als sie zehn Mann hoch von einer Sauftour aus Neukölln famen. Einen fonnte die Bolizei noch erwischen. Das Urteil lautete: vier Wochen Gefängnis oder 150 M. Geldstrafe und Ersatz der Arztrechnung in Höhe von 50 M. Die Clique, man kann nicht von einer ausgesprochenen Bande sprechen, beschloß, die 50 M. pro rata auf jeden der zehn umzulegen, den Geschnappten die vier Wochen Knast aber abfigen zu lassen. So ge= fchah es auch. Wir suchen uns deshalb eine andere Kneipe, werfen ein paar Groschen ins Orchestrion, rauchen, trinken und dann ist es soweit, der Junge schildert jene entscheidende Stunde, als er sein Elternhaus verließ. Wir wollen ihn selbst reden lajjen:
,, Mein Bater trinkt. Morgens muß er erst feine drei Kognafs haben, sonst zittern ihm die Hände. Kostgeld sieht meine Mutter nur wenig. Ich hatte meiner Mutter ein Grammophon geschenkt. Eines Abends tam mein Vater wieder sternhagelvoll nach Hause. Er weďte uns auf und verlangte das Grammophon, er wollte noch mal runter und unten Musik machen. Da er den Apparat entweder taputt gemacht oder doch nur verkloppt hätte, gaben wir ihm das Grammophon nicht. Darüber wurde er so wütend, daß er sein Rasiermesser holte und meiner Mutter die Kehle durchschneiden wollte. Ich sprang fofort aus dem Bett, umflammerte seine Beine, so daß er hinfiel. Auf die Schreie meiner Mutter hin holten unsere Nachbarn die Grünen. Die unternahmen aber nichts weiter, mein. Bater legte sich dann auch schlafen. Plötzlich stand er aber wieder auf und wollte fich auf mich stürzen. Da rückte ich aus. Als ich nach einigen Tagen zurüdtam, hatte mein Vater das Sicherheitsschloß ändern laffen, so daß ich nicht mehr in die Wohnung konnte. Hier ist noch das alte Schlüsselbund. Bald danach wurde ich auch auf meiner Stelle arbeitslos, und um für die Unterstützung eine feste Bleibe zu haben, meldete ich mich in unserer Benne an. Wir schlafen da fünf Mann in einem Zimmer, du kannst noch mit reinkommen in unfer Zimmer." Wieviel Stütze friegst du?" ,, Etwas über 10 M. Die Hälfte davon geht für Schlafgeld drauf, fatteffen fann man fich von dem Rest nicht."
Dieser Junge ist nun 17 Jahre alt und steht mit seiner Mutter in dauerndem Briefwechsel. Manchmal treffen fie fich heimlich bei seinem Better. Aber der Vater läßt ihn nicht mehr zurück. ,, Sage mal, sind in deiner Penne auch noch jüngere als du?" Na, laß dir erzählen. Da tam immer einer mit einem richtigen Handfegerfreuz. Wir überlegten schon, was das für einer ist, da zeigte er uns Papiere, nach denen er 19 Jahre alt war. Wir bekamen bloß noch heraus, daß die Flebben falsch waren, er hatte sie irgend wo gelauft und gab damit reichlich an. Eines Tages war er verschwinden, ich fragte unseren Alten( damit ist immer der Besitzer der Herberge gemeint), wo der Clown geblieben ist, da fagte der. den hat die Fürsorge abgeholt, der Bengel war erst 13 Jahre!"
Der Birt mit der Leibwache.. Benn du hier eintrittft, laß jede Hoffnung hinter dir!" steht über dem Eingang der Danteschen Hölle. Ueber diesem„ Hotel Papptarton" müßte noch ganz etwas anderes stehen. Wir gehen über den Hof und sehen einen Tanzja al vor uns. Mit großen, romanischen Bogenfenstern. Wir flinken die Tür auf, treten in den Vorraum, meiter gehts nicht: Ohne Anmeldung, und ohne Führung keinen Zutritt! Dounerwetter," jage ich, wenn ich man eine Anmeldung
Sonntag, 18. Januar 1931
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Also wir flinken die Tür auf und für einige Sekunden stellen die drei das Kauen ein. Kann man bei Ihnen schlafen?" frage ich. ,, Selbstverständlich!" antwortet einer von der Leibwache. Das toftet?"„ Eine Mark pro Nacht." Die Jungens bezahlen auch es muß jetzt übrigens 2 Uhr nachts sein und sagen zu dem Wirt: Wir nehmen den Neuen gleich mit auf unser Zimmer." Das war alles. Es würde auch nicht anders fein, wenn ein Raubmörder käme. Keine Kontrolle, feine Eintragung, nichts.
Jetzt die große, breite Treppe hinauf. Immer noch liegt der rote Kokosläufer wie einst, als lustige Tanzpaare über diese Treppe gingen. Was aus einem Tanzsaal, alles werden kann. Im ersten Etod liegt der Saal. Wir lassen die Tür auf, damit von der Treppe Licht herein kann. In dem Halbdunkel erkennen wir eine Flucht eiserne Garderobenschränke, die aus der linken Seite des Saales einen Gang machen. Rechts hinter den Schränken stehen die Betten, immer sechs Betten durch eine zwei Meter hohe, aber nur dünne Holzwand voneinander getrennt. Bevor wir unser Zimmer aufsuchen, flettern wir noch schnell in den zweiten Stock, hier sind wieder Einzelzimmer. In jedem schlafen zehn Mann. Der Saal I unten ist nur halb besetzt, erst mal ist es noch sehr früh und zweitens scheint die Höhe des Schlafgeldes einem flotteren Geschäftsgang im Wege zu stehen.
hätte."„ Laß man," antworten die Jungen ,,, wir werden die Sache schon machen. Los, geh vor!" Wir kommen in die Anmeldung. Der dicke Wirt fizt auf einem Sofa vor einem mit Speisen und Getränken überladenen Tisch. Statt eines Kragens trägt er um den als einen grauen Knipper", wie ihn die Kutscher haben, nur stehen ihm die Enden der Schleifen wie Eselsohren unter dem roten Kinn hervor. In der rechten Hand hält er ein Stück Wurst, in der linken ein Messer. Bei diesem allnächtlichen Bacchantenmahl helfen ihm noch zwei Mann. Für sie, als die Leibwache des Wirts stehen zwei Pritschen in dem Zimmer. Denn der Wirt hat Angst, ein be-|
Blick in eine der Schlafkojen.
Federn oder Kapok?
fchlafen." Ich greife mir das Kopfkissen, es ist so winzig, daß man ,, Na, nun faß mal an, feine Betten, hier fann man dach es in einer Faust zusammenpressen könnte, aber Federn, nein, das find doch keine Federn, diese harten Klumpen, natürlich, Kapok ist bas, gewöhnlichste Pflanzenfaser. Diese Gäste halten das für Federn. find doch feine Federn, diese harten Klumpen, natürlich, Kapok ist das, gewöhnlichste Pflanzenfaser. Diese Gäste halten das für Federn. mehr Britsche als Bett, drei kleinen eisernen Nachttischen und einem Gonit besteht die Einrichtung des Zimmers aus den sechs Betten,
Stuhl. Wir ziehen uns schnell aus, trauchen in die Fallen und tnipsen das Licht aus. Wieviel in dem Bett schon vor mir gelegen haben, weiß ich nicht. Hoffentlich keiner mit Kräße. Da die Tür 3u dem Saal mur locker schließt, ist jedes Geräusch zu hören. Man hat den Eindruck, in einem Sägegatter zu nächtigen.
Nach einer halben Stunde fommen zwei Betrunkene. Es dauert eine kleine Ewigkeit, bis sie sich endlich beruhigen und in ihre Nester gehen. Um 24 Uhr fommt der dritte unseres Zimmers. Vielleicht siebzehn Jahre alt. Zieht sich sofort aus und huscht unter die Kapofdecke. Die Jungens haben einen unruhigen Schlaf. Der Kleine rechs in der Ede stöhnt, der andere dort, von dem nur ein flachsblonder Haarbüschel zu sehen ist, spricht im Schlaf zusammenhanglofe Worte. In dem Saal nebenan muß es langsam voller werden, oft flappt die Tür unten. Man hört auch Tritte. Zwei haben sich wohl in die Haare gefriegt und reden nun ununterbrochen aufeinander ein. Um halb fünf schlafen auch diese beiden ein. Ich frage nämlich jeden, der kommt, wie spät es ist. Also um halb fünf fommt noch einer in unser Zimmer. Um fünf der letzte. Er läßt das Licht noch eine Weile brennen und lieft in einem Wigblatt. Als er damit fertig ist, sieht er sich seinen nadten Körper an. Nach einigen Minuten knipst er das Licht aus. Plauk, schmeißt er den Stuhl um. Alle fünf Jungens drehen sich in ihren Betten um, der neben mir hat seine Decke auf die Erde gestrampelt. Morgen wird er einen Husten haben. Halbstündlich kontrolliere ich), ob meine Brocken noch vollzählig sind, ja, es ist noch alles da.. Keiner hat also Berdacht geschöpft, daß die Sache mit dem ,, Neuen" nicht echt wäre. Sonst wäre man hier oben geliefert. Man tariert das letztemal in dieser Nacht die Zeit, neunundneunzigmal hat man es schon getan, es muß jetzt viertel sieben sein. Raus aus der Kapotfalle, die Sachen an, man hat soviel Zeit, sich die Jungens anzusehen: da liegt das nun mit seinen sechzehn, siebzehn, actzehn Jahren und hat schon alle Beziehungen zur Familie, zur Gesellschaft abgeschnitten. Wenn fie morgen kein Effen haben, werden sie stehlen gehen. Man knipst das Licht aus und die schweigende Nacht liegt wieder über den fünf Jungens. Der Weg zurück ist schwieriger, weil er allein gemacht werden muß. Mit zwei Streichhölzern geht's durch den Saal, mit einem die Treppe hinunter, Gott sei Dant, die Tür ist auf, die drei qus dem Meldezimmer schnarchen, über den Hof, das Haustor ist auch auf, jetzt die letzte Tür und man atmet die taufrische Morgenluft. Nektar und Ambrofia fönnen nicht würziger schmecken. Gleichsam neugeboren geht man in den Morgen hinein. Und wohl dem, der
foffener Gast fönnte doch einmal Amok laufen. Erst vor vierzehn Tagen fing einer an: er hatte dem Freier" 120 M. gestohlen, sich betrunten und tommt in die Herberge. Irgend etwas steigt ießt in ihm auf, er reißt sein Messer heraus, springt auf den Tisch und schreit: Jada verrede! Deutschland ermache!" Springt wieder runter vom Tisch und will sich auf den Wirt stürzen. Mit Mühe und Not wurde der Junge gebändigt, hier gleich um die Ecke haben wir ihn dann in einen Hausflur gepact", erzählte man uns.| nicht in Kapot schlafen braucht!
Jubiläum der Reichshauptstadt
Ein 60. Geburtstag mit Nachgedanken
Wenn auch staatsrechtlich Berlin erst am 16. April 1871 durch die Berkündung der Berfaffung des Deutschen Reiches Reichshauptstadt wurde, bemüht sich doch ein Teil der Preffe, in Erinnerung an den 18. Januar 1871, an dem in Bersailles das deutsche Kaiserreich ausgerufen wurde, den 18. Januar 1931 als 60. Geburtstag der Reichshauptstadt Berlin zu feiern.
Berlin mar Hauptstadt schon jahrhundertelang gewesen. 1486 hatte Kurfürst Johann Cicero aus dem Hause Hohenzollern Berlin endgültig zur landesherrlichen Residenz gemacht. Die Rechte der Stadt waren schon vorher durch Friedrich II. beseitigt worden. Seitdem waren bis zum Jahre 1918 die Begriffe Berlin und Hohenzollern aufs engste in Gedeih und Verderb miteinander verbunden. Man erinnert sich bei dieser Feststellung daran, daß nach dem Dreißigjährigen Kriege Berlin mur noch 7500 Einwohner zählte, weil die durch kurfürstliche Schuld schlecht gefestigte Stadt wiederholt gebrandschazzt wurde. Weiter weiß man, daß unter dem zweiten Friedrich Berlin zweimal von feindlichen Truppen heimgesucht wurde. und unvergessen ist, daß nach dem Zusammenbruch von Jena Napoleon seinen Einzug in Berlin hielt. 1848 erließ Friedrich Wilhelm IV. nach dem revolutionären Ausbruch vom 18. März seinen berühmten Aufruf Au meine lieben Berliner ". 1867 murde Berlin die Hauptstadt des Norddeutschen Bundes .
Wenn man von einem Geburtstag sprechen mill, so darf man ermähnen, daß die Geburt zur Reichshauptstadt im Jahre
1871 schwer war. König Wilhelm I. von Preußen hatte nicht nur gegenüber den monarchischen Beschränktheiten seiner süddeutschen Kollegen von Bayern und Württemberg durch seinen Bundeskanzler Bismard Türen und Tore aufzuschlagen, nein, er mußte noch viel mehr sich selbst 3wang antun. Der König von Preußen weigerte fich mit Berbissenheit, als Charaktermajor" deutscher Kaiser: zu
werden. Wäre es nach seinem Willen gegangen, Berlin märe damals nicht Reichshauptstadt geworden, sondern preußische Hauptfladt geblieben. Freilich, als Bismard dann aus dem französischen Kriege 5 Goldmilliarden nach Deutschland brachte, da begann Berlin in einer gewissen Bevölkerungsschicht sich als Hauptstadt eines großen mächtigen Reiches zu fühlen. Der Wahnwiß der Gründerperiode begann. Das Aktiengesez vom 18. Juni 1870 hatte schon die Aktiengesellschaften von jeder Genehmigung und Aufsicht des Staates gelöst. Ein Strudel war es dann, in den namentlich Berlin hineingerissen wurde. Es dehnte sich aus, es veränderte sein Gesicht, aber die Wohnungsnot für die Richtbesigenden und Nichtbegüterten stieg ständig. Draußen, vor dem Frankfurter , Potsdamer und Landsberger Tor lebte die unbemittelte Bevölkerung in selbst gebauten Lauben und Baraden. Die Grundstücksspekulanten indessen verdienten, während die Teilnehmer am jogenannten Blumenstraßentrawall vom Juli 1872, als die Bertriebenen, dic Menschen ohne Heim protestierten, zu insgesamt 100 Jahren Zuchthaus und 50 Jahren Gefängnis nerurteilt wurden. Ein schlesischer Mogunt verdiente durch Berliner Häuferspekulationen in wenigen